Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

 

Marianne Pincus erzählt von ihrer Kindheit:

Ich bin 1924 in Wiesbaden geboren. Als ich drei Jahre alt war, sind wir nach Frankfürt/Main gezogen. (...) Wir wohnten in einer neu erbauten Reihenhaussiedlung am nördlichen Rand der Stadt, und ich habe meine Kindheit, die ich dort bis 1933 verbrachte, in bester Erinnerung. (...) Die Kinder der Siedlung haben viel gemeinsam gespielt, sogar noch eine Weile nach 1933. Wir sind Sprungseil gesprungen, haben die Roller oder Rollschuhe herausgeholt oder Verstecken gespielt, und an Fasching sind wir verkleidet auf die Straße gegangen. Aus bunter Pappe und Papier haben wir Klatschen angefertigt und uns gegenseitig geneckt. Die Siedlung bestand aus mehreren Straßen. Wir wohnten in der kleinsten, die nur aus zehn Häusern bestand. In den letzten drei Häusern dieser schmalen Straße - war es Zufall oder Absicht - wohnten die drei jüdischen Familien unserer Siedlung. Das eine Mädel war so alt wie ich, und wir waren ganz enge Freundinnen. Nach 1933 war diese Freundschaft ganz unentbehrlich. (...)

Aber schon im Frühjahr 1933 nahm diese Idylle für uns jüdische Kinder ein abruptes Ende. Ich werde es mein Lebtag nicht vergessen: Gerade saß ich mit meiner Freundin Eva auf der Wippe, als auf einmal ein paar Jungen, mit denen wir früher auch gespielt hatten, ankamen, Einer schnupperte in der Luft und sagte: ,,hier riecht's nach Jud“
Aber ich wusste gar nicht, was das bedeuten sollte; ich wusste noch nicht einmal, dass ich jüdisch war. Die Jungen haben dann deutlich gemacht, was sie meinten, indem sie uns von der Wippe stießen, und wir beide sind heulend nach hause gerannt.
Als wir meiner Mutter erzählten, was vorgefallen war, war ich erstaunt, dass sie sich so furchtbar aufregte und sofort zu der Frau in der Siedlung lief die für die Verwaltung des Spielplatzes verantwortlich war. Das war mein erstes antisemitisches Erlebnis.

Ähnliches wiederholte sich in kurzem Abstand. Nun griff mein vater ein. Er nahm die Hundepeitsche mit und ging zum Spielplatz. Die Peitsche im Rücken haltend, stellte er die Jungen zur Rede. Diese bekamen blutrote Köpfe und trollten sich davon. Doch nur ganz kurze Zeit danach wurden wir Kinder wieder angepöbelt und beschimpft. Mein Vater ging wieder zum Spielplatz mit drohender Gebärde. Doch dieses Mal reagierten die Jungen ganz anders. Sie brüllten und amüsierten sich und drohten ihrerseits dem ,,dreckigen Jud“ Prügel an. Er wurde von ihnen davongejagt.

 

Marianne Pincus berichtet über die Zeit unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers:

Mein Vater hatte als Regierungsrat am Finanzamt in Frankfurt gearbeitet, jedoch endete diese Tätigkeit bereits im März 1933. Er hatte meine Schwester, die für ein Jahr in ein Landschulheim nach Italien führ, zum Bahnhof gebracht, und da der Zug Verspätung hatte, war er fünf Minuten zu spät bei der Arbeit erschienen. Da wurde er von seinem Vorgesetzten mit den Worten gemaßregelt, dass er sich das nicht erlauben könne und vielmehr froh sein müsse, als Jude überhaupt noch geduldet zu sein. Mein Vater, zutiefst gedemütigt, reichte daraufhin seine Kündigung ein. Kurz darauf wurden zwar alle jüdischen Beamten entlassen, aber mein Vater, da er selbst gekündigt hatte, erhielt nur einen Bruchteil der ihm sonst zugestandenen Pension. Die Eltern waren nun in große finanzielle Schwierigkeiten geraten. Meine Großmutter mütterlicherseits, die ein gewisses Vermögen hatte, wollte die Eltern unterstützen, was diese aber nicht annehmen wollten. (...)

An ihrem Geburtstag (meiner Großmutter) im April 1933 war auf einmal alles ganz anders bei ihr. Nach der gemeinsamen Kaffeetafel wurden wir Kinder aus der Gesellschaft der Erwachsenen ausgeschlossen, denn es wurde über die furchtbaren Ereignisse nach Hitlers ,,Machtergreifüng“ gesprochen, deren Folge der Selbstmord meiner Großmutter drei Tage später war. (.. .) Meine Mutter war völlig außer sich und untröstlich, zumal sie sich auch noch in gewisser Weise schuldig am Tod der Großmutter fühlte. Das kann ich heute sehr gut verstehen.

 

Marianne Pincus berichtet über ihre Schulzeit:

Nach Hitlers ,,Machtergreifung“ im Januar 1933 war mein schönes und harmonisches Kinderdasein ziemlich abrupt beendet. Ich war damals acht Jahre alt. Auf unserem Weg zur Grundschule (damals Volksschule genannt) wurden meine jüdische Freundin und ich als Juden beschimpft und verhöhnt, man hat uns den Ranzen vom Rücken gezogen und uns manchmal auch verprügelt. Die vielen Freundinnen, die wir hatten, zogen sich allmählich von uns zurück. Es gab keine Geburtstagseinladungen mehr für uns. Unsere Klasse wurde in den vier Grundschuljahren von einer Klassenlehrerin geleitet, die alle Unterrichtsfächer erteilte. Sie kannte uns also gut und war sehr interessiert an der Entwicklung ihrer Klasse. Zu uns beiden jüdischen Kindern war sie besonders lieb. Ich nehme an, dass sie bedauerte, was geschehen war, aber sie konnte in der Schule nicht sehr viel für uns tun. Jedoch kann ich mich erinnern, dass sie meine Freundin und mich eines Tages zu sich nach Hause zum Kaffee eingeladen hat. Es war eine Geste ihres guten Willens.

1934 habe ich die Volksschule verlassen und kam auf das Gymnasium. Es war die Elisabethen-Schule. Meine Eltern konnten sich zu dieser Zeit noch nicht entschließen, mich auf die jüdische Schule, das Philanthropin, zu schicken. In der Elisabethen-Schule hatten meine Freundin und ich jedoch eine schreckliche Zeit. Wir waren von Anfang an isoliert, kein Kind wollte etwas mit uns zu tun haben. Wir hatten einen strammen Nazi als Klassenlehrer, der uns natürlich nicht mochte und links liegen ließ. Vor jeder Schulstunde standen Lehrer und Schüler auf, hoben den rechten Arm und grüßten mit ,,Heil Hitler“. Es gab zu dieser Zeit noch eine jüdische Lehrerin an der Schule. Sie stellte sich vor die Klasse und hob den Arm, ohne etwas dazu zu sagen. Die anderen Schüler amüsierten sich. Die vielen Fachlehrer, die wir nun hatten, verhielten sich unterschiedlich. Manche waren ganz nett, aber die meisten ignorierten uns jüdische Kinder.

Eines Tages war meine Freundin krank, und ich musste nun alleine zur Schule gehen. Da habe ich bitterlich geweint, weil ich ja völlig einsam war, und nun sahen meine Eltern ein, dass sie mich am jüdischen Philanthropin anmelden mussten, dasselbe taten die Eltern meiner Freundin. Dort fühlten wir uns dann sehr wohl und geborgen und fanden wieder neue Freundinnen. Allerdings war der Schulweg, der nun ziemlich weit war, für uns schlimm. Wir führen mit den Fahrrädern und sind oft von ganzen Gruppen von Hitlerjungen überfallen worden. Sie haben uns in die Straßenbahnschienen gedrängt, so dass wir mit den reifen in den Schienen hängen blieben. Wenn wir dann vom Fahrrad fielen, wurden wir oft verprügelt, und zwar mit den bewährten Gummiknüppeln, die wir schon auf dem Spielplatz kennen gelernt hatten.
Ich erinnere mich, dass ich manchmal abends, wenn ich im Bett lag, dachte: ,,Warum musst du nun gerade jüdisch sein?“ Über das Judentum wusste ich so gut wie nichts. In der Schule hatte ich bisher als ,,freireligiös“ gegolten. Meine Eltern gingen nie in die Synagoge, und ich habe zu Hause nichts über den religiösen Hintergrund des Judentums gelernt. Meine Eltern gehörten zu den vielen liberalen Juden, die froh waren, sich assimilieren zu können und sich eben als Deutsche fühlten

Dokument:

Die drei "Nürnberger Gesetze" vom 15.September 1935 - Nach dem "Reichsbürgergesetz" sind die Deutschen jüdischer Herkunft nur noch Bürger zweiter Klasse


Marianne Pincus berichtet über die ,,Reichspogromnacht“

Da sich mein Vater nicht zur Auswanderung entschließen konnte, mussten wir also die ,,Reichspogromnacht“ in Frankfürt/Main erleben, die ich in schlimmer Erinnerung habe.

Ich fuhr an diesem Tag noch morgens mit dem Fahrrad zur Schule, aber wir wurden gleich wieder nach Hause geschickt. Einige Lehrer wurden vor unseren Augen in der Schule verhaftet. Auf meinem Rückweg sah ich, dass die Synagogen brannten und der Geruch lag über der ganzen Stadt. Als ich nach Hause kam, war der Vater nicht da. Die Mutter sagte mir, dass er zu meiner Großtante, Tante Else, gefahren sei. Wahrscheinlich erhoffte er sich dort eine kleine Galgenfrist, denn Tante Else führte einen ,,männerlosen“ Haushalt, und bislang hatte die Gestapo nur auf jüdische Männer Jagd gemacht. Als jedoch die Gestapo an unsere Tür kam, rief meine Mutter bei der Tante an und mein Vater kehrte zurück. Ich nehme an, dass er Angst hatte, dass die Gestapoleute ihre Wut sonst an uns auslassen würden. Als die Männer kurz darauf wiederkamen und nach meinem Vater fragten, war er ins Badezimmer gegangen, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. Meine Schwester hinderte ihn irgendwie daran; ich weiß nicht, wie die Sache im Einzelnen verlief. Jedenfalls gab es Handgemenge und Schreie, eine fürchterliche Aufregung im Haus. Mein Vater kam dann aus dem Badezimmer und wurde von den beiden Gestapomännem abgeführt.

Diese Szene habe ich noch immer vor Augen: Unsere Reihenhäuser bildeten eine kleine Straße. Davor war ein großer Kartoffelacker und dahinter verlief die Chaussee. Man konnte von den Häusern aus sehen, wie mein Vater auf einem langen Stück der Chaussee abgeführt wurde, und viele Leute haben von ihren Fenstern aus zugesehen. Plötzlich rief meine Mutter: ,,Er hat ja gar nichts zu essen!“ Sie schmierte schnell ein paar Stullen, meine Schwester setzte sich aufs Fahrrad und fuhr hinterher. Sie gab ihm das Brot.

In unserem Nachbarhaus wohnte ebenfalls eine jüdische Familie. (...) Es waren, glaube ich recht gut situierte Leute. Der Vater war ein Geschäftsmann, und sie besaßen ein Auto, was, soweit ich weiß, damals das einzige Auto in der Siedlung war. Diese Familie war auch assimiliert und wollte mit dem Judentum gar nichts zu tun haben. Jedoch in der Pogromnacht wurde dieser Mann ebenso abgeholt. Seine Frau war total verzweifelt; sie verstand die Welt nicht mehr. Weinend saß sie stundenlang in unserer Wohnung, und meine Mutter, die etwas gefasster war, versuchte, sie ein bisschen aufzurichten. Zum Abend richtete meine Schwester eine kleine Mahlzeit, und so saßen wir Frauen und Kinder in unserer Not zusammen. Der Mann unserer Nachbarin ist nach vier Wochen im KZ ,,gestorben“ Seine Frau hat immer beteuert, dass er nie krank gewesen sei; sie konnte das Geschehene einfach nicht fassen und war am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die Gespräche mit den jüdischen Nachbarn drehten sich immer um die nächsten Schritte des praktischen Handelns: Was tun wir, wohin gehen wir, wie werden wir überhaupt weiterleben? Und dort, wo noch Hoffnung war, stand die Frage, ob und wann die Männer wieder zurückkommen werden. Man war damals noch der Meinung, dass schließlich nicht alle im KZ verbleiben könnten und dass man die Verhaftungen als Irrtum erkennen würde, da die Männer ja unschuldig waren; es mithin keine Gründe für ihre Verhaftung gäbe.

 

Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15. November 1938
betreffend den Schulunterricht an Juden

Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen. Die Rassentrennung im Schulwesen ist zwar in den letzten Jahren im Allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf deutschen Schulen übrig geblieben, dem der gemeinsame Schulbesuch mit deutschen Jungen und Mädels nunmehr nicht weiter gestattet werden kann. Vorbehaltlich weiterer gesetzlicher Regelungen ordne ich daher mit sofortiger Wirkung an:

1. Juden ist der besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zurzeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schülerinnen sofort zu entlassen.

2. Wer jüdisch ist, bestimmt § 5 der Ersten Verordnung vom 14. November 1935 zum Reichsbürgergesetz (RGB1. I S. 1333).

3. Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Pflichtschulen.

(zit. nach: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der anderen Länder 1938, S. 520 f.)

 

Dokumente:

Koblenzer Nationalblatt vom 14. November 1938 nach der "Reichspogromnacht"

Das Hetzblatt "Der Stürmer" nach den Novemberpogromen 1938

 

 

Marianne Pincus berichtet über den Kindertransport nach England:

Inzwischen hatte auch mein Vater eingesehen, dass sie wenigstens für meine Auswanderung sorgen mussten. (...) Es war inzwischen bekannt geworden, dass die englische Regierung beschlossen hatte, 10.000 jüdische Kinder in einer großen Hilfsaktion in ihrem Land aufzunehmen. Die Hilfsaktion wurde von den Quäkern organisiert. Die Kinder sollten in Heimen oder Familien untergebracht werden. Meine Eltern hofften, dass ich zu diesen ,,Glücklichen“ gehören würde. Dazu sollte ich meine Schulenglisch-Kenntnisse verbessern. Meine Lehrerin, die mir nach der Schließung meiner Schule diesen Englischunterricht erteilte, war eine ältere Dame, eine Engländerin. Sie hatte entfernte Verwandte in London, die bereit waren, ein Kind aufzunehmen, und an die sie mich empfehlen wollte. Es handelte sich um ein kinderloses, schon etwas älteres Ehepaar, mit dem meine nun eine Korrespondenz aufnahmen. Alles schien wunderbar. Wir dachten, dass ich das große Los gewonnen hätte, und mit diesen Vorstellungen wurde ich zum Kindertransport angemeldet. (...)

Der Kindertransport, der mich von Frankfurt nach London brachte, startete im April 1939 am Hauptbahnhof. Ich hatte das Glück, gemeinsam mit einer Freundin fahren zu können. Es war eine Klassenkameradin, die aus einem wohlhabenden Elternhaus stammte. Die Eltern besaßen vor 1933 ein Juweliergeschäft. Meine Freundin Lotte war ein gut aussehendes und sportliches Mädel, von vielen, auch von mir, bewundert und immer ein bisschen beneidet. In der Emigration sollte es ihr aber auch nicht besser als den meisten anderen ergehen.

Wir waren von unseren Vätern zum Bahnhof gebracht worden. Unsere Mütter waren zu diesem schweren Gang wohl nicht in der Lage. Auf dem Bahnhof habe ich meinen Vater das erste Mal in meinem Leben weinen sehen. Darüber war ich damals sehr schockiert, wusste ich doch nicht — wie er es wahrscheinlich wusste -, dass wir uns nie mehr wieder sehen würden. Traurig, aber doch mit einem gewissen Optimismus habe ich diese Reise angetreten. Ich gehörte zu den Glücklichen, die das Land unserer Peiniger verlassen konnten, und ich hatte eine Adresse, eine Familie, die mich erwartete.

Als wir über die holländische Grenze führen, liefen wir ans Fenster, öffneten es, um die ,,freie Luft“ einzuatmen

In unserem Transport jedoch waren mehrere kleine Kinder, die die ganze Zeit nach ihrer Mama weinten und oft in ihrer Angst und ihrem Kummer in die Höschen machten. Wir Älteren wuschen notdürftig die Höschen, versuchten zu trösten und aufzumuntern.

Wir hatten damit eine Aufgabe, die uns selbst auch half den tief sitzenden Schmerz durch Tätigkeit zu überwinden.

An die Fahrt über den Kanal kann ich mich gar nicht mehr erinnern. An touristischen Entdeckungen war uns nicht gelegen, unser Blick war nach innen gekehrt, d.h. auf die anderen Mitreisenden gerichtet und weniger auf die Umwelt.

 

Dokument:

Die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 HIER lesen

 

Marianne Pincus berichtet über die Ankunft in England:

An unser Ziel, London, Liverpool-Street-Station, angekommen, wurden wir in einen sehr großen, dunklen Raum geführt. Dort standen lange Bankreihen, auf denen wir Platz nahmen und warteten, bis uns jemand abholte. Das war aufregend und deprimierend zugleich. Meine Freundin Lotte und ich hielten uns an den Händen. Draußen war helles Aprilwetter und jedes Mal, wenn die Tür aufging, kam ein heller Sonnenstrahl herein, und man konnte die Leute in diesem Lichtkegel sehen. Sie zogen ihre Dokumente aus der Brieftasche und dann wurden die Namen aufgerufen. Ich war nie auf einem Viehmarkt gewesen, aber so ähnlich hatte ich mir das dort vorgestellt. Da wir die Leute in diesem Lichtkegel ziemlich gut sehen konnten, flüsterten Lotte und ich einander zu: ,,Das müssten sie sein - oder: das sollten sie nicht sein - oh, hoffentlich sind sie das — oder: sind sie das nicht.“

 Wir beide mussten ziemlich lange warten. Endlich kamen meine Leute, und sie gefielen mir. Ich wollte ja auch unbedingt, dass sie mir gefallen.

Uncle Emie und Auntrie (so sollte ich sie nennen) waren also da. Ihr Auto stand vor der Tür und als meine Koffer eingeladen wurden, fragte ich sie, ob wir nicht noch ein bisschen warten könnten, da meine Freundin noch nicht abgeholt worden sei und noch gar nicht wüsste, wohin sie käme. Meine Leute waren nett und verständnisvoll, und so warteten wir, bis Lotte herauskam.

Da stand sie nun, umgeben von sechs bis acht großen Koffern, und als die Leute, Vertreter von verschiedenen Heimen und Übergangsunterkünften, dieses Gepäck sahen, wollte keiner dieses Kind nehmen, denn sie wussten nicht, wo sie diese vielen Gepäckstücke unterbringen sollten. Auch Privatleute, die keinen bestimmten Namen kannten, sondern irgendein Kind holen wollten, schreckten vor Lottes Ausstattung zurück. Diese Szene bleibt mir unvergessen, denn schon damals erkannte ich die besondere Tragik dieser Situation. Lottes Eltern, die wohlhabende Leute waren, meinten das Beste für ihr Kind zu tun, indem sie ihm so viel wie möglich mit auf seinen Weg gaben. Unter Lottes Gepäck war eine Aussteuer von Bett- und Tischwäsche und ich weiß nicht, was sonst noch. Lottes umfangreiches Gepäck, von den Eltern als Garantie gedacht, die sie vor einem Untergang retten sollte, wurde ihr nun, in dieser Situation zumindest, zu einem Verhängnis.

Zum Schluss kam sie doch in irgendeine Massenunterkunft, und meine Leute haben ihr unsere Telefonnummer gegeben, damit sie mit uns in Kontakt treten könne, was dann auch bald geschah. Lotte blieb nicht sehr lange in der Massenunterkunft. Sie wurde von einer sehr einfachen, nicht sehr gut situierten Familie aufgenommen. Dort hatte sie alle Freiheit der Welt. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, allerdings fand sie oftmals auch nur einen leeren Kühlschrank vor. Ich hingegen lebte in einem bürgerlichen Haus mit radierten Ritualen, sehr behütet und ständig bevormundet. Aus ganz unterschiedlichen Gründen waren wir beide ziemlich unglücklich.

 

Marianne Pincus berichtet über das Ende ihres England-Aufenthalts :

Unsere Existenz in England hatte eigentlich immer den Charakter eines Provisoriums und dessen waren wir uns auch bewusst. Wir waren froh und dankbar, dass uns das Land aufgenommen hatte und wir dort recht unbehelligt und unbeschadet den Krieg überdauern konnten. Obwohl man ja auch hier von Fliegeralarm und Bomben nicht ganz verschont blieb, lebten wir — gemessen an dem, was Menschen anderenorts in dieser Zeit ertragen mussten — sehr gut. Zwar war unser Lebensstandard sehr bescheiden und am Monatsende blieb weder ein Penny noch eine Essensmarke übrig, doch wir hungerten nicht und sind auch nicht erfroren.

Besonders von 1943 an, nach der deutschen Niederlage bei Stalingrad, war unser Blick auf das Ende des Krieges gerichtet und auf eine bessere Zeit, die dann kommen würde, deren Konturen allerdings noch reichlich nebulös waren. Die Hoffnung auf das künftige bessere Leben hat uns viel Kraft verliehen und geholfen, die gegenwärtigen Härten und Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem gab es auch in Kriegszeiten und Emigration das ganz normale tägliche Leben, und das hatte, vor allem für uns junge Leute, neben vielen Sorgen auch viele Freuden. Wir hatten unsere tägliche Arbeit, ab und zu dafür auch eine verbale Anerkennung, nette Kollegen, gute Freunde, allerdings fast nur unter Emigranten, Veranstaltungen des deutschen Kulturbundes, später auch der Freien Deutschen Jugend (FDJ), es gab schöne Frühlingstage und die wieder erwachende Natur, Liebeleien und Liebe.

Im Sommer 1943 lernte ich Jochen Weigert kennen, den ich im Dezember des Jahres heiratete und der in den sieben gemeinsamen Jahren, die wir bis zu seinem tödlichen Autounfall vor uns hatten, meine ganz große Liebe blieb. Mit unseren beiden kleinen Töchtern verließen wir im Sommer 1947 unser Gast- und Zufluchtsland England, um in Deutschland den demokratischen Wiederaufbau zu unterstützen. Wir meinten, dass es unsere Pflicht sei und wir dort gebraucht würden.

 

Eine Bilderstrecke zu Marianne Pincus:

 

 

 

 

Lesen Sie folgend den Aufsatz von Joachim Hennig: Die jüdische Juristenfamilie Brasch, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 34. Jg. (2008), S. 525 - 545

 
Die jüdische Juristenfamilie Brasch
 
I. Vor 75 und vor 70 Jahren (1933 und 1938)

„Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Dieser prophetische Satz Heinrich Heines gewinnt im Jahr 2008 ganz besondere Bedeutung. Die Ereignisse der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 sowie der Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 haben sich zum 75. Mal gejährt und am 9. November gedenken wir der 70. Wiederkehr der Novemberpogrome von 1938.
Nach den tödlichen Schüssen des 17-jährigen Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf den Legationsrat Ernst vom Rath in Paris rief der Reichspropagandaminister Josef Goebbels mit Einverständnis Hitlers zu „spontanen Vergeltungsaktionen“ gegen „die Juden“ auf. SA, SS und Gestapo wurden mobilisiert. Überall im Reich brannten die Synagogen. Das Ergebnis war auf furchtbare Weise eindrucksvoll: Mehrere hundert Synagogen waren abgebrannt, ca. hundert demoliert, mindestens 8.000 Geschäfte von Juden waren zerstört und zahllose Wohnungen verwüstet. Dazu kamen Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und andere jüdische Einrichtungen. Der materielle Gesamtschaden lag schätzungsweise bei mehreren hundert Millionen Mark. Eine nicht feststellbare Zahl von Juden war schwer misshandelt und verletzt worden. Rund 100 Juden hatten den Tod gefunden. 20.000 bis 30.000 Männer nahm die Gestapo fest und verschleppte sie in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen, dort kamen in den Wochen nach dem Pogrom auch noch hunderte ums Leben.
Auch in Koblenz, wo damals noch ca. 500 Juden lebten, wüteten die Nazis. Zerstört wurden ab dem Morgen des 10. November 1938 13 Geschäfte und 36 Wohnungen, jüdische Mitbürger wurden misshandelt. Trupps zerstörten die Synagoge am Florinsmarkt, in Brand gesteckt wurde sie allerdings nicht – die Nachbarhäuser sollten nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber der Friedhof wurde geschändet und die Leichenhalle verwüstet. Etwa 100 Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald verschleppt. All dies geschah in Koblenz. Aber nicht nur hier, sondern auch in dessen Umgebung: in Ahrweiler, Andernach, Bad Ems, Bad Neuenahr, Boppard, Engers, Höhr-Grenzhausen, Kamp, Kobern, Linz, Montabaur, Mülheim, Münstermaifeld, Nassau, Nastätten, Niederbieber, Oberbieber, Niedermendig, Ober- und Niederlahnstein, Ochtendung, St. Goar, Sinzig, Unkel, Vallendar, Westerburg usw. usf., im Koblenzer Raum in ca. 50 Orten – und überall in Deutschland, ohne dass sich Entsetzen, Mitleid oder Widerstand manifestierte.
Diese Gewaltakte, Willkür, diese Angst und dieser Schrecken sind heute nur schwer erfahrbar zu machen. Oft bleibt das Wissen darum auf bloße Zahlen beschränkt und damit abstrakt und anonym. Ansatzweise erfahrbar werden diese Untaten und das, was ihnen vorausging und ihnen noch folgte, anhand von Biografien. Solche Lebensschicksale machen zudem deutlich, welchen Zivilisationsbruch der Nationalsozialismus bewusst und gezielt betrieben hat. Sie zeigen auch, was Faschismus und insbesondere Rassismus für Menschen bedeutet, die anders sind. Und all dies geschah nicht irgendwo, sondern hier bei uns, an unseren – wie man heute zu sagen pflegt – jüdischen Mitbürgern.


II. 80 Jahre aus der Geschichte der Familie Brasch (1864-1944)

1. Die Jahre der Emanzipation der Juden (1869-1932)

Solche Menschen waren die Eheleute Dr. Isidor und Emma Brasch und deren Söhne Ernst (mit seiner Frau Else) und Walter (mit seiner Frau Irma) – hoch geachtete Bürger von Koblenz, bis sich der latente Antisemitismus zum Rassenwahn steigerte und die Nazis und ihre vielen, viel zu vielen Helfer sie zum „Auswurf der Menschheit“ machte, sie in Resignation und Tod trieb und dann auch ermordete.
Begründer der juristischen Tradition in der Familie Brasch war Isidor Brasch. Er wurde am 28. November 1864 weit weg von den Rheinlanden geboren. Zur Welt kam er in Janowitz (Janowiec), einem 300 Seelen Dorf im Kreis Wongrowitz (Wongrowiec) am Nordrand der Provinz Posen, die damals zum Königreich Preußen gehörte. Dieses Gebiet war Jahrhunderte lang ein Zankapfel zwischen Deutschland und Polen. Nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress war es von 1815 bis 1918 preußisch und ab 1871 Teil des neu gegründeten Deutschen Reiches. Von Isidor Braschs Familie wissen wir nichts außer der Tatsache, dass sein Vater Lehrer war.
Fünf Jahre später, damals dürfte Isidor Brasch kurz vor seiner Einschulung gestanden haben, erging für den Norddeutschen Bund, in dem Preußen führend war, ein Gesetz das seinen Lebensweg entscheidend mitprägen sollte: Das „Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ vom 3. Juli 1869. 80 Jahre waren inzwischen seit der Französischen Revolution vergangen, aus deren Geist („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) Dekrete ergangen waren, die für die Juden ganz Frankreichs alle Unterschiede den anderen Bürgern gegenüber beseitigt hatten und die ab 1801 auch in den vier linksrheinischen Departements galten. Und selbst 60 Jahre waren nach den Emanzipationsedikten mancher deutscher Staaten verstrichen. Erst jetzt hob dieses Gesetz mit einem Schlag alle früher gegen die Juden erlassenen Ausnahmegesetze auf, stellte sie in allen Beziehungen und Rechtsverhältnissen den Christen gleich und verordnete endlich die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung rechtsförmlich in einem einzigen Artikel fest: Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hiermit aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein. Nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde dieses Gesetz sodann als Reichsgesetz übernommen. So wurde mit einem Federstrich des Gesetzgebers – in einem einzigen Satz – die Judenemanzipation in Deutschland von Gesetzes wegen postuliert. Es war ein später Sieg des Liberalismus.
Mit 17 Jahren, im Jahr 1882, beendete Isidor Brasch seine Schulzeit mit dem Abitur. Im gleichen Jahr begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) zu Berlin.
Während seiner Schulzeit war ein weiteres Gesetz, das die Studienwahl und spätere Berufsperspektive Isidor Braschs und anderer junger Juden jener Zeit ebenfalls stark beeinflusst hatte: die Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878. Sie führte die so genannte freie Advokatur ein, so wie wir heute den Status des Rechtsanwaltsberufs und beseitigte die Staatsnähe der Rechtsanwaltschaft. Denn in der Zeit zuvor übte der Advokatanwalt – jedenfalls in Preußen – keinen freien Beruf aus, sondern er war ein Beamter. Mit der Rechtsanwaltsordnung von 1878 wurde der Beruf des Rechtsanwalts staatsunabhängig und dies machte ihn interessant für den jüdischen Nachwuchs. Zugleich sah die Rechtsanwaltsordnung die Bildung von Anwaltskammern als weitgehend unabhängige berufsständische Körperschaften vor.

Abgangszeugnis der Friedrich-Wilhelms-Universität für Isidor Brasch, 1885 (Foto Humboldt-Universität) HIER lesen

Nach sechssemestrigem Studium legte der 20-jährige Isidor Brasch am 29. Mai 1885 die erste juristische Staatsprüfung beim Kammergericht in Berlin ab. Kaum hatte der junge Brasch die erste Etappe auf dem Weg zum „Volljuristen“ erreicht, zog es ihn weiter nach Westen. Bereits am 20. Juni 1885 wurde er als Referendar in den Justizdienst beim Oberlandesgericht Frankfurt/Main eingestellt. Dieser Umstand ist umso bemerkenswerter, als damals der Referendardienst unentgeltlich zu verrichten war. Man musste also schon über gewisse Geldmittel verfügen bzw. auf die finanzielle Unterstützung des Vaters zählen können, um überhaupt und gerade auch in weiter Entfernung von den Eltern studieren zu können. Deutlich wird das auch daran, dass der künftige Referendar bei seiner Einstellung nachweisen musste, über einen standesgemäßen Unterhalt zu verfügen. Die entsprechenden wirtschaftlichen Verhältnisse und deren Nachweis waren also eine objektive Zulassungsvoraussetzung zum Eintritt in den Staatsdienst als Referendar.
Die anschließende vierjährige Referendarzeit nutzte Isidor Brasch, um zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert zu werden. Am 27. November 1889 bestand er vor der Königlichen Justiz-Prüfungskommission in Berlin die Zweite juristische Staatsprüfung. Schon wenige Tage später, am 3. Dezember 1889, wurde er zum Gerichtsassessor ernannt und dem Amtsgericht Camberg/Taunus als Hilfsrichter zugewiesen.

Damit war Isidor Brasch einer der jungen jüdischen Juristen, die mittlerweile – 20 Jahre nach dem Gleichberechtigungsgesetz von 1869 – den Richterberuf ergriffen hatten. Deren Zahl nahm kontinuierlich zu, erreichte in den 1890er Jahren mehr als 4% und lag damit deutlich über dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung, der recht konstant 1% betrug.
Allerdings war eine solche Gerichtsassessorenstelle nicht der „berufliche Himmel“. Die Gerichtsassessoren hatten ganz allgemein in den ersten Berufsjahren ohne Bezahlung zu arbeiten. Entgelt erhielten sie erst, wenn sie planmäßig angestellt wurden – das konnte aber viele Jahre dauern. Recht unattraktiv war der Richterberuf gerade für die Juden in dieser Zeit des Kaiserreichs aber auch deshalb, weil sie fast ausnahmslos nur untere Richterstellen (die eines Amts- oder Landrichters) erreichen konnten. Erst im Jahre 1890 wurde in Preußen ein ungetaufter Jude zum Oberlandesgerichtsrat befördert. Wegen dieser schlechten Berufsaussichten erstrebten viele qualifizierten jüdischen Assessoren keine Stelle im Justizdienst – jedenfalls nicht auf lange Sicht.

So war es auch bei Dr. Isidor Brasch. Er ließ sich zunächst als Hilfsrichter einstellen und sammelte Berufserfahrung, um dann aus dem Justizdienst auszuscheiden und sich zum 1. Dezember 1890 als Rechtsanwalt in Mayen niederzulassen. Der Beruf des Rechtsanwalts war nach der Einführung der freien Advokatur im Jahr 1878 für viele jüdische Juristen interessant. Deutlich wird dies auch an den Zahlen: Ab den 1890er Jahren waren stets etwas mehr als ein Viertel aller Rechtsanwälte in Preußen jüdischer Herkunft – ein sehr hoher Prozentsatz im Vergleich zum Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung.
Warum sich Isidor Brasch gerade in Mayen niederließ, ist nicht bekannt. Das hatte wohl nichts mit einer familiären oder religiösen Bindung (zu einer jüdischen Gemeinde dort) zu tun gehabt, sondern wohl eher mit der Berufsperspektive vor Ort. Vielleicht erschienen ihm die Anwaltsdichte dort und die Wirtschaftstruktur des Mayener Landes sowie die Nähe zu Koblenz günstig. Seine Zulassung beschränkte sich übrigens auf das Amtsgericht Mayen und nicht – wie heute üblich – zugleich auch auf die beim übergeordneten Landgericht Koblenz. Für die Zulassung beim Landgericht bedurfte es einer besonderen Gestattung, die das Preußische Justizministerium Dr. Isidor Brasch noch im Jahr 1895 versagte, da eine solche gleichzeitige Zulassung nach dem Gutachten des Vorstandes der Anwaltskammer dem Interesse der Rechtspflege für förderlich nicht zu erachten ist.
Wenn auch der Anfang als Rechtsanwalt in Mayen für Isidor Brasch sicherlich schwierig war, so erzielte er – im Gegensatz zum Gerichtsassessor – doch ein Einkommen und konnte dies im Laufe der Zeit erhöhen. Damit konnte er inzwischen eine Familie ernähren. So heiratete er die drei Jahre jüngere Emma May, die aus Camberg stammte, in Mayen. Aus dieser Ehe gingen der am 28. Oktober 1891 geborene Sohn Ernst und der am 19. April 1896 geborene Sohn Walter hervor. Als die beiden Söhne bereits zur Schule gingen, zog die Familie von Mayen nach Koblenz um. Grund dafür war, dass Dr. Isidor Brasch im Jahr 1901 seine Zulassung auch beim Landgericht Koblenz erhielt und Koblenz als Sitz der Kanzlei dann günstiger erschien.
 
 


Abb.: Dr. Isidor und Emma Brasch, um 1930 (Foto privat)


Die beiden Söhne besuchten in Koblenz das damals noch Königliche Kaiserin-Augusta-Gymnasium (heute: Görres-Gymnasium). Dort legte der ältere Sohn Ernst im Jahr 1908 sein Abitur ab, der jüngere Sohn Walter folgte im Jahr 1914. Beide Söhne entschieden sich für das Jurastudium. Diese Entscheidung fiel dem älteren Sohn Ernst wahrscheinlich schwer, denn er spielte gern und gut Klavier und hätte eigentlich Musikwissenschaften studieren wollen. Seine Eltern sahen aber ein solches Studium als nicht standesgemäß an und drängten ihn zum Studium der Rechtswissenschaften. Dieses Studium fiel ihm aber – so ungeliebt es (zunächst) war – leicht. Denn schon am 30. Mai 1912 legte er das Erste juristische Staatsexamen beim Oberlandesgericht in Köln mit der Note „gut“ ab. Anschließend begann er mit der Ausbildung zum Referendar. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden Ernst und Walter Brasch alsbald Soldat. Walter wurde verwundet und kam 1917 in ein Kriegslazarett, Ernst wurde das Eiserne Kreuz III. Klasse verliehen.
Nach Genesung und Krieg machten die beiden da weiter, wo sie zuvor hatten unterbrechen müssen: Ernst Brasch setzte seine Ausbildung als Referendar fort und legte am 6. Februar 1917 wiederum mit der Note „gut“ das Zweite juristische Staatsexamen ab – anschließend war er Gerichtsassessor beim Amtsgericht Koblenz und nahm für seinen Vater die Urlaubsvertretung als Rechtsanwalt in Koblenz wahr. Walter Brasch war wieder Student, zuerst in an der Universität Frankfurt/Main, dann an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn; am 25. September 1920 beendete er sein Studium mit dem Ersten juristischen Staatsexamen beim Oberlandesgericht Köln – einen Monat später wurde er Referendar.
Dem Vater Dr. Isidor Brasch war inzwischen der Ehrentitel „Justizrat“ verliehen worden. Jüdische Rechtsanwälte waren in jener Zeit nicht nur als solche tätig, sondern viele von ihnen auch wissenschaftlich und publizistisch engagiert. Wegbereiter waren sie gerade auf neuen Rechtsgebieten, dem Handels- und Scheckrecht, dem Arbeitsrecht u.a. Außerdem waren sie vielfach Herausgeber juristischer Zeitschriften. Die Juristische Wochenschrift, die das Organ des deutschen Anwaltsvereins war und heute noch als Neue Juristische Wochenschrift (NJW) eine der wichtigsten Fachzeitschriften ist, hatte von 1879 bis 1933 immer einen jüdischen Rechtsanwalt als Schriftleiter. Schließlich waren in jener Zeit jüdische Anwälte und Notare auch Repräsentanten der Anwalts- und Notarvereine. Von 1909 bis zu seinem Tod im Jahre 1920 leitete ein jüdischer Rechtsanwalt den deutschen Rechtsanwaltsverein. Sein Nachfolger, der bis 1932 den Vorsitz innehatte, stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie. In der Standesvertretung der Rechtsanwälte war offenbar auch Dr. Isidor Brasch tätig, denn für ein solches Engagement wurde der Ehrentitel „Justizrat“ verliehen.
Inzwischen hatte Ernst Brasch die drei Jahre jüngere Else Seligsohn geheiratet und war Verwaltungsbeamter in Wiesbaden geworden. Der Umzug nach Wiesbaden war wohl darauf zurückzuführen, dass seine Frau aus Wiesbaden stammte. Aus der Ehe gingen die beiden Mädchen Dorothea (geb. 1920) und Marianne (geb. 1924) hervor.


Abb.: Ernst und Else Brasch, um 1930 (Foto privat)

Wie sein Vater wurde Walter Brasch während seiner Referendarzeit promoviert, und zwar am 12. April 1922 an der Universität in Frankfurt/Main. Am 11. Juni 1925 legte er die Zweite juristische Staatsprüfung beim Oberlandesgericht Köln ab. Anschließend ernannte man ihn zum Gerichtsassessor und beschäftigte ihn als Hilfsrichter.
Anfang 1926 schied Walter Brasch – wie früher sein Vater – aus dem Justizdienst aus und ließ sich als Rechtsanwalt beim Amts- und Landgericht Koblenz nieder. Er arbeitete in der Rechtsanwaltskanzlei seines Vaters in einer wunderschönen Villa in der Rizzastraße 40 (heute: Rizzastraße/Ecke Bahnhofstraße, u.a. auf diesem Grundstück befindet sich heute der Hauptsitz der Sparkasse Koblenz). Einige Zeit später wurde Dr. Isidor Brasch dann auch noch als Rechtsanwalt beim Amtsgericht Koblenz zugelassen.

 

Abb.: Dr. Walter und Irma Brasch, um 1930 (Foto privat)

Im Juli 1931 heiratete auch Dr. Walter Brasch. Er vermählte sich mit seiner 12 Jahre jüngeren aus Straubing/Bayern stammenden Frau Irma, geb. Silber.     


2. Die Jahre der Diskriminierung, Entrechtung; Verfolgung und Ermordung (1933-1944)

Dann brach über die jüdische Juristenfamilie Brasch 1933 der Nationalsozialismus mit seinem Rassenwahn herein.
Das erste Opfer – schon früh im Jahr 1933 – war Ernst Brasch. Er war inzwischen Regierungsrat beim Finanzamt in Frankfurt/Main geworden. Seine berufliche Existenz als Jurist wurde zu dieser Zeit, zu der die Nazis kaum überall die Macht an sich genommen hatten, noch mit seinem eigenen Zutun vernichtet. Dazu kam es nach der Schilderung seiner Tochter Marianne wie folgt: Vor Dienstbeginn hatte mein Vater eine Verwandte noch zum Bahnhof gebracht. Dadurch kam er einige Minuten zu spät. Sein Chef bemerkte dies und stellte ihn zur Rede. Als mein Vater ihm die Situation erklären wollte, gab dieser zur Antwort: „Sie als Jude können froh sein, dass Sie hier überhaupt noch arbeiten dürfen.“ Das hat meinen Vater so gekränkt, dass er umgehend um seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis – er war ja Regierungsrat – nachgesucht hat.
Dieser Auftritt von Braschs Chef entsprang nicht irgendeiner Laune, sondern war offizielle Politik. Schon eine Woche nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 waren die Juristen Ziel antisemitischer Unruhen. Das begann am 12. März 1933, als SA-Leute das Landgericht Breslau besetzten und Verhandlungen unterbrachen, in denen jüdische Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. Nur zwei Tage später verlangte der „Bund nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ auf einer Versammlung in Leipzig, kein Jude dürfe im Dritten Reich als Richter, Notar oder Rechtsanwalt tätig sein. Danach sollten alle deutschen Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht von Richtern und Beamten „fremder Rasse“ unverzüglich gesäubert werden, sofort eine Zulassungssperre für Rechtsanwälte „fremder Rasse“ an deutschen Gerichten in Kraft treten, bestehende Zulassungen für „Angehörige fremder Rasse weiblichen Geschlechts“ unverzüglich aufgehoben werden und anderes mehr. Für den 1. April 1933 hatte die NSDAP den Boykott „jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte“ propagiert. Das war die erste öffentliche Aktion zur Demonstration des Antisemitismus in Deutschland.
Schon wenige Tage später setzte die Entrechtung der Juden durch Gesetze und Verordnungen fort. Grundlegend war das Gesetz mit dem zynischen Titel „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Mit ihm ging es nicht etwa um die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, sondern genau um das Gegenteil: um die Vertreibung missliebiger Staatsdiener aus ihrem Beruf. Das Gesetz richtete sich zum einen (in § 4) gegen politische Gegner des NS-Regimes, das traf vor allem Sozialdemokraten und exponierte Anhänger der parlamentarisch-demokratischen Reichsverfassung. Und zum anderen bestimmte es (in § 3), dass Beamte „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand zu versetzen sind. Diesem Gesetz, das 60 Jahre nach dem Gleichberechtigungsgesetz von 1869/71 mit einem Federstrich das Ergebnis der Judenemanzipation beseitigte, wäre aller Voraussicht nach auch Ernst Brasch zum Opfer gefallen. Mit seinem „freiwilligen“ Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis war er – wie sich im Nachhinein herausstellte – seiner Versetzung in den Ruhestand nur zuvorgekommen.
Diese Maßnahmen hatten aber für Ernst Brasch noch schlimmere Konsequenzen – Konsequenzen, die er bei seinem Antrag auf Entlassung aus dem öffentlichen Dienst nicht wissen konnte. Denn am selben Tag wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erging das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“. Dies übernahm den im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ enthaltenen „Arierparagrafen“ und gestattete nur Juristen „arischer“ Abstammung eine Zulassung zur Anwaltschaft. Offensichtlich hatte Ernst Brasch nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst die Absicht, sich – wie sein Vater und sein jüngerer Bruder – als Rechtsanwalt niederzulassen. Diese Perspektive hatte ihm das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ verbaut. Wie verheerend diese beiden Gesetze für Ernst Brasch und seine Familie waren, macht exemplarisch der Umstand deutlich, dass einen Tag nach Ergehen dieser Regelungen seine Schwiegermutter Selbstmord beging.
Auch Dr. Walter Brasch unterfiel diesem Gesetz. Er bemühte sich noch um eine Ausnahmeregelung. Denn „Frontkämpfer“ sollten weiter praktizieren können und er verwies darauf, Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und sogar verwundet worden zu sein – aber vergebens. Unter dem 13. Juli 1933 wurde seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zurückgenommen und eine Woche später wurde er aus der Liste der zugelassenen Rechtsanwälte gelöscht.

Allein Dr. Isidor Brasch konnte in seinem Beruf weiter arbeiten. Er war zwar kein „Frontkämpfer“, aber da er vor dem 1. August 1914 als Rechtsanwalt zugelassen worden war, galt er als „Alt-Anwalt“. Für diesen Personenkreis sah das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in § 3 Abs. 2 ebenfalls eine Ausnahmeregelung vor. Gleichwohl war die Situation für die Rechtsanwälte, die wie Dr. Isidor Brasch weiter praktizieren durften, sehr bedrückend. Als Teil der Gesellschaft erlebten sie die fortschreitende Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung mit. Zudem wurde gerade auch ihre Anwaltstätigkeit rein tatsächlich und legislatorisch immer mehr eingeschränkt. So durften Angeklagten keine jüdischen Rechtsanwälte als Armenanwälte beigeordnet werden, Gemeinden und staatliche Stellen beauftragten keine jüdischen Rechtsanwälte mehr zur Wahrnehmung ihrer Interessen und zur Prozessvertretung, von allen Seiten gab es sozialen Druck auf „Arier“, keine jüdische Rechtsanwälte mehr zu konsultieren, und die jüdische Mandantschaft ging auch zurück, da die Ausgrenzung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und die Beschränkungen des Rechtsschutzes auch hier ihre Folgen zeigten.
Infolgedessen wanderten immer mehr jüdische Juristen aus. Viele blieben aber auch in Deutschland und resignierten hier. Einer von ihnen war Dr. Isidor Brasch. Am 13. September 1935 – zwei Tage vor Erlass der „Nürnberger Gesetze“ – gab er seine Zulassung als Rechtsanwalt zurück und wurde in der Liste der zugelassenen Rechtsanwälte gelöscht.
Zu jener Zeit war wenigstens Dr. Walter Brasch noch juristisch tätig. Zwar war ihm im Sommer 1933 die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entzogen worden, jedoch konnte er außergerichtlich und zu niedrigeren Gebühren noch rechtsberatend tätig werden. Auch diese – ohnehin bescheidene – berufliche Tätigkeit wurde ihm im Zuge der „Nürnberger Gesetze“ genommen.
Das wichtigste Gesetz, das „Reichsbürgergesetz“, das fortan die Grundlage für die Rassenpolitik des NS-Regimes bildete, konstruierte einen Unterschied zwischen Staatsangehörigen und „Reichsbürgern“. Der entscheidende Satz in § 2 dieses Gesetzes lautete: Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen. Mit dieser Formel ließen sich Juden und andere Unerwünschte aus der Gemeinschaft der vollberechtigten Bürger auch juristisch ausgrenzen.
Vor diesem Hintergrund erging bald darauf das „Gesetz zur Verhütung von Missbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung“ vom 13. Dezember 1935. Es machte die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten, die Erteilung von Rechtsrat und die Einziehung von Forderungen – also auch die außergerichtliche juristische Tätigkeit – abhängig von einer Erlaubnis. Die hierzu am gleichen Tag ergangene Ausführungsverordnung stellte dazu in § 5 lapidar fest: Juden wird die Erlaubnis nicht erteilt.
Damit war auch Dr. Walter Brasch jegliche juristische Tätigkeit verboten. Er sah keine Perspektive mehr und verließ daraufhin Anfang 1936 mit seiner Ehefrau Irma und seinem 1933 geborenen Sohn Peter Deutschland. Sie begaben sich nach Straßburg/Elsass. Dort kam ihre Tochter Ilse Erika zur Welt. Alsbald zogen die Eheleute mit ihren beiden Kindern weiter nach Amsterdam/Holland.
Der Umzug nach Amsterdam war noch verhältnismäßig wenig einschneidend: Das Leben in der Vorkriegszeit war dort noch erträglich, die Sprache war dem Deutschen ähnlich, viele deutsche Firmen hatten ihre Niederlassungen in Holland und allein in Amsterdam gab es 80.000 Juden. Gleichwohl gelang es Walter Brasch und seiner Familie nicht, eine wirtschaftlich sichere und menschlich befriedigende Existenzgrundlage aufzubauen. Er war auch gar nicht in seinem bisherigen Berufsfeld tätig, sondern betrieb in Amsterdam ein Antiquariat. Möglicherweise war das „Klima“ für einen deutschen Juristen in Amsterdam so rau, dass der sicherlich sensible Walter Brasch, der eigentlich lieber Musiker als Jurist geworden wäre, in den Niederlanden keine adäquate Position mehr erreichte. Für ihn und seine Familie bedeutete die Abwanderung nach Holland einen deutlichen sozialen und finanziellen Abstieg.
Wenig später, am 31. Juli 1936, starb Justizrat Dr. Isidor Brasch in Koblenz. Er hinterließ seine Witwe Emma, die nach seinem Tod dann allein im Haus Rizzastraße 40 lebte.
Gut zwei Jahre später erlebte und erlitt Emma Brasch in diesem Haus am 9. November 1938 den Novemberpogrom, den die Nazis „Reichskristallnacht“ nannten. Eine ganze Horde Nazis fiel in das Haus ein und demolierte es. Bereits im Eingangsbereich rissen die Männer die Kacheln von den Wänden und beschädigten das Treppenhaus. Ihre Verwüstung setzten sie in der Wohnung fort, in der sie die 71-jährige Emma Brasch allein antrafen. Die Nazis zerhackten einen großen Teil der Möbel, und plünderten den Inhalt von Schränken. Die entsetzte alte Dame zerrten sie aus der Wohnung, schleppten sie in den Garten, sperrten sie dort ein und machten von ihr, im Nachthemd, ein Foto – um es später im Hetzblatt „Der Stürmer“ zu veröffentlichen und damit die Juden insgesamt lächerlich zu machen.  
Auch die Familie ihres Sohnes Ernst war Opfer des Novemberpogroms dort. Was sich an diesem Tag der „Reichspogromnacht“ bei den Braschs in Frankfurt/Main ereignete, schilderte die Tochter Marianne später so: Am 9. November 1938 bin ich wie immer mit dem Fahrrad zum Philantropin, dem jüdischen Gymnasium in Frankfurt/Main, gefahren. Noch bevor der Unterricht begonnen hatte, wurden unsere männlichen Lehrkräfte vor den Augen der Schüler verhaftet. Wir wurden nach Hause geschickt, ohne zu wissen, dass dies unser allerletzter Schultag sein sollte. Auf meinem Nachhauseweg sah ich den Qualm brennender Synagogen aufsteigen.
Meine Mutter empfing mich mit sehr besorgter Mine und sagte, dass schon mehrmals uniformierte Männer geklingelt hätten, dass sie nach dem Vater gefragt hatten, der aber nicht zu Hause sei. Als der Vater zurückkam, verschwand er im Badezimmer, und ich vernahm kurz darauf ein ziemliches Geschrei. Wie ich später erfuhr, hatten meine Mutter und meine ältere Schwester versucht, ihn daran zu hindern, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Fast zur selben Zeit klingelte es Sturm an unserer Haustür. Mein Vater wurde abgeholt, und ich sah, wie er von zwei Uniformierten wie ein Verbrecher abgeholt wurde. Da sie eine lange, noch unbebaute Straße lang liefen, konnten viele Nachbarn von ihren Fenstern aus das Schauspiel beobachten. Plötzlich fiel meiner Mutter ein, dass mein Vater noch nichts gegessen hatte. Sie schmierte schnell ein paar Stullen, meine Schwester schwang sich aufs Fahrrad und brachte sie ihm.  
Am späteren Nachmittag kam unsere jüdische Nachbarin mit ihrer Tochter. Ihr Mann war ebenfalls abgeholt worden, und sie war völlig fassungslos und weinte ununterbrochen. Bereits wenige Wochen danach erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann gestorben sei. Er war etwa 40 Jahre alt und sei, wie sie beteuerte, nie krank gewesen.
Ernst Brasch und sein Nachbar in Frankfurt waren zwei von rund 30.000 jüdischen Männern in ganz Deutschland, die beim Novemberpogrom festgenommen wurden, um dann in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt zu werden. Ganz bewusst wurden besser situierte Männer verhaftet. Diese zeitlich begrenzte „Aktion“ diente (noch) nicht der physischen Vernichtung, sondern „nur“ der Einschüchterung und Pression zur Auswanderung. Mit vielen anderen Männern brachte man Ernst Brasch ins Konzentrationslager Buchenwald. Nach einigen Wochen und der Erklärung, auswandern zu wollen, kam er schließlich wieder frei.
Wenn dieser Aufenthalt im Konzentrationslager auch „nur“ einige Wochen gedauert hat, so hinterließ er bei vielen Menschen und gerade auch bei dem sehr sensiblen Ernst Brasch tiefe Spuren. Die ganz unvorhergesehene und hochdramatische Situation bei der Festnahme und die menschenunwürdige Verschleppung und die erniedrigende Behandlung in einem Konzentrationslager waren für Menschen, die einen ganz anderen Lebenszuschnitt und eine „gut bürgerlich“ geprägte Existenz hatten, eine Katastrophe.
Kaum war Ernst Brasch verhaftet, erhielt seine Familie die Kündigung der gemeinsamen Mietwohnung zum 1. Dezember 1938. In ihrer Not fanden Else Brasch und ihre beiden Töchter Aufnahme in der Wohnung ihrer verwitweten Schwester. Als sie gerade den Umzug bewältigt hatten und sie die Entlassung des Ehemannes und Vaters aus dem Konzentrationslager planten, wurden sie mit einem neuen und aberwitzigen Problem konfrontiert: Ernst Braschs Schwägerin beschäftigte in ihrem Haushalt eine „arische“ Haushaltshilfe. Mit ihr konnte der aus dem KZ freikommende Ernst Brasch nicht in einem Haushalt leben. Dem stand ein anderes „Nürnberger Gesetz“, das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 entgegen. Es regelte in § 3: „Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.“ Bei dieser Rechtslage blieb ihm nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager nichts anderes übrig, als anderenorts ein kleines Pensionszimmer anzumieten und dort tatsächlich auch zu wohnen. Diese Situation war umso schlimmer, als Ernst Brasch aus dem KZ in völlig verstörtem Zustand zurückkehrte.
Für seine Familie war die Situation aber unerträglich und sie war nicht bereit, sich damit abzufinden. Bald ging man daran, die Flucht aus Deutschland vorzubereiten. Die jüngere Tochter Marianne war die erste, die Deutschland verließ. Sie entkam in einer von Quäkern initiierten und organisierten Sonderaktion, die 10.000 jüdischen Kindern die Flucht nach England ermöglichte, im April 1939 auf die britische Insel. Else Brasch konnte sich noch nicht zur Flucht entschließen. Sie harrte bei ihrem Ehemann aus und bemühte sich, ihn ebenfalls zur Auswanderung zu bewegen. Das war aber vergebens: Seit seiner KZ-Haft war er ein „gebrochener Mann“ und antriebsschwach. Er sah für sich in einer Auswanderung keine Perspektive und ließ die sich bietenden Chancen ungenutzt. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Flucht allein für sich zu organisieren. Geradezu in letzter Minute bemühte sie sich um ein Visum für England und erhielt dann auch ein solches für eine Arbeit als Hausangestellte. Anfang September 1939 – inzwischen hatte Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfacht – reiste sie mit dem letzten Flugzeug, das von Deutschland nach England verkehrte, aus. Ihre ältere Tochter Dorothea, die inzwischen geheiratet hatte, floh als letzte. Ihr Ehemann – ein so genannter Halbjude – hatte zuvor allein und illegal Deutschland im September 1939 verlassen und war über London in die USA ausgereist. Im Wege der Familienzusammenführung erhielt seine Ehefrau noch im Jahr 1940 ein Visum für die USA und reiste zu ihrem Mann aus.
Ernst Brasch blieb mit dem geliebten Hund allein zurück. Seine Mutter hatte inzwischen das Haus in Koblenz verlassen und war zu ihrem Sohn nach Frankfurt/Main gezogen. Von England aus bemühte sich seine Frau Else noch, über den in Holland lebenden Walter Brasch etwas für Ernst zu erreichen. Aber auch das blieb erfolglos.
Inzwischen war es ohnehin für eine Flucht zu spät. Bereits am 23. Oktober 1941 erging das offizielle Verbot der Auswanderung jüdischer Staatsbürger aus dem Deutschen Reich. Noch im selben Monat ergingen zwei Deportationsbefehle für Massentransporte deutscher Juden „in den Osten“. In mehreren Großstädten Deutschlands wurden dazu die Vorbereitungen getroffen. So auch in Frankfurt/Main. Dort wurde seit einiger Zeit eine Namensliste aller jüdischen Gemeindemitglieder erstellt. Es ging das Gerücht, dass sie Grundlage von Deportationen sein soll. Am 19. Oktober 1941 begann die Aushebungsaktion. Am frühen Morgen drangen SA-Leute in die Wohnungen von Juden ein und erfassten deren Vermögenswerte. Am helllichten Tag wurde eine „Judenprozession“ durch die Stadt getrieben, während sich beiderseits der Straßen Menschenansammlungen bildeten und schweigend zusahen.
Zwei Tage später, am 21. Oktober 1941, entzog sich Ernst Brasch der auch ihm drohenden Deportation durch den Freitod. Drei Wochen später, am 11. November 1941, begannen dann auch die Transporte von Frankfurt/Main aus u.a. nach Minsk in Weißrussland.
Die 74-jährige Emma Brasch blieb allein zurück und war verurteilt zu warten auf das, was ihr widerfahren sollte. Sicher wissen wir nur, dass sie alsbald von Frankfurt/Main aus deportiert wurde. Nach den Angaben im Gedenkbuch wurde sie nach Minsk in Weißrussland (damals: Reichskommissariat Ostland) verschleppt und gilt als verschollen. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie mit dem Transport XII vom 19. August 1942 mit mehr als 1.000 Leidensgenossen in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Dort blieb sie offenbar einen Monat und wurde dann in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Treblinka wurde sie am 23. September 1942 mit Giftgas ermordet.
In dieser Zeit führte Hitler-Deutschland bereits einen Zwei-Fronten-Krieg. Am 10. Mai 1940 hatte es im so genannten Westfeldzug Luxemburg, Belgien und die Niederlande überrannt. Nach der Besetzung Hollands begann dort der Entrechtungs- und Vernichtungsprozess wie im Deutschen Reich. Besonders prekär wird die Lage für die in Holland lebenden deutschen Juden. Nach der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verlor ein Jude, wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland nahm, mit dessen Verlegung ins Ausland die deutsche Staatsangehörigkeit. Mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit verfiel dessen Vermögen dem Reich. Das verfallene Vermögen sollte – wie es in der Verordnung heißt – zur Förderung aller mit der Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecke dienen. Betroffen von diesen Regelungen waren auch Walter Brasch und seine Familie.
Wem es nicht gelang, auszuwandern oder mit Erfolg unterzutauchen, wurde in erbarmungslosen Menschenjagden von der deutschen Polizei aufgegriffen oder auch vom Judenrat an die Deutschen ausgeliefert. Die Festgenommenen kamen in das holländische Lager Westerbork, bei Assen an der Grenze zu Deutschland. Es war ein Konzentrationslager, aber ein Durchgangslager. Der Zweck des Lagers war es, die Häftlinge zu sammeln und dann zu deportieren. Woche für Woche wurden etwa 1.000 Juden ausgesucht, die dann in Zügen nach dem Osten verschleppt wurden. Allein nach Auschwitz wurden ca. 60.000 deportiert.
Walter und Irma Brasch und ihr Sohn Jean-Pierre und ihre Tochter Ilse Erika mussten auch diesen Leidensweg gehen. Walter, Jean-Pierre und Ilse Erika Brasch wurden am 3. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort bei ihrer Ankunft am 5. Februar 1943 ermordet. Irma Brasch folgte ihnen am 25. Januar 1944 und wurde dort am 28. Januar 1944 mit Giftgas getötet.  
Von der gesamten jüdischen Juristenfamilie Brasch aus Mayen/Koblenz haben den Völkermord nur Ernst Braschs Ehefrau Else und deren Töchter Dorothea und Marianne überlebt. Die ältere Tochter Dorothea ist in den USA heimisch geworden und wohnt heute 87-jährig in Washington. Else Brasch und ihre jüngere Tochter Marianne haben bald nach dem Zweiten Weltkrieg England verlassen. Die Tochter Marianne war wie sie sagt Idealistin. Mit ihrem Mann, den sie in England kennen lernte, und mit ihrer Mutter kehrte sie 1947/48 nach Deutschland in die damalige Sowjetische Besatzungszone zurück. Ihre Mutter starb Mitte der 50er Jahre in Ostberlin. Marianne Brasch, verheiratete Pincus, führte dann mit ihrem Mann in der ehemaligen DDR ein sehr bewegtes Leben mit Höhen und Tiefen. Ihr Mann kam bei einem Verkehrsunfall unter nicht geklärten Umständen ums Leben. Nach dessen frühen Tod hat sie ein zweites Mal geheiratet. Marianne Pincus lebt heute 84-jährig in Berlin, sie hat drei Kinder und mehrere Enkelkinder.


III. Die Erinnerung (2008)

Seit einigen Jahren wird in Koblenz die Erinnerung an die jüdische Juristenfamilie wach gehalten. So wird sie in der Dauerausstellung des Fördervereins Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz e.V. auf einer Personentafel porträtiert. Diese Darstellung findet sich auch auf der Homepage des Fördervereins (www.mahnmalkoblenz.de). Seit November 2007 sind für Emma und Ernst Brasch sowie die Eheleute Dr. Walter und Irma Brasch und ihre Kinder Jean-Pierre und Ilse Erika an ihrer letzten Wohnung in Koblenz in der Rizzastraße 40 (heute: Rizzastraße/Ecke Bahnhofstraße und Hauptsitz der Sparkasse Koblenz) sechs „Stolpersteine“ verlegt.