Philipp Freiherr von Boeselager im Interview:
Frage: Gab es einen inneren Zeitpunkt, zu dem der Entschluss feststand, dass Sie etwas gegen Hitler unternehmen wollten?
Philipp Freiherr von Boeselager: (...) Im März 1943 erreichte es Tresckow (Henning von Tresckow, war zu dieser Zeit Erster Generalstabsoffizier (Ia) in der Heeresgruppe Mitte, versuchte seit Mitte 1942 mehrmals, Anschläge auf Hitler zu organisieren, Erg. d.A.) über den Heeresadjutanten bei Hitler, General Schmundt, dass Hitler zur Front, zur Heeresgruppe Mitte herauskam. Dabei plante Tresckow, ihn umzubringen. Einmal war ein Pistolenattentat geplant im Kasino der Heeresgruppe nach der Besprechung, und zwar sollte gleichzeitig Himmler mit umgebracht werden, aber Himmler kam nicht. Als Kluge (Generalfeldmarschall Hans-Günther von Kluge, war damals Heeresgruppenoberbefehlshaber an der Ostfront, Vorgesetzter von Boeselager und Tresckow, Erg. d.A.) das hörte, untersagte er das Attentat. Ich hatte Kluge orientiert (Boeselager war Ordonanzoffizier von Kluge, Erg. d.A.). Ich hatte zu Kluge ein gutes Verhältnis, ein großväterliches Verhältnis. Ich schätzte ihn sehr und besonders seine persönliche Tapferkeit. Seine militärische Tapferkeit - nicht seine politische. Und ich hatte ihn gefragt, bevor der Hitler kam, ob er sich vorstellen könnte - es war nämlich geplant, dass er im Kasino beim Mittagessen zwischen Hitler und Himmler als Hausherr sitzen sollte -, ob er sich vorstellen könnte, dass der Führer, der auf zwei Beinen ins Kasino käme, auf vier Beinen rausgetragen würde. Kluge überlegte so einen Moment. Dann nickte er mir zu, Und dann sagte ich dem Tresckow, dass ich den Kluge orientiert hätte; und Tresckow hat dann auch mit Kluge darüber gesprochen. Aber Kluge hat dann im letzten Moment das Attentat untersagt, weil Himmler nicht mitgekommen war. Er sagte, sonst gäbe es einen Bürgerkrieg zwischen Heer und SS... (...) Ja, ich habe oft davon geträumt, weil, es war ja von Kluge, wie gesagt, der Befehl herausgegeben worden, nicht zu schießen. So im letzten Moment. Und ich bin dann, nachdem ich das wusste und wir ins Kasino gingen, bin ich drei, vier Schritte hinter Hitler reingegangen in das Kasino. Hatte die geladene Pistole bei mir, und nachts werde ich manchmal wach und sage: ,,Hättest Du doch geschossen! Hättest Du doch geschossen...“ ; obwohl der Kluge das verboten hatte. (...) Kluge war für mich schon absolut eine Autorität. Und wenn er gesagt hat, nein, dann nein. Es war eigentlich beinahe angenehm, wenn wir nicht schießen brauchten. Weil der Kluge das so gesagt hat. Aber hinterher habe ich mir immer wieder gedacht - hättest Du doch, hättest Du doch, hättest Du doch. 16.000 Menschen am Tag, und das Sterben war ja nicht das Schlimme bei dem Attentat, das eigene Sterben war nicht allzu schlimm, denn das war ziemlich sicher.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 137ff.)
Frage: Sie haben sich entschlossen, Ihr eigenes Leben einzusetzen gegen das große Unrecht der Diktatur unter Hitler. Welche Überlegungen gingen dem voraus?
Philipp Freiherr von Boeselager: Ja, es war von vornherein, von der Machtübernahme angefangen, möchte ich sagen, so ab 1934 (...) und nach dem Polenfeldzug (September 1939, Erg. d.A.), da war ich skeptisch. Und dann langsam kam ich zur Ablehnung. Ich war kaum bei Kluge (Generalfeldmarschall Hans-Günther von Kluge, war damals Heeresgruppenoberbefehlshaber an der Ostfront, Vorgesetzter von Boeselager, Anni. d. A.) Ordonanzoffizier, da bekam ich eine Meldung aus dem rückwärtigen Raum, da stand am Schluss dieser Meldung: ,,Fünf Zigeuner sonderbehandelt.“
Das war der Raum, der der SS unterstand, dem SS-Obergruppenführer von dem Bach-Zelewski (General der Polizei Erich von dem Bach-Zelewski, war Chef der Einsatzgruppe B und bald darauf ,,Bevollmächtigter des Reichsführers-SS zur Bandenbekämpfung“, Erg. d.A.). Und ich trug dem Kluge das vor. Ich wüsste nicht, was das heißt ,,Sonderbehandlung“. Sagt er, weiß ich auch nicht, aber wir fragen den Bach-Zelewski, der kommt ja in ein paar Tagen. Der kam auch und hielt einen Vortrag. Das Gebiet war für uns interessant, weil die Straßen, die Bahn durch das Gebiet zur Heeresgruppe nach vorne führten. Und am Schluss, wie er fertig war, erinnerte ich den Kluge an die Frage. Und da sagte der Kluge: ,,Ja, sagen Sie mal, in Ihrer Meldung stand: ,Fünf Zigeuner sonderbehandelt.' Was haben Sie gemacht?“ - Die haben wir erschossen. - Wieso erschossen, nach einem kriegsgerichtlichen Urteil? - ,,Nein, alle Zigeuner und Juden erschießen wir.“ Es gab einen lebhaften Disput zwischen Kluge und Bach-Zelewski, den der Kluge darauf hinwies, dass das gegen die Haager Konvention (Haager Abkommen oder Konventionen, eine Anzahl von in der Zeit um 1900 verabschiedeten Konventionen zum humanitären (Kriegs-)Völkerrecht, Erg. d.A.) wäre und und und. ,,Außerdem erschießen wir nur Partisanen.“ Der Bach-Zelewski wurde immer frecher und sagte: ,,Alle Feinde des Reiches werden von uns erschossen.“ Und guckte den Kluge an. Das war eine Drohung. Kluge warf ihn fast raus und rief sofort den Haider (Generaloberst Franz Haider, war damals Chef des Generalstabs des Heeres, Erg. d. A.) an. Aber sofort. Und sagte, er verbäte sich das, da müsste eingegriffen werden, denn wir züchteten hinter uns ja nur Partisanen. Mit der Widerrechtlichkeit zu argumentieren war damals schon beinahe sinnlos. Wir bekamen von da an keine Meldungen mehr aus dem Gebiet. Es war mir klar, dass der Bach-Zelewski weiter so handelte. Das war das erste Mal, dass ich offiziell 1942, am 10. Juni 1942, ich weiß das Datum ganz genau, dass ich offiziell gehört habe, dass von oben das Morden an Juden und Zigeunern befohlen ist. Den Kommissarbefehl (Anweisung vom 6. Juni 1941, Politkommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern sie ohne Verhandlung zu erschießen, Erg. d.A.), den hatten wir ja nicht bekommen. Den hatte Tresckow (Henning von Tresckow, war zu dieser Zeit Erster Generalstabsoffizier (Ia) in der Heeresgruppe Mitte, versuchte seit Mitte 1942 mehrmals, Anschläge auf Hitler zu organisieren, Erg. d. A.) angehalten oder irgendein Armeeoberbefehlshaber, der Befehl der besagte, dass alle Juden und Kommissare, die man schnappte, sofort zu erschießen wären. Der ist bei uns nicht durchgekommen. Aber hier hatte ich jetzt offiziell gehört, dass die das machten. Und habe mich dann in der Heeresgruppe umgehört. Und hörte, dass die ja wussten von der Judenerschießung in Borrissow im Oktober 1941, da hat die lettische SS 7.000 Juden erschossen. Grauenhafte Geschichte. Die hat der Gersdorff (Generalstabesoffizier der Heeresgruppe Mitte, Mitglied des militärischen Widerstandes, Erg. d.A.) zufällig erlebt, und Axel von dem Busche (Offizier im Infanterieregiment 9 - sog. Regiment Graf 9 -, unternimmt im Dezember 1943 einen Attentatsversuch auf Hitler, Erg. d.A.) hatte das auch erlebt. Und dann... mehrere Fälle. Sodass mir klar war, das war kein Zufall. Das war kein besoffener SA-Mann, der da schießt, was immer passiert in jedem Krieg bei sechs Millionen Soldaten, dass irgendwo eine Schweinerei passiert. Nein, es war angeordnet.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 148 f.)
Frage: Der Ritt vor dem 20. Juli, um den Staatsstreich militärisch abzusichern und zu stützen, war ja eine große logistische Herausforderung. Woher nahmen Sie die enorme Konzentration -neben der Kriegsführung, die ja auch ihre eigene Logik hatte?
Philipp Freiherr von Boeselager: (...) Tresckow (Henning von Tresckow, war zu dieser Zeit Erster Generalstabsoffizier (Ia) in der Heeresgruppe Mitte, versuchte seit Mitte 1942 mehrmals, Anschläge auf Hitler zu organisieren, Erg. d.A.) wollte uns ja immer als Heeresgruppenreserve für einen Staatsstreich haben. Und bevor das losging, hatte Tresckow gesagt, das Attentat würde jetzt in nächster Zeit stattfinden und wir sollten nach Berlin, und mein Bruder (Georg Freiherr von Boeselager, Kavallerieoffizier in der Heeresgruppe Mitte, Vorgesetzter von Philipp von Boeselager, Erg. d.A.) und ich hatten besprochen, dass wir zu einem Sammelort in Polen, ostwärts von Warschau, reiten würden. Dort sollten Lkws kommen weil da das Heeresgruppennachschublager war. Wir sollten mit den Lkws zu einem Feldflugplatz fahren und von dem Feldflugplatz aus nach Berlin. Das war schon Wochen vorher besprochen. Aber jetzt wurde das aktuell. Ich kriegte einen Befehl von meinem Bruder, der verwundet und beim Stabe Tresckow war: ,,Aufgepasst Philipp, das Attentat steht kurz bevor, hast Du schon Leute bereit?“ Darauf habe ich die erste Einheit, die vorderste Linie schon gleich weiter nach hinten geschickt, nicht in die dritte Stellung, wo sie hingehörte, sondern schon weiter nach hinten. Und am 18. (Juli) kriegte ich den Befehl von ihm: ,,Auf nach Berlin!“ Da habe ich die anderen Schwadronen aus der ersten und zweiten Linie rausgeschickt. Aber in der dritten Linie musste ich noch bleiben. Wir mussten ja noch die Infanterie schützen, die in ihre Stellung reinging. Nachdem die in den Stellungen drin waren, bin ich mit dem Auto hinterhergefahren. Und dann haben wir uns an dem Ort, wo die Lkws sein sollten, versammelt. Die ersten waren schon da. Die anderen waren noch unterwegs. Dann haben wir noch aufinunitioniert, weil jeder musste seine Munition ja am Leibe tragen. Denn Pferde und alle Nachschubgeschichten blieben ja da. Wir sollten ja mit dem Flieger nach Berlin. Und während wir gerade aufsitzen wollten auf die Lkws, da kam eine Meldung von meinem Bruder: ,,Alles in die alten Löcher!“ Das war das Stichwort für: Attentat nicht ausgeführt. Ich wusste nicht, dass es gescheitert war. Ich wusste nur, es war nicht ausgeführt. Aber dann konnten wir ja auch nicht nach Berlin. Wir konnten ja nur nach Berlin, wenn Hitler tot war. Wenn der Umsturz geglückt war. Dann sollten wir den Umsturz absichern. So mussten wir wieder zurückreiten an die Front. Weil das sonst aufgefallen wäre. Und besonders deshalb sind wir, glaube ich, davongekommen: Nördlich von uns war eben keiner. Diese drei Armeen (die wie die Reiter von Boeselagers zu der Heeresgruppe Mitte gehörten, Erg. d.A.) waren mehr oder minder kaputt. Und wir sind dann - wirklich ein sehr schwieriger Krieg - vor die ostpreußische Grenze verschoben worden. Da waren keine deutschen Soldaten mehr, und da kam langsam was aus dem Reich und verstärkte uns. Und da ist bei diesen harten Kämpfen vor der ostpreußischen Grenze mein Bruder gefallen, und wir sind dann nach Ostpreußen zurückgegangen. Also es war dann, nach dem 20. Juli, keine Zeit mehr, über Attentat oder irgendetwas nachzudenken, sondern es waren ganz, ganz harte, erbitterte Kämpfe. Die man sehr genau führen musste und die führungsmäßig sehr schwierig waren. Wo man wirklich Tag und Nacht unterwegs war, um das alles zu koordinieren.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 160 ff.)
Frage: Nach dem gescheiterten Attentat, wie haben Sie sich da gefühlt? Haben Sie sich womöglich als Versager empfunden? Philipp Freiherr von Boeselager: Nein, überhaupt nicht, sondern ich habe jeden Tag Angst gehabt - das sagte ich ja -, dass ich geschnappt würde. Ich war ganz sicher, dass ich geschnappt würde. Weil jeder wusste, dass wir mit Tresckow befreundet waren. Wir waren mittags oft mit ihm ausgeritten und so. Beim Heeresgruppenstab wusste man, dass wir, der Georg (Philipp von Boeselagers älterer Bruder, Erg. d.A.) und ich, mit ihm eigentlich befreundet waren. Für mich war der Tresckow wie ein älterer Bruder. Etwas überhöht - ich hoffe, ich mache mich verständlich. Zu dem ich größtes Vertrauen hatte. Und ich war ganz sicher, dass wir geschnappt würden. Ich glaube, wir sind nur nicht geschnappt worden, weil wir die Einzigen waren, die an der Front tätig sein konnten, um vor Ostpreußen zu sichern, und außerdem hatten die Soldaten auch keine Zeit. Wir sind wie die Narren 200 Kilometer hingeritten und haben die Pferde abgegeben. Kaum war es so weit, dass wir auf die Lkws sollten, wurden die Pferde wieder zusammengeholt... aufsitzen ... und wieder wie die Verrückten geritten. Ich habe die hier mal gefragt, die Offiziere nach dem Krieg, was sie geglaubt hätten. Da haben sie gesagt, ja skeptisch wären sie gewesen, weil wir durch Brest-Litowsk im Trab geritten seien. Trab! Brest-Litowsk war, während wir da durchritten, ,,fester Platz“ geworden. Fester Platz hieß, dass der Kommandant das Recht hatte, alle Soldaten, die da drin waren, zu behalten. Er brauchte keinen mehr rauszulassen. Also hatten wir Angst, dass wir nicht mehr rauskommen. Deshalb habe ich gesagt, Trab. Und das war eine Todsünde, als Kavallerist mit Pferden über Kopfsteinpflaster zu traben, denn die rutschen mit den Eisen auf dem Pflaster. Und das hatte es noch nie gegeben. An einer Ecke stand dann mein Bruder, da haben sie vor Angst ,,durchpariert“. Und da hat er ihnen zugerufen: ,,Vorwärts Trab, Trab.“ Das gab es nicht. Das war das Auffälligste an der ganzen Sache.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 164 f.)
Frage: Was war für Sie der Sinn des 20. Juli?
Philipp Freiherr von Boeselager: Die Wiederherstellung des Rechts. Ich hatte keine Vorstellung über die demokratische Staatsform. Das war klar, dass das eine Republik sein sollte. Aber wie eine Republik aussehen würde, darüber habe ich mir ja gar keine Gedanken gemacht. Da gab es den Kreisauer Kreis, das wusste ich, und es gab einen Goerdeler, den habe ich zweimal gesehen bei Kluge und auch mit ihm gesprochen. Goerdeler kam, um Kluge Zünder zu erklären. Das war die offizielle Lesart. Die war natürlich so primitiv wie irgendwas. Das sah jeder, dass der Oberbürgermeister Goerdeler von Zündern nicht so furchtbar viel Ahnung hatte. Und den Kluge interessierte auch der Zünder nicht so viel. So wusste ich sofort, was da los war, und habe mit ihm dann auch noch ein bisschen so darüber ... so vorsichtig angesprochen. Man hatte Vertrauen, dass die Leute, die das gelernt hatten, was Vernünftiges tun. Auf jeden Fall, dass es einen Rechtsstaat gibt. Mehr war mir nicht klar und war mir auch völlig egal. Die Freiheit, dass der Einzelne seine Freiheit wiederbekäme und das Recht, und die Menschen aus dem KZ rausgelassen würden.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 167 f.)
Frage: Was empfinden Sie heute als gut gegangen? Was hat funktioniert?
Philipp Freiherr von Boeselager: Es hat ja nichts funktioniert. Es hat gar nichts funktioniert, und ich bin mir manchmal nicht ganz klar, ob es nicht ganz gut war, dass nichts fünktioniert hat. Denn den heutigen Staat hätten wir bestimmt in dieser Form nicht bekommen, wenn der 20. Juli geglückt wäre. Ich weiß nicht, was wir für einen Staat bekommen hätten. Wir hätten sicher einen Staat des Rechts und der Freiheit bekommen, aber dadurch, dass alles ganz kaputt war, hat man ja eine ganz andere Chance gehabt, den Neuaufbau zu beginnen. Ich weiß nicht - ich hatte großes Vertrauen zu Goerdeler und denen, zu Beck und so - , aber vielleicht war die Chance noch größer dadurch, dass das Attentat missglückt ist. Ich weiß es nicht.
(zitiert nach: Dorothee von Meding/Hans Sarkowicz: Philipp von Boeselager - Der letzte Zeuge des 20. Juli 1944, 2008, S. 168)