Selma wird am 23. Juni 1899 in Kobern als Tochter des Kaufmanns Samuel Grünewald und seiner Ehefrau Susanne, geb. Mayer geboren. Ihr 1859 in Waldgirmes geborener Vater ist lange Jahre Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Kobern. Er stirbt am 19. November 1933 in Kobern. Seine Witwe lebt mit der Tochter Selma weiterhin in Kobern, Mühlengraben 10. Im Haus wohnt auch der ältere Sohn und Bruder Julius mit seiner Frau und Tochter. Er ist Viehhändler.
Sommer 1935 Selma wird von einer Nachbarin denunziert, weil sie sich kritisch über Verbrechen der Nazis äußert. Das gegen sie eingeleitete Verfahren vor dem Sondergericht Köln wird eingestellt.
15. September 1935 Auf dem sog. Reichsparteitag der Freiheit in Nürnberg werden die Nürnberger (Rassen-) Gesetze erlassen. Sie verbieten u.a. den außerehelichen Verkehr zwischen Juden und „Ariern“.
1936 Bruder Julius gerät in das Fadenkreuz der Nazis und Justiz, als er seine Außenstände bei einer verwitweten Bauersfrau einzutreiben versucht. Er erhält sechs Monate Gefängnis.
1937 Nach Verbüßung der Haftstrafe wandert er mit Frau und Kind nach Südafrika aus. Im folgenden Jahr werden sie ausgebürgert, ihr Vermögen verfällt dem Deutschen Reich. Selma und ihre Mutter bleiben in Kobern wohnen und leben von der öffentlichen Fürsorgeunterstützung.
Anfang 1938 Selma und ihre Mutter beabsichtigen auszuwandern. Ihre Reisepässe werden eingezogen.
August 1938 Die Ortspolizei von Winningen zeigt Selma an, weil sie angeblich eine Fremdenpension für Juden betreibt. Das stellt sich als falsch heraus. Das Haus wird aber weiter überwacht.
15. November 1938 Beide Frauen werden, registriert. Ziel ist es, „arbeitsschwache“ und kranke Juden in Altersheimen und Krankenanstalten unterzubringen und „Arbeitsfähige“ zum Arbeitseinsatz zu zwingen.
1. Januar 1939 Selma und ihrer Mutter wird die öffentliche Fürsorgeunterstützung entzogen.
Herbst 1939 Selma Grünewald wird weiter von der Ortspolizei Kobern überwacht. Diese hat den „dringenden Verdacht“, dass sie sich mit „deutschblütigen Männern herumtreibt“.
16. Oktober 1939 Sie zieht nach Düsseldorf um. Dort lebt inzwischen ihre Mutter in einem Gemeindehaus der jüdischen Kultusgemeinde. Selma wird in ein „Judenhaus“ eingewiesen, in dem Juden auf engem Raum leben müssen. Sie muss „Pflichtarbeit für Juden“ leisten.
4. Juni 1940 Aus nicht bekannten Gründen kommt Selma Grünewald in das Gefängnis von Düsseldorf.
Sommer/Herbst 1940 Aus der Haft wird sie in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt.
2. November 1940 Auf Ersuchen des Reichssicherheitshauptamtes bringt man sie nach Leipzig ins Gefängnis. Das geschieht offenbar im Zusammenhang mit einem Prozess.
30. November 1940 Selma wird aus Leipzig in das Frauen-KZ Ravensbrück zurücktransportiert.
Anfang 1942 Im KZ beginnt die „Sonderbehandlung 14f13“. Zahlreiche „arische“ und die allermeisten jüdischen Frauen werden von Ravensbrück in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale verschleppt und dort mit Giftgas ermordet.
15. März 1942 Das KZ Ravensbrück benachrichtigt Selmas Mutter, dass ihre Tochter gestorben ist. Sehr wahrscheinlich wurde auch Selma Grünewald an einem nicht bekannten Tag in die Tötungsanstalt Bernburg gebracht und dort getötet.
15. Mai 1942 Das Standesamt beurkundet Selma Grünewalds angeblichen Tod im Frauen-KZ Ravensbrück.
21. Juli 1942 Selmas Mutter wird in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und kommt dort um.
Nachtrag:
Die Personentafel für Selma Grünewald wurde vor 20 Jahren für die Ausstellung zum 27. Januar 2003 erarbeitet. Seitdem sind neue Dokumente bekannt geworden. Insbesondere ist die Akte der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf aufgefunden und im Internet auf der Website von Arolsen Archives allgemein zugänglich. Daraus wird das Lebens- und Verfolgungsschicksal von Selma Grünewald noch deutlicher und schrecklicher. Aufgrund dieser Dokumente ist ihre Biografie noch wie folgt zu ergänzen:
Selma Grünewald war eine sehr selbstbewusste und eigenständige Frau. Sie absolvierte eine Krankenpflegeausbildung und arbeitete bei einem Arzt in Köln. Wohl 1923 oder 1924 war sie an einem damals strafbaren Schwangerschaftsabbruch beteiligt und wurde deswegen 1924 vom Landgericht Bonn wegen Beihilfe zur Abtreibung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. In der Folgezeit setzte sie sich für die Frauenrechte und die Selbstbestimmung der Frauen ein. Sie engagierte sich für die Legalisierung der Abtreibung und warnte vor illegalen Schwangerschaftsabbrüchen. Dazu hielt sie gegen Ende der 1920er Jahre unter ihrem Pseudonym Dr. Nora Norelli Vorträge zu aufklärerischen Filmen wie „Frauenglück – Frauenleid“ und „Das Geheimnis einer kranken Seele“.
Nach der Machtübernahme der Nazis stand sie in ihrem Heimatort Kobern bald unter Beobachtung der Gestapo. Wiederholt denunzierte man sie und versuchte, sie zu kriminalisieren. Ende der 1930er Jahre geriet sie in das Fadenkreuz der Gestapo, weil diese sie verdächtigte, mit einem „Deutschblütigen“ geschlechtlich verkehrt, als Jüdin nach damaligem Strafrecht „Rassenschande“ begangen zu haben. Aus Gesundheitsgründen unterblieb zunächst ihre Inhaftnahme, ihre schließliche Festnahme erfolgte dann im Mai 1940, als sie sich in einem für Juden verbotenen Lokal mit einem Mann traf.
Selma Grünewald kam ins Gefängnis in Düsseldorf und dort in „Schutzhaft“ wegen der „Rassenschande sowie ihres Lebenswandels im Übrigen, beweise sie damit doch, „dass sie sich skrupellos in echt jüdischer Manier über bestehende Verordnungen und Gesetze hinwegsetz(e).“
Am 6. Juli 1940 wurde sie in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Von dort überführte man sie noch zu einer Vernehmung ins Polizeigefängnis Leipzig, um sie als Zeugin in einem Vaterschaftsprozess zu vernehmen. Ende November 1940 ins KZ zurückgekehrt, starb sie im März 1942 – höchstwahrscheinlich nach ihrer Verschleppung in die Tötungsanstalt Bernburg/Saale durch Giftgas im Rahmen der Tötungsaktion „14f13“. Zur Verschleierung des Mordes gab das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück als Todestag dort den 15. März 1942 um 17.20 Uhr und als Todesursache „akute gelbe Leberatrophie“ an.
Dieser Nachtrag wurde möglich aufgrund der von Arolsen Archives veröffentlichten Gestapoakte von Selma Grünewald. Diese ist HIER einzusehen.
Auf der Website von Arolsen Archives gibt es auch eine Biografie von Selma Grünewald „Selmas Kampf um sichere Abtreibungen“ und darin einen weiteren Link zu einem Interview mit der Moderatorin und Influencerin Viktoria Müller. Hier auch dieser Link:
https://arolsen-archives.org/news/selma-gruenewald-alias-nora-norelli/