Lina und Marie-Luise Lindemann
Auf sie fiel das Beil der “Sippenhaft”
Frau Lindemann war mit dem Artilleriegeneral Fritz Lindemann verheiratet. Er war im Laufe der NS-Herrschaft ihr Gegner geworden und am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Als die Gestapo davon erfuhr, fahndete sie nach ihm, verhaftete ihn und verletzte ihn dabei so schwer, dass er am 22. September 1944 in Berlin starb. Während dieser Zeit befand sich Frau Lindemann im Schloss Namedy bei Andernach. Dort führte sie ihrer Schwester Ilse-Margot von Hohenzollern-Sigmaringen, die mit dem Prinzen Albrecht v. Hohenzollern verheiratet war und die einen Unfall erlitten hatte, vorübergehend den Haushalt. Am 28. Juli 1944 verschleppte die Gestapo Frau Lindemannn nach Koblenz ins Karmelitergefängnis. Es folgten Verhöre, die erst nach dem Tod ihres Mannes - von dem sie aber nichts erfuhr - aufhörten. Auch während der Luftangriffe war sie im Koblenzer Gefängnis. In dem anschließenden Chaos hätte sie fliehen können, sie blieb dort aber aus Rücksicht auf ihre Tochter und die übrige Familie. Dann verschleppte man sie über die Gefängnisse in Vallendar und Altenkirchen in das Frauen-KZ Ravensbrück und schließlich in das KZ Stutthof bei Danzig. Dort traf sie mit aus anderen Teilen Deutschlands herangeschafften „Sippenhäftlingen“ der Familien Stauffenberg, Goerdeler u.a. zusammen. Nach dem Willen der „Sonderkommission 20. Juli“ sollte ihnen ein Verfahren wegen Mitwisserschaft und Beihilfe an dem Attentat gegen Hitler vor dem Volksgerichtshof gemacht werden. Doch es kam anders. Da die russische Armee näher rückte und sie nicht in ihre Hände fallen sollten, verschleppte man sie weiter in mehrere Konzentrationslager im Westen und Süden, bis sie Ende April 1945 im KZ Dachau ankamen. Von dort transportierte man sie noch nach Tirol, wo sie Anfang Mai 1945 von den Amerikanern in ihre Obhut genommen wurden.
Unterdessen war die zehnjährige Tochter Marie-Luise - wie Frau Lindemann erst nach der Rückkehr ins Nachkriegs-Deutschland erfuhr - ebenfalls zum „Sippenhäftling“ der Nazis geworden. Die Gestapo hatte das Kind am 25. August 1944 aus Namedy abgeholt. Wie andere Kinder von „Verschwörern des 20. Juli“ auch verschleppte man sie in ein Kinderheim in Bad Sachsa/Harz. Als der Plan, die Kinder zur Umerziehung in Nazifamilien unterzubringen, scheiterte, entließ man die Mehrzahl von ihnen, 14 Kinder - darunter auch Marie-Luise - blieben aber. Sie sollten vor allem ihre Herkunft vergessen. Über das Schicksal ihrer Eltern erzählte man ihnen nichts, die Fotos von ihnen nahm man ihnen weg, trennte sie von den Geschwistern und verbot ihnen, ihre Familiennamen zu gebrauchen. Schließlich erhielten sie neue Namen - so sollte aus Marie-Luise Lindemann „Krause“ werden.
Auch nach Kriegsende lebten die Kinder zunächst im Heim, wurden dann aber von einer Verwandten Stauffenbergs befreit. Erst im Spätsommer 1945 sahen sich Frau Lindemann und ihre Tochter Marie-Luise in Namedy wieder.
Joachim Hennig, in: Rhein-Zeitung - Ausgabe Koblenz - vom 25. Januar 2001
Erinnerungen von Helene Rothländer (aufgrund der „Aktion Gewitter“ inhaftiert) an Lina Lindemann in der Gestapohaft in Koblenz:
Im Keller trafen wir uns, ohne uns zu kennen, kamen dann aber vorsichtig auf uns zu. Ich erzählte ihr im Keller leise flüsternd, was ich von der Ergreifung ihres Mannes wusste. Die Wachtmeisterin drückte die Augen zu. So wusste Frau L. wenigstens dass ihr Mann noch lebt. (…) Dieser armen Frau hat man die Briefe ihrer beiden jungen Söhne nicht gegeben. Sie standen beide im Felde. Der Gefängnisdirektor durfte sie ihr nicht geben, hat aber doch, einer menschlichen Regung folgend, ihr einige Sätze aus diesen Briefen vorgelesen, worüber sie sehr glücklich war.
Die Wachtmeisterin hatte beobachtet, dass wir einander näher kamen. Aber sie „sah“ nichts. In der Folgezeit hat sie uns sogar geholfen, dass wir ins Gespräch kamen. An den Sonntagen, wenn die Luft rein und alles ins Wochenende ausgeflogen war, drehte sich der große Schlüssel in unserem Schloss, die Tür wurde einen Spalt geöffnet und die Wachtmeisterin schob wortlos Frau L. zu uns herein. Wir haben später die Zelle schon für unseren Besuch vorbereitet. Mit Hilfe einer weißen Wolldecke – woher sie kam und wer sie gestiftet hat, weiß ich nicht – haben wir ein Bett zu einer Coach umfunktioniert, und dann fand sich unser Kreis zu einem frohen Nachmittag zusammen. Ich weiß nicht mehr, was wir alles besprochen haben, oft sehr ernste Lebensfragen, aber oft waren wir doch auch sehr fröhlich. Der Stoff ging uns nie aus. Es gab so viele Probleme politischer, religiöser und menschlicher Art, die uns einten. Wir haben auch miteinander gesungen, ein bisschen leise, um nicht zu „stören“, um nicht auf uns aufmerksam zu machen.
Die Wachtmeisterin wusste uns versorgt. Frau L. trug ihr schweres Los mit Fassung. Man hat sie zunächst bevorzugt behandelt. Sie wurde in einer Klebezelle beschäftigt. Sie war geschickt und alle schwärmten für sie. Sie erhielt Besuch, durfte Esswaren bekommen. Man hatte ihr sogar angeboten, Essen schicken zu lassen. So war ihr Leben einigermaßen erträglich. Sie trug aber schwer an der Ungewissheit über das Los ihrer Kinder, besonders ihres kleinen 10jährigen Töchterchens. Sie hatte auch eine Zelle für sich. Aber die Einzelhaft begann sie zu bedrängen. Daher hat sie den Wunsch ausgesprochen, in unsere Zelle Nr. 3 verlegt zu werden. Ganz wurde dieser Wunsch nicht erfüllt. Aber die Wachtmeisterin brachte sie zu uns so oft sie konnte. Sie betete auch mit uns und sang uns ihre evangelischen Lieder. Sie hatte sehr starke katholische Tendenzen und ungemein viel Interesse für die Bestrebungen der Una sancta. Von uns wollte sie den Aufbau der hl. Messe erklärt haben, wie überhaupt die liturgischen Fragen sie ungemein fesselten.
(Helene Rothländer: „In Deinen Händen ruhet mein Geschick.“ – Erinnerung aus schwerer Zeit. S. 16 f.)
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Nach meiner Entlassung musste Frau L. noch bleiben. Ihr Schicksal ist noch sehr wechselvoll gewesen. Die Zustände in der Karmeliterstraße wurden zum Schluss nicht mehr zumutbar. Der Bau wurde immer wieder von den Bomben getroffen. Die Keller waren nicht mehr benutzbar. Es gab weder Wasser noch Strom. Für die restlichen Gefangenen blieb zu wenig Platz. Schließlich wurde das Haus so zerstört, dass es verlassen werden musste.
Man trieb die Gefangenen wie eine Herde über die brennende Schiffbrücke nach Ehrenbreitstein. Dort hausten sie einige Tage in dem nassen Bunker unter dem Ehrenbreitstein. Dann verteilte man sie. Frau L. kam zu einem alten Ehepaar, das – wie sie später erzählte – rührend für sie sorgte, und dem sie herzliche Dankbarkeit bewahrt hat. Aber auch dort war ihres Bleibens nicht. Sie wurde nach Berlin gebracht.
Als ich das hörte – ich war mittlerweile zu Freunden nach Bendorf-Sayn evakuiert worden –, war ich sicher, dass Frau L. tot war. Die nach Berlin geschafft wurden, kamen in der Regel nicht mehr zurück. Ich ging zu dem dortigen Pfarrer, einem Pater, und bat ihn, eine hl. Messe für Frau L. zu lesen. Er fragte, ob ich denn sicher sei, dass sie tot sei. Ich sagte ihm, 99 Prozent glaube ich daran. Da hat er die Messe gelesen.
(Helene Rothländer: „In Deinen Händen ruhet mein Geschick.“ – Erinnerung aus schwerer Zeit. S. 17)
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Als ich wenige Tage in meiner zerstörten Wohnung war, steht plötzlich Frau L. vor meiner Tür. Sie war auf der Suche nach ihrem kleinen Mädchen und wollte bei dieser Gelegenheit auch die Mitgefangenen besuchen und das alte Rentnerpaar dankbar begrüßen. Da aber alles so schwierig war, blieb sie eine Nacht in Koblenz und fuhr dann mit dem ersten Zug nach N. zurück. Das Schicksal ihres Töchterchens hat sich noch sehr dramatisch gestaltet.
Mit Hilfe der Amerikaner hatte sie in Erfahrung gebracht, dass die kleinen Kinder der bei dem Attentat auf Hitler Beteiligten nach Bad Sachsa am Harz gebracht worden waren. Die Amerikaner brachten Frau L. in einem Jeep dorthin. Sie erfuhren aber nur, dass sich dort inzwischen folgendes abgespielt hatte:
Die Kinder standen hier unter der Aufsicht einer Gestapobeamtin. Eines Tages erkrankten verschiedene Kinder an Angina. Es musste der Arzt gerufen werden. Zuletzt kam der kleine „Meister“ daran, den die Beamtin dem Arzt vorstellte: „Und das ist der kleine ‚Meister“, worauf der aufgeweckte Junge einschnappte und sagte: „Ich heiße nicht Meister. Ich bin Graf Stauffenberg.“ Der Arzt sieht entsetzt die Beamtin an, die ihn ins Nebenzimmer zieht und ihm sagt: „Die Kinder haben andere Namen bekommen. Ich bitte Sie dringend, über das zu schweigen, was Sie hier gehört und gesehen haben. Ich stehe im Dienst der Gestapo.“ Als die Lage in Mitteldeutschland unhaltbar wurde, brachte man die Kinder in ein Heim in der Gegend von Würzburg. Dort wurde das Mädchen nach dem völligen Zusammenbruch einem Soldaten anvertraut, der in die rheinische Heimat zurückkehrte. Er kam bis Koblenz und hatte von dort aus keinen Zug mehr. So blieb er die Nacht über im Bahnhofsrestaurant, wo er in einer Ecke dem Kind ein Nachtlager zu Recht machte. Am anderen Morgen fuhren dann beide nach N. Sie fuhren, ohne es zu wissen, mit Frau L. im selben Zug, und sahen sich erst zu Haue, wo die Mutter nach so langer Zeit ihr Kind wieder überglücklich in die Arme schließen konnte.
(Helene Rothländer: „In Deinen Händen ruhet mein Geschick.“ – Erinnerung aus schwerer Zeit. S. 17 f. )
Auszüge aus dem Aufsatz von Joachim Hennig:
„Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts.“ – Der 20. Juli und Widerständler aus dem heutigen nördlichen Rheinland-Pfalz,
veröffentlicht in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 40, 2014, S. 251 - 318
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4. Die „Sippenhäftlinge“
Noch in derselben Nacht (des 20. Juli 1944) kündigt Hitler im Rundfunk einen erbarmungslosen Rachefeldzug gegen die Attentäter an. Mit seinen Feinden wolle er „kurzen Prozess machen“, die an der Verschwörung beteiligten Offiziere sollen „sofort hängen – ohne jedes Erbarmen.“
Die Behandlung der Verschwörer erklärt er zur Chefsache. Eine „Sonderkommission 20. Juli 1944“ mit 400 Beamten beginnt am 21. Juli 1944 im Reichssicherheitshauptamt unverzüglich mit den Ermittlungen. Schätzungsweise 600 bis 800 Personen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Attentat stehen, werden in den folgenden Tagen und Wochen festgenommen, etwa 200 von ihnen werden umgebracht.
Als einen der Ersten ergreift die Gestapo Graf von Schack. Er wird – wie viele andere dann auch – in das „Hausgefängnis“ des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße 8 verbracht.
4.1 „Sippenhäftling“ Lina Lindemann von Burg Namedy bei Andernach
Fieberhaft gesucht wird u.a. nach dem General der Artillerie Fritz Lindemann. Lindemann, der in Polen, in Frankreich und an der Ostfront – u.a. auf der Krim – gekämpft hat, wird im September 1943 in das Oberkommando des Heeres versetzt und anschließend zum General der Artillerie beim Chef des Generalstabes des Heeres befördert. In dieser Funktion ist er einer dertreibenden Kräfte für das Attentat auf Hitler. Er unternimmt zahlreiche Reisen an die Front und in verschiedene Teile Deutschlands und ist dadurch in voller Kenntnis der Umsturzpläne Emissär und Anbahner der Verschwörung. Im Auftrag von Generaloberst Beck erarbeitet er Aufrufe, die er nach Gelingen des Staatsstreichs über den Rundfunk verlesen sollte. In der neuen Regierung ist er für die Pressearbeit vorgesehen. Generalmajor Hellmuth Stieff gibt später als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof über eine Besprechung der Verschwörer nach dem Bericht der Gestapo folgendes an:
Ab Juni habe (Generalquartiermeister des Heeres Eduard) Wagner in entscheidender Weise die Ansicht verfolgt, dass der Krieg liquidiert werden müsse. (…) Dies sei nur möglich, wenn der Führer nicht mehr an der Spitze des Reiches steht. Auch Lindemann habe Ende Juni zum Ausdruck gebracht, dass nun die Zeit zum gewaltsamen Handeln gekommen sei. Die Verschärfung der Ansichten Wagners und Lindemanns fällt zeitlich mit der Ernennung Stauffenbergs zum Chef des Stabes beim Generaloberst Fromm zusammen.
Außerdem sagt Stieff vor dem Volksgerichtshof, dass Wagner und Lindemann bei einer weiteren Zusammenkunft Anfang Juli 1944 in erster Linie über politische Fragen, besonders die Regierungsbildung aufgrund der Pläne von Beck und Stauffenberg, über nachrichtentechnische Maßnahmen und neue Sprengmittel für Stauffenberg gesprochen hätten.
Für seine Aufgabe beim Umsturz hält er sich bereit. Vorausschauend meldet er sich für diesen Tag krank und wartet auf den Ruf nach Berlin, um über den Rundfunk die Erklärungen der Verschwörer zu verlesen und danach eine führende Funktion bei der Pressearbeit zu übernehmen. Doch der Ruf aus Berlin kommt nicht. Am Abend begibt er sich in den Bendlerblock und erlebt, wie der Umsturz zu scheitern droht.
Unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 ist Fritz Lindemann auf der Flucht. Erst kann er sich für einige Tage bei Verwandten in Dresden verstecken, Ende Juli findet er für fünf Wochen Unterschlupf bei einem Ehepaar eines gemeinsamen Bekannten. Im August erscheint zweimal in Zeitungen eine Suchanzeige, mit der für seine Ergreifung 500.000 Reichsmark ausgelobt werden.
Schon einige Zeit vor dem Attentat wohnt Lina Lindemann auf die Burg Namedy bei Andernach. Frau Lindemann ist die 1898 geborene Tochter des preußischen Generalmajors Friedrich von Friedeburg. Ihr Vater war Kommandeur der 2. Garde-Infanterie-Division und Flügeladjutant des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. 1922 heiratet sie den ebenfalls aus einer preußischen Offiziersfamilie stammenden Oberleutnant Fritz Lindemann in der Garnisonskirche von Potsdam. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Friedrich (*1923), Georg (*1924) und Marie-Luise (*1934). Schon vor der Machtübernahme Hitlers macht Fritz Lindemann Karriere und ist 1932 bereits Major. Im selben Jahr studiert er Wirtschaftswissenschaften und unternimmt Reisen zu Sprachstudien.
Die Lindemanns haben guten Kontakt zu dem früheren Reichswehrminister und kurzzeitigen Reichskanzler Kurt von Schleicher und seiner Ehefrau. Den Mord an den beiden im Zusammenhang mit dem sog. Röhm-Putsch am 30. Juni 1934 können die Lindemanns nie verwinden. Diese Verbrechen bestärken und festigen sie in ihrer oppositionellen Einstellung gegenüber den Nazis. 1934 zitiert Lindemann in einem Vortrag Hindenburgs politisches Testament: „Immer und zu allen Zeiten muss die Wehrmacht ein Instrument der obersten Staatsführung bleiben, das unberührt von allen innenpolitischen Entwicklungen seiner hohen Aufgabe der Verteidigung des Landes gerecht zu werden trachte!“ Der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 verstärkt seine oppositionelle Haltung. Lindemann schreibt an seine Frau: „Die Truppen pfeifen auf dem letzten Loch. (…) Man hat sich wohl den Ablauf dieses Feldzuges, auch an oberster Stelle, erheblich anders vorgestellt.“ Und: „Ich glaube, nach diesem Kriege bin ich ‚Pazifist’.“
Die Kinder werden weltoffen und liberal erzogen. Später machen die Nazis den Eltern zum Vorwurf, in ihrer Erziehung „sei etwas nicht in Ordnung gewesen“. Zu dem Sohn Georg heißt es etwa in dem Urteil des Volksgerichtshofs vom 8. Dezember 1944 gegen ihn: „(Er) meldete sich bei der Hitlerjugend einfach nicht mehr, ihn hielt auch niemand dazu an. Kein Wunder, wenn richtig ist, was er sagt: dass er seinerzeit überhaupt gegen den Willen seines Vaters, des seinerzeitigen Generals der Artillerie Lindemann, Hitlerjunge geworden sei!!! Fern von der Gemeinschaftserziehung der HJ kam er auf abschüssige Wege: gründete mit sechs Jungen und sechs Mädchen einen Swingklub (CC6 – Cabinet Club 6)!!!“
Fritz und Lina Lindemann mit ihren Söhnen Friedrich und Georg, um 1940
Einige Tage nach dem 20. Juli 1944 kamen Gestapobeamte zu ihnen auf die Burg Namedy. Sie nahmen Lina Lindemann fest und führten sie ab. Es hat so ausgesehen, als würde sie kurz danach wieder frei gelassen. In diesen Tagen hat es auf der Burg von Gestapobeamten „gewimmelt“. Die Gestapoleute hätten sich im Rittersaal niedergelassen und von dort aus den Hof und die ganze Burg im Blick gehabt. Sie warteten offensichtlich darauf, dass General Fritz Lindemann auf der Burg Zuflucht sucht. Diese „Belagerung“ der Burg durch die Gestapo habe mehrere Tage, auch über ein Wochenende, gedauert. Sie hat nämlich mit ihren Geschwistern in den Gottesdienst gehen wollen. Das hat man ihnen aber verboten, weil niemand die Burg verlassen durfte. Nach einiger Zeit hat die Gestapo sie aber doch in die Kirche gehen lassen.
Der Grund für die Inhaftnahme Lina Lindemanns ist „Sippenhaft“, die Ehe mit dem gesuchten Verschwörer des 20. Juli Fritz Lindemann.
Wenige Tage später erläutert der Reichsführer SS Heinrich Himmler in Posen versammelten Gauleitern sein Verständnis von „Sippenhaft“:
Es soll uns ja niemand kommen und sagen: das ist bolschewistisch, was Sie da machen. Nein, nehmen Sie es mir nicht übel, das ist gar nicht bolschewistisch, sondern sehr alt und bei unseren Vorfahren gebräuchlich gewesen. Sie brauchen bloß die germanischen Sagas nachzulesen. Wenn sie eine Familie in Acht taten und für vogelfrei erklärten oder wenn eine Blutrache in der Familie war, dann war man maßlos konsequent. Wenn die Familie vogelfrei erklärt wird und in Acht und Bann getan wird, sagten sie: Dieser Mann hat Verrat geübt, das Blut ist schlecht, da ist Verräterblut drin, das wird ausgerottet. Bei der Blutrache wurde ausgerottet bis zum letzten Glied in der ganzen Sippe. Die Familie Graf Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied. ((Beifall) Denn das muss ein einmaliges warnendes Beispiel sein.
Außerdem wird man dann allen in Deutschland freistellen, die Stauffenberg heißen, überhaupt allen, die unglückseligerweise Namen tragen, die in diesen Verratsprozess verwickelt sind, dass sie beantragen, ihren
Namen zu ändern, weil man ihnen nicht zumuten kann, den Namen eines Schuftes und Verräters weiter zu tragen.
Die „Sippenhaft“ war nicht nur – wie im Fall des bereits ermordeten Grafen von Stauffenberg – als Bestrafung der Angehörigen gedacht, sondern sollte auch als Druckmittel gegen die Verschwörer eingesetzt werden. Das gilt gerade auch für den General Fritz Lindemann, der nach dem 20. Juli 1944 flüchtig ist.
Frau Lindemann wird von Burg Namedy in das Gefängnis von Koblenz gebracht. Verhöre, in denen man von ihr vor allem den Aufenthaltsort ihres Mannes erfahren will, folgen. Die Mitgefangene Helene Rothländer sagt später über sie:
Frau L(indemann) trug ihr schweres Los mit Fassung. (…) Sie trug aber schwer an der Ungewissheit über das Los ihrer Kinder.
6. Weitere Verhaftungen
6.1 Fritz Lindemann
Unterdessen gehen die Suche nach und die Verhaftungen von Verschwörern vor allem in Berlin weiter.
Ein Ehepaar, das es auf das „Kopfgeld“ abgesehen hat, verrät Ende August 1944 Fritz Lindemann. Zunächst verhaftet die Gestapo seine Helfer in Dresden. Nach deren intensiven Verhören wird der Unterstützerkreis umfänglich aufgedeckt. Am 3. September stürmen Gestapoleute die Wohnung seiner Unterstützer in Berlin. Als sich Lindemann aus dem Fenster des 3. Stocks auf die Straße stürzen will, wird er mit Schüssen in den Oberbauch und in beide Beinen schwer verletzt. Man bringt ihn sofort in das Berliner Staatskrankenhaus der Polizei. Es folgt eine Notoperation. Als Lindemann bei der Verabreichung der Narkose zählen soll, unterbricht er sich und erklärt mit kräftiger Stimme:
Sie sollen es alle wissen, ich bin der General der Artillerie Lindemann vom Oberkommando des Heeres. (…) Grüßen Sie meine Frau, denn mein Schicksal ist mir gewiss. (…) Niemand hat ein reineres Gewissen als ich. (…) Ich habe aus reinem Gewissen gehandelt. (…) Ich sterbe für Deutschland!
Die Gestapo ist in großer Sorge, den ihr wertvollen Gefangenen nicht mehr verhören zu können. Deshalb vernimmt sie den schwer Verletzten und frisch Operierten wiederholt und mehrere Stunden lang. Die letzte Vernehmung ist am 22. September 1944. An diesem Tag erliegt General Fritz Lindemann im Berliner Polizeikrankenhaus seinen Verletzungen.
8. Weiteres Schicksal der „Sippenhäftlinge“ und ihrer Angehörigen
8.1 Lina Lindemann
Von August 1944 an sind Lina Lindemann – als „Sippenhäftling“ nach ihrem Ehemann Fritz Lindemann –, Therese Kaiser und ihre Tochter Elisabeth – als „Sippenhäftlinge“ nach ihrem Ehemann und Vater Jakob Kaiser – im Koblenzer Gerichtsgefängnis in der Karmeliterstraße im Gewahrsam der Gestapo. Elisabeth ist in einer Gemeinschaftszelle mit anderen Frauen zusammen. Ob ihre Mutter auch dabei ist, ist nicht bekannt. Für Elisabeth ist es eine sehr schwere Zeit. Sie leidet vor allem unter dem erzwungenen Zusammenleben mit den anderen. Später berichtet sie über ihre Zeit im Koblenzer Gefängnis:
Am schwersten ... war für mich die Zeit in Koblenz. Wir hatten gutes Essen dort. Die Leitung des Hauses lag in katholischen Händen. Die Vorsteherinnen waren gut, aber entsetzlich ängstlich. Wir lebten mitten unter den Frauen, alles ganz junge, die man auf der Straße aufgelesen hatte. Für eine kurze Zeit ist es gewiss ganz interessant, einmal unter diesen Menschen als ihresgleichen zu leben... Aber besser ist es, allein in einer Zelle zu sein und Hunger zu haben, aber dafür dir selbst zu gehören.
Die Situation bei Lina Lindemann ist genau umgekehrt. Sie ist in einer Einzelzelle untergebracht und sucht den Kontakt zur Gemeinschaft. Dabei hat sie Glück, dass sie die schon ältere, ehemalige Zentrumspolitikerin Helene Rothländer, die im Rahmen der „Aktion Gewitter“ inhaftiert ist, kennen lernt. Mit Hilfe einer Wachtmeisterin kann sie ab und zu in deren Zelle gelangen, wie sich später Helene Rothländer erinnert:
Im Keller trafen wir uns, ohne uns zu kennen, kamen dann aber vorsichtig auf uns zu. Ich erzählte ihr im Keller leise flüsternd, was ich von der Ergreifung ihres Mannes wusste. Die Wachtmeisterin drückte die Augen zu. So wusste Frau L(indemann) wenigstens, dass ihr Mann noch lebt. (…) Dieser armen Frau hat man die Briefe ihrer beiden jungen Söhne nicht gegeben. Sie standen beide im Felde. Der Gefängnisdirektor durfte sie ihr nicht geben, hat aber doch, einer menschlichen Regung folgend, ihr einige Sätze aus diesen Briefen vorgelesen, worüber sie sehr glücklich war.
Die Wachtmeisterin hatte beobachtet, dass wir einander näher kamen. Aber sie „sah“ nichts. In der Folgezeit hat sie uns sogar geholfen, dass wir ins Gespräch kamen. An den Sonntagen, wenn die Luft rein und alles ins Wochenende ausgeflogen war, drehte sich der große Schlüssel in unserem Schloss, die Tür wurde einen Spalt geöffnet und die Wachtmeisterin schob wortlos Frau L(indemann) zu uns herein. Wir haben später die Zelle schon für unseren Besuch vorbereitet. Mit Hilfe einer weißen Wolldecke – woher sie kam und wer sie gestiftet hat, weiß ich nicht – haben wir ein Bett zu einer Coach umfunktioniert, und dann fand sich unser Kreis zu einem frohen Nachmittag zusammen. Ich weiß nicht mehr, was wir alles besprochen haben, oft sehr ernste Lebensfragen, aber oft waren wir doch auch sehr fröhlich. Der Stoff ging uns nie aus. Es gab so viele Probleme politischer, religiöser und menschlicher Art, die uns einten. Wir haben auch miteinander gesungen, ein bisschen leise, um nicht zu „stören“, um nicht auf uns aufmerksam zu machen.
Die Wachtmeisterin wusste uns versorgt. Frau L(indemann) trug ihr schweres Los mit Fassung. Man hat sie zunächst bevorzugt behandelt. Sie wurde in einer Klebezelle beschäftigt. Sie war geschickt und alle schwärmten für sie. Sie erhielt Besuch, durfte Esswaren bekommen. Man hatte ihr sogar angeboten, Essen schicken zu lassen. So war ihr Leben einigermaßen erträglich. Sie trug aber schwer an der Ungewissheit über das Los ihrer Kinder, besonders ihres kleinen 10jährigen Töchterchens. Sie hatte auch eine Zelle für sich. Aber die Einzelhaft begann sie zu bedrängen. Daher hat sie den Wunsch ausgesprochen, in unsere Zelle Nr. 3 verlegt zu werden. Ganz wurde dieser Wunsch nicht erfüllt. Aber die Wachtmeisterin brachte sie zu uns so oft sie konnte. Sie betete auch mit uns und sang uns ihre evangelischen Lieder. Sie hatte sehr starke katholische Tendenzen und ungemein viel Interesse für die Bestrebungen der Una sancta. Von uns wollte sie den Aufbau der hl. Messe erklärt haben, wie überhaupt die liturgischen Fragen sie ungemein fesselten.
Trotz dieses einen oder anderen Lichtblicks werden die Verhältnisse für die Frauen im Koblenzer Gefängnis immer unerträglicher. Das liegt nicht nur an der totalen Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen und auch über die eigene Zukunft, sondern auch an den immer häufiger und schwerer werdenden Bombenangriffen der Alliierten auf Koblenz und gerade auch auf das Gefängnis. Manche Zellen können nicht mehr belegt werden, Wasser und Strom gibt es nicht mehr. Bei dem verheerenden Bombenangriff auf Koblenz am 6. November 1944 wird das Gefängnis schließlich so stark zerstört, dass es seine Funktion verliert. Für Therese und Elisabeth Kaiser bietet sich in dem allgemeinen Chaos die Chance, aus dem Gefängnis zu fliehen. Die beiden ergreifen sie auch und kehren zu Sepp und Käthe Mohr in (Neuwied-)Irlich zurück.
Lina Lindemann bleibt im Gefängnis. Sie weiß nichts von der Situation um sie herum, über das Schicksal ihres Mannes Fritz, ihrer zehnjährigen Tochter Marie-Luise und ihrer beiden im Feld stehenden Söhne Friedrich und Georg und befürchtet, dass sie deren Lage durch ihre Flucht womöglich noch weiter verschlechtert. Deshalb lässt sie sich mit den anderen Häftlingen über die brennende Schiffbrücke über den Rhein ins rechtsrheinische Ehrenbreitstein treiben. Dort haust sie mit den anderen einige Tage in dem nassen Bunker unter dem Ehrenbreitstein. Dann werden die Häftlinge zu Privatpersonen geschickt. Lina Lindemann hat Glück. Sie kommt zu einem alten Ehepaar, das rührend für sie sorgt.
Aber das bleibt nur ein kurzes Aufatmen, eine kleine Episode. Schon wenig später beginnt für Lina Lindemann eine Odyssee durch fast das ganze damalige Deutsche Reich. Diese führt sie über das Gefängnis in Vallendar in das Gefängnis von Altenkirchen, Mitte Januar 1945 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, dann in das KZ Stutthof bei Danzig, weiter in das SS-S und Polizeistraflager Matzkau und das KZ Finkenbruch bei Lauenburg. Schließlich trifft sie am 9. März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ein.
In Buchenwald stößt sie zu den dort Internierten, neben „Sippenhäftlingen“ auch sog „Ehren“- und „Sonderhäftlinge“: sechs Angehörige der gräflichen Familie von Stauffenberg, Mitglieder der Familie Goerdeler, General von Falkenhausen, der Großindustrielle Fritz Thyssen mit seiner Frau, fünf Minister einer ungarischen Zwischenregierung, Angehörige des deutschen Botschafters Ulrich von Hassell, der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum mit seiner Frau und anderen mehr. Sie sind abseits des eigentlichen Lagers in einer Isolierbaracke tief im Wald versteckt. Die Baracke ist mit einer drei Meter hohen, unübersteigbaren und nicht überblickbaren Palisadenwand umgeben und von zwölf SS-Leuten bewacht.
Im März werden alle Vier (die Eheleute Sepp und Käthe Mohr sowie Therese Kaiser und ihre Tochter Elisabeth) aus ihren Zellen geholt und im Eisenbahnwaggon ins KZ Buchenwald verfrachtet. Dort treffen sie eine Woche nach Lina Lindemann ein.
Während die Front immer näher rückt, verlassen die „Sippen“- und anderen Häftlinge auf Befehl des Reichsführers SS Himmler am 3. April 1945 mit Autobussen das Konzentrationslager Buchenwald und gehen weiter „auf Transport“ nach Süddeutschland. Stationen sind Regensburg und Schönberg im Bayerischen Wald. Die Häftlinge kommen in einer Schule unter; ihr Kontakt zur Bevölkerung hilft ihnen, dass sie überhaupt etwas zu essen bekommen. Weiter geht der Transport der Häftlinge - ins Ungewisse, denn die Begleitmannschaft sagt ihnen zu keiner Zeit, was mit ihnen wo geschehen soll. Schließlich erreichen sie am 16. April 1945 das KZ Dachau.
Aber auch hier rückt die Front immer näher und die Häftlinge gehen weiter „auf Transport“. Bereits am 26. April 1945 verlassen sie das KZ Dachau in Bussen. Ihre „Fahrt ins Blaue“ – wie sie die weitere Verschleppung bitter nennen – führt sie in die „Alpenfestung“ der Nazis. In einem Arbeitslager in Innsbruck treffen sie wieder auf die von ihnen in Dachau getrennten Häftlinge: die Minister der ehemaligen ungarischen Regierung und außerdem auf eine Anzahl Männer, teils in KZ-Kleidung, teils in Uniform: auf den früheren österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg mit Frau und Kind, auf den Bürgermeister von Wien, Richard Schmitz, auf griechische Generäle, Professoren, Minister, Schriftsteller aus Dänemark, Schweden, Lettland, Holland, der Slowakei, auf den Neffen des sowjetischen Außenministers Molotow, einige Engländer, den Bischof von Clermont, auf Generaloberst Franz Halder, Reichsminister Hjalmar Schacht, Staatssekretär Hermann Pünder, auf den .Mitverschwörer vom 20. Juli 1944 Fabian von Schlabrendorff, auf den Pastor der Bekennenden Kirche Martin Niemöller u.a.m. Die Fahrt geht weiter über den Brenner und endet für die insgesamt 139 Häftlinge aus 17 Nationen am 28. April 1945 mit der Ankunft in Niederdorf (Villabassa) im Pustertal in Südtirol.
Die verbliebenen ca. 60 SS-Leute beherrschen immer weniger die Situation. Einer der Häftlinge, Oberst Bogislaw von Bonin, der sich im Januar 1945 weigerte, einen Befehl Hitlers auszuführen und deshalb von der Gestapo im KZ Dachau inhaftiert war, ergreift die Gelegenheit beim Schopf und telefoniert mit dem noch aktiven deutschen Generalstab in Italien. Er erreicht, dass eine Einheit der Deutschen Wehrmacht nach Niederdorf kommt, die SS entmachtet und die Häftlinge unter ihren Schutz stellt.
Ende April 1945 werden die inzwischen befreiten Häftlinge im nahe gelegenen Hotel „Pragser Wildsee“ (Lago di Braies) einquartiert. Damit hat sich fürs erste die prekäre Lage entspannt. In dem verlassenen Hotel kommt die große Stunde der Eheleute Mohr. Beide organisieren die Versorgung und Verpflegung der Häftlinge. Von ihrem Tun kündet eine kleine Kladde, in die ihre Mithäftlinge und Gäste im Hotel ihren Dank hineinschreiben. Es ist ein richtiges „Dankebüchlein“, in dem sich zu Ehren der Eheleute Mohr damals und zum Teil auch heute noch klangvolle Namen verewigt haben.
Es beginnt mit der Widmung von Pastor Martin Niemöller: „Herrn Josef Mohr und seiner verehrten Gattin sei dies stets eine Erinnerung an ihren Hauseltern- und Küchendienst zum Wohl von über 130 verschleppten Gestapohäftlingen im Hotel Wildsee-Prags/Südtirol.“- Und Käte Gudzent fährt fort: „Der Mohr und die Mohrin haben mehr, viel mehr als ihre Schuldigkeit getan! Tausend Dank!“ Und Eberhard von Hofacker: „Der ‚Küchenjunge’ dankt gehorsamst dem ‚Chefehepaar’ für seine große Mühe und aufopferungsvolle Hingabe im Dienst der Gemeinschaft.“ Auch Oberst Markwart Graf Schenk von Stauffenberg dankt den Mohrs: „Zur Erinnerung an die gemeinsam erlebten schweren Zeiten in Buchenwald, Regensburg, Schönberg, Dachau und Südtirol und herzlichen Dank für die gute Betreuung.“ Und Frau von Hammerstein ergänzt: „Zum steten Andenken dem lieben Ehepaar Mohr an die schweren und dann so schönen Tage der Sippenhaft. Gott vergelt’s auch für die so gut geführte Küche.“ General der Infanterie von Falkenhausen fasst seinen Dank in den Reim: „Aus der Hölle in den Himmel! Dieses kommt mir komisch vor, doch wir danken es Herrn Mohr!“ Schließlich findet ein lettischer Professor die Dankesworte: „Die überaus freundliche Fürsorge der lieben Mithäftlinge ‚Ehepaar Mohr’ wird mir immer in schönster Erinnerung verbleiben – als hoffnungsvoller Anfang eines besseren freien Lebens.“
Schon bald treffen amerikanische Truppen ein, es ist die endgültige Befreiung der Häftlinge. Langsam löst sich die Schicksalsgemeinschaft weiter auf. Die verbliebenen Personen bringen die Amerikaner nach Neapel, die Deutschen weiter auf die Insel Capri. Dort verleben jedenfalls die Mohrs – wie sie sagen - fünf traumhaft schöne Wochen. Die Erinnerungen an das Schwere der Haftzeit, die Unruhe und Qual der letzten Monate fallen erst einmal von ihnen ab, sie atmen frei und leben. Mitte Juni 1945 werden die Eheleute Mohr, Therese und Elisabeth Kaiser und Lina Lindemann zusammen mit anderen ehemaligen Häftlingen über Mailand und Paris nach Frankfurt am Main gebracht. Bei ihrer Landung in Frankfurt fallen sie im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Wolken. Das Wiedersehen mit Deutschland erschüttert sie. Ein Chaos umgibt sie. Die Deutschen, die zu ihrer Betreuung da sind, können ihnen nicht weiterhelfen. Da erbarmen sich die Amerikaner ihrer noch einmal und bringen sie bis vor ihre Haustür.
10.1 Lina Lindemann
Nach der Befreiung und Rückkehr nach Deutschland finden die Eheleute Mohr ihre Familie in Irlich schnell wieder und Jakob Kaiser, der im Untergrund in Berlin die Verfolgung der Nazis überlebt hat, ist schon bald wieder gewerkschaftlich und politisch aktiv. Hingegen ist die Suche Lina Lindemanns nach ihrer Familie sehr viel schwieriger und bedrückender. Seit Anfang April 1945 weiß sie, dass ihr Ehemann Fritz die Suche nach ihm nicht überlebt hat und an seinen schweren Verletzungen gestorben ist. Unbekannt ist ihr aber das Schicksal ihrer Kinder. Mit der Suche beginnt sie auf Burg Namedy. Dort erfährt sie von der Nichte ihrer Schwester, Josefine, dass dieser Ende August 1944 von der Gestapo befohlen worden war, die damals kaum zehn Jahre alte Marie-Luise zum Bahnhof zu bringen. Da Josefine nichts weiter weiß, macht sich Lina Lindemann in Koblenz auf die Spurensuche nach ihrer Tochter, waren es doch Gestapobeamte aus Koblenz, die die Verschleppung des Kindes veranlasst haben.
Anlaufstelle ist für sie ihre ehemalige Mitgefangene Helene Rothländer. Sie erinnert sich später:
Als ich wenige Tage später in meiner zerstörten Wohnung war, steht plötzlich Frau L(indemann) vor meiner Tür. Sie war auf der Suche nach ihrem kleinen Mädchen und wollte bei dieser Gelegenheit auch die Mitgefangenen besuchen und das alte Rentnerpaar dankbar begrüßen. Da aber alles so schwierig war, blieb sie eine Nacht in Koblenz und fuhr dann mit dem ersten Zug nach N(amedy) zurück. Das Schicksal ihres Töchterchens hat sich noch sehr dramatisch gestaltet.
Als Lina Lindemann ihre Tochter Marie-Luise gefunden hat, erfährt Helene Rothländer noch Näheres über das Schicksal des Kindes und erzählt:
Mit Hilfe der Amerikaner hatte sie in Erfahrung gebracht, dass die kleinen Kinder der bei dem Attentat auf Hitler Beteiligten nach Bad Sachsa am Harz gebracht worden waren. Die Amerikaner brachten Frau L(indemann) in einem Jeep dorthin. Sie erfuhren aber nur, dass sich dort inzwischen folgendes abgespielt hatte:
Die Kinder standen hier unter der Aufsicht einer Gestapobeamtin. Eines Tages erkrankten verschiedene Kinder an Angina. Es musste der Arzt gerufen werden. Zuletzt kam der kleine „Meister“ daran, den die Beamtin dem Arzt vorstellte: „Und das ist der kleine ‚Meister“, worauf der aufgeweckte Junge einschnappte und sagte: „Ich heiße nicht Meister. Ich bin Graf Stauffenberg.“ Der Arzt sieht entsetzt die Beamtin an, die ihn ins Nebenzimmer zieht und ihm sagt: „Die Kinder haben andere Namen bekommen. Ich bitte Sie dringend, über das zu schweigen, was Sie hier gehört und gesehen haben. Ich stehe im Dienst der Gestapo.“ Als die Lage in Mitteldeutschland unhaltbar wurde, brachte man die Kinder in ein Heim in der Gegend von Würzburg. Dort wurde das Mädchen nach dem völligen Zusammenbruch einem Soldaten anvertraut, der in die rheinische Heimat zurückkehrte. Er kam bis Koblenz und hatte von dort aus keinen Zug mehr. So blieb er die Nacht über im Bahnhofsrestaurant, wo er in einer Ecke dem Kind ein Nachtlager zurecht machte. Am anderen Morgen fuhren dann beide nach N(amedy). Sie fuhren, ohne es zu wissen, mit Frau L(indemann) im selben Zug, und sahen sich erst zu Hause, wo die Mutter nach so langer Zeit ihr Kind wieder überglücklich in die Arme schließen konnte.
Später erfährt Lina Lindemann noch mehr über das Schicksal dieser insgesamt 46 Kinder aus 19 Familien. Die Nazis hatten sie in ein Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt nach Bad Sachsa im Südharz gebracht und wollten ihnen ihre Identität nehmen, die Älteren sollten in „Napolas“, „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ und die Jüngeren in SS-Familien aufgezogen werden. Ursprünglich sollten die Kinder nur für einen Zeitraum von acht Wochen in Bad Sachsa bleiben – „bis die Eltern und großen Geschwister umgebracht worden wären“. Aber ab Oktober 1944 wurden die Kinder, deren Mütter aus dem Gefängnis entlassen sind, nach Hause geschickt.
Marie-Luise Lindemann wird aber nicht entlassen, sondern muss bis zum bitteren Ende in Bad Sachsa bleiben. Dies geht auf einen Brief des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes und Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Kaltenbrunner vom 14. Dezember 1944 zurück, in dem es u.a. hieß:
Mit einer längeren Inhaftnahme ist im Wesentlichen bei den Frauen des ehemaligen Generalquartiermeisters Wagner, des ehemaligen Generalobersten Höpner (richtig: Hoepner) und des ehemaligen Generals der Artillerie Lindemann zu rechnen. Sie sind wegen ihrer reaktionären Einstellung in einem Konzentrationslager untergebracht und haben ein Verfahren wegen Mitwisserschaft und Beihilfe vor dem Volksgerichtshof zu erwarten.
Wie zuvor dargestellt, ist es sodann zu keinen solchen Strafprozessen von Frauen von Verschwörern gekommen, auch nicht zu einem gegen Lina Lindemann. Aber die Anweisung zeigt die Konsequenz, die Brutalität und den Hass der Nationalsozialisten gerade auch gegen Lina Lindemann und ihre Tochter Marie-Luise.
Hintergrund dafür war sehr wahrscheinlich das große aktive Engagement Fritz Lindemanns für den Staatsstreich, seine Selbstbeherrschung, sein Stolz und seine Überlegenheit bis in den Tod hinein. Hinzu kam wesentlich, dass die Söhne Friedrich und Georg diese Charaktereigenschaften, die Weltoffenheit und die Weitsicht von ihrem Vater geerbt und weiter entwickelt haben. Beide Söhne sind von ihren Eltern liberal und antinazistisch erzogen worden. Dem Vorbild des Vaters eifern sie nach und werden Soldaten. Zur Zeit des Attentats sind sie Leutnant an der Ostfront bzw. Oberfähnrich zur See. Seinen Sohn Georg trifft Fritz Lindemann wiederholt während des Krieges, zuletzt am 30. Juni 1944. Dabei schildert der Vater dem Sohn den Ernst der Lage. Der Krieg sei verloren, man müsse sich um einen Kompromissfrieden mit den Alliierten bemühen. Ein solcher könne aber mit der jetzigen Regierung nicht erreicht werden. Das könne sich aber ändern, die Männer für einen Machtwechsel seien aus dem Kreis der Wehrmacht da. Auf die Frage seines Sohnes, ob er zu den Männern gehören werde, die verhandeln, gab er zur Antwort: Er werde sich dann zur Verfügung stellen. Ähnlich dachte und fühlte der ältere Sohn Friedrich. Er erklärte am 26. Juli 1944 gegenüber einem Frontkameraden sein Bedauern über das Misslingen des Attentats.
Beiden Söhnen machte man vor dem Volksgerichtshof den Prozess und verurteilte sie zu Zuchthausstrafen. Georg wurde mit Urteil vom 8. Dezember 1944 wegen Nichtanzeige eines Hoch- und Landesverrats zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft. Zur Begründung heißt es: „Die Hauptverantwortung trägt freilich der Vater Lindemann. Er hat seines Jungen Erziehung vernachlässigt. Er hat ihn in defätistische Gedanken gedrängt. Er tat das mit der Autorität des Vaters und des Generals gegenüber dem Sohn und jungen Soldaten.“
Nach der Befreiung dauert es dann noch einige Zeit, bis Friedrich und Georg aus dem Zuchthaus entlassen werden. In dieser Zeit ist Lina Lindemann mit der Tochter Marie-Luise auf Burg Namedy. Die beiden kehren erst im Herbst 1945 nach Hamburg zurück.
Weiterführende Hinweise :
- Joachim Hennig: Lina und Marie-Luise Lindemann. Auf sie fiel das Beil der “Sippenhaft”, in:
Rhein-Zeitung - Ausgabe Koblenz - vom 25. Januar 2001
- Bengt von zur Mühlen (Hg.): Sie gaben ihr Leben. Unbekannte Opfer des 20. Juli 1944. General Fritz Lindemann und seine Fluchthelfer. Berlin-Kleinmachnow 1995 (Begleitbuch zum gleichnamigen Fernseh- und Videofilm).