Harald Turner (1891 – 1947)
Harald Turner wurde am 8. Oktober 1891 in dem Städtchen Leun geboren. Leun liegt an der Lahn, zwischen Wetzlar und Limburg, gegenüber von Braunfels. Es gehörte damals zum Kreis Wetzlar. Leun war wohl ein schönes Städtchen, mit alten Fachwerkhäusern in seinem Ortskern. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass Leun wie der ganze Kreis Wetzlar damals zum Regierungsbezirk Koblenz gehörte.
Zur Welt kam Harald Friedrich Emil Turner als Sohn eines Oberleutnants im 1. Nassauischen Infanterieregiment Nr. 87 und der Tochter eines evangelischen Pfarrers. Diese Mischung ist schon ein bisschen ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher wird es, wenn man den Namen des Vaters hört: William West Turner. Unweigerlich kommt man da ins Englische – Turner – und das ist richtig so. Denn Harald Turners Vorfahren väterlicherseits waren Engländer. Sein Vater war 1861 in London geboren. Sein Großvater Spence Derrington Turner war Soldat in der indischen Armee. Seine größte Leistung vollbrachte er auf einer Reise von Indien nach England, als das Schiff an einer Flussmündung ins Meer nachts in Brand geriet. Das Schiff brannte aus, viele Menschen kamen ums Leben, weil sie verbrannten, ertranken oder von Haifischen aufgefressen wurden. Der Großvater rettete sein nacktes Leben sowie auch das Leben der Frau des Schiffskapitäns durch Schwimmen. Im Nachhinein spielte er seine Tat herunter. Er behauptete, weil sie nur ein Nachthemd angehabt habe und sehr beleibt gewesen sei, hätten die Haifische schon von ihrem bloßen Anblick genug gehabt. Dadurch habe sie letztlich die Haifische in die Flucht geschlagen und damit sein Leben gerettet. Und im Übrigen habe die Frau angesichts ihrer Körperfülle gar nicht ertrinken können.
Das Faible fürs Militärische lässt sich bis zu Harald Turners Urgroßvater zurückverfolgen. Dieser William Turner war Offizier der englischen Armee. Als Major der englischen Dragoner kämpfte er während des Halbinselkrieges in Spanien und in Portugal und ebenso bei der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon.
Irgendwie hatte es dann den Vater Turners nach Deutschland verschlagen und in die preußische Armee. Zu jener Zeit gehörte das Nassauer Land als Folge des preußisch-österreichischen Krieges, in dessen Verlauf Nassau auf Seiten Österreichs gegen Preußen stand, seit 1866 als Provinz Hessen-Nassau zum Königreich Preußen. Stationiert war Turners Vater mit seinem Regiment in Mainz. Im Jahre 1885 heiratete Turners Vater Turners Mutter Marie, geb. Zimmermann in Leun. Sie war die Tochter des dortigen Pfarrers Julius Zimmermann, der die beiden auch traute. Viele ihrer männlichen Vorfahren waren evangelische Pfarrer oder auch Lehrer gewesen. Es war dann auch der Großvater mütterlicherseits, der Harald Turner sechs Wochen später taufte. Typisch für den familiären Hintergrund waren die Taufpaten. Von den drei männlichen Taufpaten war einer Theologiestudent und zwei waren Offizier bzw. angehender Offizier.
Seine Kindheit verlebte Turner im Standort des Vaters, in Mainz. Dort besuchte er von 1897 bis 1901 die Vorschule des „Alten Gymnasiums“. Schon sehr früh wurden für ihn die Weichen für eine militärische Laufbahn gestellt. Zu Ostern 1901, mit neun Jahren, kam er in die Kadettenanstalt Oranienstein bei Diez an der Lahn. Ostern 1906 schloss sich der Besuch der Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde bei Berlin bis einschließlich zur Obersekunda an. Im März 1908 wurde er Fähnrich und im August desselben Jahres Leutnant. Im Herbst kam er auf die Kriegsschule Potsdam.
Bei Ausbruch des I. Weltkrieges war Turner sogleich Soldat. Erst kämpfte er an der Westfront und wurde schon Ende September 1914 in Frankreich verwundet. Nach seiner Genesung war Turner bereits im Dezember 1914 wieder an der Front - diesmal an der Ostfront, in der Winterschlacht in Masuren. Durch einen doppelten Lungenschuss wurde er aber Mitte Februar 1915 erneut schwer verwundet. Noch in der Genesungsphase beförderte man ihn im Juli 1915 zum Oberleutnant. Im Dezember desselben Jahres kam er wieder an die Front.
Gleichsam zwischen den Fronten und in einer Kampfpause heiratete Turner am 23. Februar 1916 seine drei Jahre jüngere Frau Adelheid, geb. Bechtel. Sie war die Tochter eines Bad Kreuznacher Seifenfabrikanten. Unter den Vorfahren der Ehefrau Turners finden sich allerlei Handwerker, aber auch evangelische Pfarrer. Kirchlich getraut wurden sie von Turners Großvater mütterlicherseits. Aus dieser Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, die im Jahre 1917 geborene Tochter Irmingard und der 1918 geborene Sohn Harald.
Schon bald nach der Eheschließung, im Mai 1916, erlitt Turner einen Blutsturz und musste ins Lazarett. Damit war sein Fronteinsatz im I. Weltkrieg beendet. Nach seiner Genesung wurde er nur noch im rückwärtigen Bereich eingesetzt. So war er von Juli 1916 an ein Jahr lang Platzmajor und Adjutant der Kommandantur der Festung Wesel am Niederrhein. Von dort kam er ein Jahr später als 2. Ordonanzoffizier zum Armeeoberkommando Küste nach Hamburg und von dort als 1. Ordonanzoffizier in die Karpaten. Nach einer kurzen Kommandierung in die Champagne war er Adjutant der 16. Landwehrdivision in der Ukraine. Am 15. Juli 1918 wurde er zum Hauptmann befördert, kam aber am selben Tag mit schwerer Ruhr in Lazarett, das war jetzt – wenn Sie richtig mitgezählt haben - der vierte Lazarettaufenthalt. Die Armee dankte Turner seinen Militärdienst mit der Verleihung von Orden und Ehrenzeichen. Er war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer, des Hilfsdienstkreuzes und des Verwundetenabzeichens in Silber.
... Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches im November 1918 ging Turner nicht nach Hause ins Zivilleben sondern blieb beim Militär. Er gehörte jenen irregulären Verbänden ab, in denen militärisch ausgebildete Frontsoldaten weiterhin Krieg spielten. Das waren eine Art Landsknechte, zu denen sich bald auch konservative bis rechtsradikal gesinnte junge Leute gesellten. Man nannte sie Freikorps. Es gab insgesamt 68 „amtlich anerkannte“ Verbände mit zusammen fast 400.000 Mann. Bekannt sind vor allem die Freikorps Ehrhardt und Löwenfeld, die im Baltikum ihren „Kampf gegen den Bolschewismus“ kämpften. Turner kämpfte weiter im Westen, er war wieder Platzmajor und Adjutant des Festungskommandanten von Wesel, er gehörte zum Freikorps Wesel. Später richtete er – wie er sagte - die Einwohnerwehr von Bochum ein. 1919 wurde Turner Mitglied des Treubundes, dann des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes. Republikfreundlich war das alles sicherlich nicht.
Der am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Vertrag von Versailles brachte dann das soldatische Ende für Turner. Der Friedensvertrag begrenzte die Streitkräfte auf das „Hunderttausend-Mann-Heer“. Damit musste die auf 400.000 Mann angewachsene Reichswehr auf ein Viertel verringert werden, von der Reduzierung waren vor allem die Freikorps betroffen, die weitgehend aufgelöst wurden. Als Reichswehrminister Gustav Noske (SPD, der sog. geschmähte „Bluthund-Noske“) Ende Februar 1920 die Auflösung von Freikorps anordnete, kam es zur offenen Rebellion. Der Befehl wurde nicht befolgt. General von Lüttwitz alarmierte die „Brigade Ehrhardt“ und befahl ihr, in Berlin einzumarschieren und „das rote Pack“ davonzujagen. Mit dabei war auch der Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp. Danach wird diese Rebellion auch als Kapp-Putsch bezeichnet. Die Reichsregierung floh aus Berlin. Die sozialdemokratischen Minister und die Gewerkschaftsführer riefen zum Generalstreik auf. U.a im westdeutschen Industriegebiet wurde dieser Streik befolgt. Und gerade da in Wesel saß Turner bei seinem Freikorps Wesel. Schon nach wenigen Tagen scheiterte der Staatsstreich in Berlin. Im Ruhrgebiet gingen die Kämpfe weiter. Immer mehr bekamen die bewaffneten Arbeiter die Oberhand. Zuletzt wurde gerade noch in Wesel gekämpft. Im April 1920 marschierte dann die Reichswehr im Ruhrgebiet ein.
Damit hatte auch Turner fürs erste ausgekämpft. Im selben Monat – übrigens zur gleichen Zeit auch wie Adolf Hitler – schied er aus dem Militärdienst aus. Während Hitler sich von da ab restlos der – wie es hieß – „Bewegung“, der NSDAP widmete, wurde Turner Verwaltungsbeamter. Zunächst war er Regierungsamtmann im Versorgungsamt in Wesel. Im Jahre 1922 kam er zum Versorgungsamt nach Mainz, 1923 nach Bad Kreuznach und 1924 nach Trier.
Turner war von Anfang an sehr ehrgeizig und bildungsbeflissen. So ließ er sich während dieser Berufstätigkeit im Wege des Fernstudiums zum Referendar weiterbilden. Aufgrund von damals geltenden Sonderregelungen – Turner ja hatte kein Abitur - gelang ihm im Jahr 1926 der Sprung vom gehobenen in den höheren Dienst. Er wurde im Februar 1926 zum Regierungsrat ernannt und weiter beim Reichsversorgungsamt in Trier eingesetzt. Obwohl er damit im höheren Dienst war, strebte er noch das Abitur an. Nach einer recht kurzen Vorbereitungszeit legte er die Reifeprüfung im Februar 1927 als Externer am Hindenburg-Realgymnasium in Trier ab. Sogleich schrieb er sich für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität in Gießen ein und studierte neben seinem Dienst sechs Semester.
Noch während er studierte wurde er im April 1929 – unter Beibehaltung seiner Hauptstelle beim Versorgungsamt in Trier - zum Deutschen Finanzkommissar für das Versorgungswesen im Saargebiet ernannt. – Damals hatte das Saargebiet noch einen Sonderstatus – aufgrund des Versailler Vertrages war es damals den Franzosen zur Nutzung überantwortet und wurde von einer Kommission des Völkerbundes verwaltet. Erst nach 15 Jahren, im Jahre 1935, sollte die Bevölkerung des Saargebiets in einer Volksabstimmung über das weitere Schicksal entscheiden. Sie kennen den Ausgang. Ich sage nur: „Die Saar kehrt heim!“
Dort also in diesem völkerrechtlich eigenwilligen Gebilde „Saargebiet“ war Turner deutscher Finanzkommissar für das Versorgungswesen. Schon wenig später, zum 1. Januar 1930, trat Turner in die NSDAP ein. Mit der Mitgliedsnummer 181.533 schaffte er es aber nicht mehr, unter der „Schallmauer“ von 100.000 zu bleiben. Zum 1. August 1932 wurde er Mitglied der SS. Seine ersten SS-Erfahrungen sammelte er als Truppführer in Trier. Ein halbes Jahr später, am 12. Februar 1933, wurde Turner zum Oberregierungsrat beim Reichsversorgungsamt in Trier befördert. Zu dieser Zeit war er schon mit der Wahrnehmung der Geschäfte zur Führung eines Sturmbanns beauftragt.
Mittlerweile hatten die Nazis im Reich und auch in Preußen die Macht übernommen. Hitler war Reichskanzler geworden, zwei weitere Nazis, Frick und Göring, Reichsminister. Göring wurde kommissarisch auch preußischer Ministerpräsident. Es war der letzte Akt des Kampfes um das ehemals „rote Preußen“. Es galt das geflügelte Wort: „Wer Preußen hat, hat Deutschland“. Schon mit dem „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932, als der damalige Reichskanzler von Papen die preußische Regierung unter Carl Severing (SPD) absetzte und durch einen Reichskommissar ersetzte, war die Macht dieses „Bollwerks Preußen“ gebrochen. Jetzt, nach der sog. Machtergreifung und seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten, ging Göring sofort daran, republikanisch gesinnte Beamte aus ihren Ämtern zu vertreiben und diese durch Nazis zu ersetzen bzw. überhaupt NS-Personalpolitik zu betreiben. Der erste republikanisch gesinnte Beamte, der in Koblenz im Rahmen der von den Nazis sog. politischen Säuberung entfernt wurde, war der Koblenzer Polizeipräsident Dr. Ernst Biesten. Dies geschah bereits am 13. Februar 1933. Wenig später wurde auch der Vizepräsident der Rheinprovinz, Dr. Wilhelm Guske, aus dem Amt gejagt.
Die Ernennung Turners zum Oberregierungsrat beim Reichsversorgungsamt in Trier am 12. Februar 1933 gehörte wohl noch nicht in diese – wie die Nazis es nannten – politische Säuberung. Zwar geschah die Beförderung nach der sog. Machtergreifung und seine recht frühe Parteimitgliedschaft und Zugehörigkeit zur SS waren bestimmt förderlich dabei, aber das war noch nicht Teil der „politischen Säuberung“. Dafür handelte es sich um einen zu untergeordneten Posten. Nach der Machtübernahme ging es den Nazis vielmehr darum, die Schaltstellen der Macht auf allen Ebenen zu übernehmen. Hierzu war die Stelle eines Oberregierungsrates beim Reichsversorgungsamt in Trier viel zu unbedeutend.
Wahrscheinlich war es Zufall, dass Turner gerade kurz nach der „Machtergreifung“ befördert wurde. Schließlich war er inzwischen 41 Jahre alt und hatte sich in den letzten zehn Jahren – auch durch Weiterbildung – hochgearbeitet.
Anders ist eine Turner betreffende Personalmaßnahme zu bewerten, die nur wenige Wochen später erfolgte. Im Mai 1933 kam es zu einer weiteren Ernennung Turners, diesmal zum Regierungspräsidenten von Koblenz. Diese muss man sehr wohl vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ der Nazis und den letzten halbwegs legalen Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933 sehen. Dabei erhielten die Nazis 43,9 Prozent der Stimmen und zusammen mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ mit 52 Prozent die absolute Mehrheit. Dieser „Säuberung“ fielen allein im Februar und im März 1933 insgesamt fünf Oberpräsidenten, 11 Regierungspräsidenten, 21 Vizepräsidenten und 25 Polizeipräsidenten zum Opfer. Der Koblenzer Regierungspräsident Walter von Sybel war zunächst noch davon verschont, gehörte er doch der DVP (Deutsche Volkspartei) an, stand weit rechts und hielt sogar Reden für die NSDAP. Aber das alles half ihm letztlich auch nichts. Die Nazis wollten ihre Leute an den Schalthebeln der Macht. Deshalb musste von Sybel gehen und wurde dann Anfang Mai 1933 „beurlaubt“. Allerdings fiel er nicht wie die politischen Gegner der Nazis – wie etwa Biesten und Guske – ins Bodenlose. Von Sybel fiel weich, die Nazis brachten ihn als Abteilungsdirigent und Verwaltungsgerichtsdirektor bei der (Bezirks-)Regierung in Wiesbaden unter.
Von Sybel wurde im Mai 1933 durch Turner ersetzt. Das war kein Ausnahmefall, denn die Machtmonopolisierung der Nazis ging weiter. Bis Ende Juli 1934 waren sämtliche Oberpräsidenten und 32 von 34 Regierungspräsidenten der Weimarer Republik aus ihren Ämtern entfernt und mit Nationalsozialisten, auch deutschnationalen und anderen Rechten neu besetzt.
Die Ernennung Turners zum Regierungspräsidenten kam für ihn nicht überraschend, er hatte darauf hingearbeitet. Bereits 1931 oder 1932 äußerte er sich gegenüber einem Freund, dem Amtsrichter Dr. Oskar Elste, nachdem dieser festgestellt hatte, dass der Gauleiter Robert Ley Parteigelder unterschlagen hatte, dies publik gemacht hatte und aus der NSDAP ausgetreten war, wie folgt:
Oskar, Du bist kein Idiot, sondern ein Vollidiot. Wenn wir an die Macht kommen, wärest Du Chef beim Oberlandesgericht Köln geworden. Meine Karriere fängt als Regierungspräsident in Trier oder in Koblenz an.
So war es denn auch. Während Elste nach 1933 Amtsrichter in Boppard/Rhein wurde, wurde Turner wie gesagt – zunächst – Regierungspräsident in Koblenz. Die Ernennung und Amtseinführung Turners als Regierungspräsident fand ein breites Echo – jedenfalls in der inzwischen gleichgeschalteten Presse. Das Koblenzer Nationalblatt schloss die Vorstellung Turners in seiner Ausgabe vom 13. Mai 1933 mit den Worten: „Mit dem neuen Regierungspräsidenten zieht in Koblenz ein alter, treuer Kämpfer der Bewegung ein, der seiner neuen Aufgabe vollauf gerecht werden wird.“
Am 16. Mai 1933 fand dann in der Festhalle in Koblenz die feierliche Einführung statt. Für das Koblenzer Nationalblatt war dies ein „Markstein (…) in der Geschichte (der) Bewegung; dieser hohen Bedeutung des Tages wurde die außerordentlich eindrucksvoll verlaufene Veranstaltung in würdigster Weise gerecht.“ Als die Musik einsetzte, marschierten sie ein: „Gauleiter Pg. G. Simon, Oberpräsident von Lüninck, Polizeipräsident und Oberführer Wetter, SS-Standartenführer Zenner, Regierungspräsident Turner und Oberbürgermeister Wittgen sowie der Stab der Gauleitung, die Führer des Stahlhelm und der Schutzpolizei (…) Ihnen folg(t)en die Fahnen und Standarten der im Saal vertretenen Formationen.“
Nach Oberpräsident von Lüninck ergriff der neue Regierungspräsident Turner das Wort und führte u.a. aus:
Ich bin mir der Schwere meiner Aufgabe bewusst. Aber ich bin ein Kind meines Bezirkes, kenne die Nöte und die Verhältnisse meiner Heimat. Siebzehn Jahre war ich im Rheinland tätig, elf Jahre in dem von den Franzosen besetzten Gebiet. Meine Aufgabe fasse ich so auf, dass ich in erster Linie Exponent der Regierung Adolf Hitlers bin, in zweiter Linie erst Beamter. Mein Ziel wird es sein, aus meinem Bezirk eine Hochburg des nationalen Sozialismus zu schaffen, denn der Nationalismus allein tut es nicht. Es muss der Sozialismus hinzukommen, für den wir 14 Jahre gekämpft haben. Dieser Nationalsozialismus soll unser Leitstern sein, wenn es gilt die Nöte der vergangenen Jahre in jeder Weise zu lindern. Mein ganzes Herz will ich für dieses Hochziel einsetzen, ein treuer Soldat Adolf Hitlers zu sein.
Der Artikel im Koblenzer Nationalblatt endet dann mit den Worten:
Mit einem dreifachen Heil auf den Führer und dem Horst-Wessel-Lied schloss die wahrhaft erhebende Feier in der Festhalle.
Die Formationen zogen nun durch die Rheinanlagen zur Hitler-Eiche gegenüber der Regierung, wo die Führer der Bewegung und die Spitzen der Behörden Aufstellung genommen hatten. In strammem Paradeschritt zogen die SS- und SA-Männer, Stahlhelm, Schutzpolizei und SS-Motorsturm vorbei, stürmisch begrüßt von den die Straßen säumenden Menschenmassen.
Ein herrliches Bild strammer Manneszucht, deutschen Kraftwillens!
Ein unvergesslicher Tag!
Mit Turner gab es sicherlich einen spektakulären Wechsel an der Spitze der Regierung von Koblenz. Dies darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, dass es generell solche Veränderungen gab. In organisationsrechtlicher und personeller Hinsicht blieb vielmehr vieles so wie es war. Es wurde gerade einmal das „Führerprinzip“ in der Verwaltung eingeführt. Das hatte zur Folge, dass Gremien wie der Bezirksausschuss abgeschafft wurden. Eine wesentliche Änderung gab es lediglich im Bereich der politischen Polizei. Durch die Herausbildung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) als Parallel- bzw. Alternativorganisation verlor die politische Polizei, die ein Teil der (Bezirks-)Regierung war, an Bedeutung. Damit ging die Regelung einher, dass die Leiter der Gestapo-Stellen zugleich die politischen Sachbearbeiter bei den Regierungen sein sollten. Insoweit gehörte zum Kreis der höheren Regierungsbeamten auch ein weiterer strammer Nazi.
Eine Umstellung in der Arbeit der Regierungen gab es insoweit, als weitere Stellen - und zwar staatliche und solche der NSDAP – bei der Erledigung der Arbeiten zu beteiligen waren. In vielen Fällen mussten die Gauleitung und die Kreisleitungen eingeschaltet werden. Außerdem entstanden staatliche und Partei-Dienststellen, die teilweise eine Doppelarbeit und eine Gegenarbeit zur Folge hatten. So hatten beispielsweise Dienststellen des „Reichsnährstandes“ Befugnisse auf dem Gebiet der Marktregelung und der Preisfestsetzung, in diesem Bereich war aber auch die Regierung tätig. Nach und nach kam es zu einem nebeneinander von Dienststellen und einem Wildwuchs von Behörden und Institutionen. Das war natürlich einer effektiven Arbeit abträglich und beschnitt zudem die Aufgaben der Regierung als Mittelbehörde.
Dieser Dualismus von Partei und Staat wurde in der Person Turners und damit in der Verwaltungsspitze des Regierungsbezirks Koblenz dadurch gelöst, dass der Regierungspräsident Turner auch in der SS schnell Karriere machte. Schon zwei Wochen nach seiner offiziellen Amteinführung, am 12. Juni 1933, wurde er vom Truppführer zum Untersturmführer (= Leutnant) befördert, zwei Monate später (am 20. August 1933) zum Sturmbannführer (= Major), an „Hitlers Geburtstag“ am 20. April 1934 zum Obersturmbannführer (= Oberstleutnant), schon einen Monat später (am 20. Mai 1934) zum Standartenführer (= Oberst). Diese SS-Karriere dürfte auch Turners Eitelkeit befriedigt haben. Eine solche Annahme liegt nahe, wenn man sich die – wenigen – Fotos ansieht, die es von Turner gibt. Sie alle zeigen ihn in SS-Uniform, die er ersichtlich voller Stolz trägt.
Insoweit hatte er auch allen Grund, stolz zu sein. Denn innerhalb eines Jahres hatte Turner unter Berücksichtigung seiner Karriere als Verwaltungsbeamter auch als SS-Führer reüssiert, er hat – wie man so sagte – „nachgezogen“ und war vom „kleinen“ Truppführer zum Standartenführer (= Oberst) aufgestiegen. Außerdem hatte man ihn mit den Insignien der SS ausgestattet: mit dem SS-Totenkopfring, mit dem Ehrendegen des Reichsführers SS und mit dem Julleuchter. Den Julleuchter verlieh ihm Himmler persönlich zu Weihnachten 1935 bzw. wie die Nazis das Weihnachtsfest umfunktionierten und umbenannten zum „Julfest“ 1935.
Aus der Koblenzer Zeit Turners ist bislang sehr wenig bekannt. Ich selbst weiß nur von seinen Kontakten zum „Nerother Wandelvogel“ und zu den Zwillingsbrüdern Karl und Robert Oelbermann. Turner war Mitglied des Verwaltungsrates des „Nerother Wandervogels“, der damals schon seinen Sitz auf der Burg Waldeck bei Dorweiler im Hunsrück hatte. Auch Turners Sohn Harald war bei den „Nerothern“. Er muss ein schwer zu bändigendes Temperament gehabt haben, lediglich vor Karl Oelbermann hatte er Respekt. Obwohl Turner ein Freund der „Nerother“ war, konnte auch er den Druck von Hitler-Jugend und Partei auf die „Nerother“ nicht verhindern. Der Druck diente übrigens dazu, dass sich die „Nerother“ selbst auflösen sollten. Sie waren für die HJ eine Konkurrenz-Organisation, die die Nazis wegen ihres Totalitätsanspruchs nicht neben sich dulden wollten. Turner gab dann den Oelbermännern“ auch den Rat, sich selbst aufzulösen, ehe sie zwangsweise aufgelöst wurden. So geschah es auch, allerdings schlossen sich die „Nerother“ in einem Geheimbund, der „Gefolgschaft Oelb“ zusammen.
Turner blieb den Brüdern Karl und Robert Oelbermann weiter verbunden. Noch im Januar 1936 schrieb er ihnen:
Euch beiden habe ich umso lieber geholfen, weil ich überzeugt davon bin, dass ihr – wie man so sagt – anständige Kerle seid, die sich nur von idealen Beweggründen leiten ließen und auch in Zukunft leiten lassen werden. Ihr könnt versichert sein, dass nach wie vor ich mich mit meiner ganzen Person schützend vor Euch stelle, weil ich ein Gegner jeder nicht offenen und nicht geraden Handlung bin.
All dies half aber nichts. Am 8. Februar 1936 wurde der „Nerother Wandervogel“ offiziell verboten. Eine Woche später verhaftete die Gestapo Robert Oelbermann. Der Bruder Karl befand sich zu dieser Zeit auf einer Afrikaexpedition. Er kehrte während der ganzen NS-Zeit nicht nach Deutschland zurück. Die Gestapo warf Robert Oelbermann vor, sich im Sommer 1935 in zwei Fällen homosexuell betätigt zu haben. Aufgrund von manipulierten Zeugenaussagen wurde Robert Oelbermann noch im selben Jahr zu 21 Monaten Zuchthaus verurteilt. Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler ordnete die Beschlagnahme der Burg Waldeck an, weil sie – wie es hieß – ein „Seuchenherd widerlicher Unzucht“ sei. Für die Gestapo war Oelbermann ein „Mensch, der überhaupt nicht wieder in die Freiheit gehört“. Unmittelbar nach Verbüßung seiner Zuchthausstrafe wurde er von der Gestapo ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Von dort aus brachte man ihn ins KZ Dachau. Am 29. März 1941 starb Robert Oelbermann im KZ Dachau, angeblich an einem „Versagen von Herz und Kreislauf bei Asthma und Ödemen“.
Das war kurz skizziert das Schicksal von Robert Oelbermann, eines ebenfalls in der Dauerausstellung porträtierten Opfers des Nationalsozialismus aus Koblenz und Umgebung.
Kehren wir nun zu Harald Turner zurück. Turners Stellung in Koblenz war nicht unangefochten. Das lag u.a. auch an seiner Nähe zum „Nerother Wandervogel“ und auch daran, dass er seinen Sohn noch nach dem Verbot der „Nerother“ mit auf eine Albanienfahrt schickte, die unter der Leitung Karl Oelbermanns stand.
In dieser Zeit wurden für Turners weitere Karriere wichtige Weichen gestellt. Hierzu gehörten seine „rassemäßige“ Durchleuchtung und die seiner Ehefrau. Im Sommer 1935 musste Turner für sich und seine Frau einen SS-Erbgesundheitsbogen und eine SS-Ahnentafel vorlegen. Sie können sich vorstellen, dass dies für Turner mit seinen englischen Vorfahren nur schwer möglich war. Auch seine Ehefrau hatte große Mühe, ihre Ahnen bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Mit einer gewissen Verspätung legte Turner den Ahnennachweis mit 43 amtlich beglaubigten Abschriften sowie einem Teil des Briefwechsels bei, den er zur Beschaffung der Urkunden geführt hatte. Dem Ahnennachweis seiner Ehefrau lagen gar 116 amtlich beglaubigte Abschriften bei.
Die anschließende „rassemäßige“ Überprüfung verlief für Turner günstig, denn sonst hätte er vom Reichsführer-SS zum „Julfest“ 1935 nicht den Julleuchter erhalten. Mit diesem „Julfest“ endete für Turner dann seine Koblenzer Zeit. Schon drei Wochen später machte er einen weiteren Karrieresprung. Am 17. Januar 1936 wurde er zum Ministerialdirektor im Preußischen Finanzministerium in Berlin ernannt. Am Tag der „Machtergreifung“, am 30. Januar des Jahres 1936, wurde er auch noch zum Oberführer der SS (= das ist so ein Dienstgrad zwischen Oberst und Generalmajor) befördert. Mit dieser Perspektive verließen Turner und seine Familie Koblenz. Turner sollte in den folgenden etwas mehr als neun Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ noch zahlreiche berufliche und persönliche Höhen und Tiefen erleben, er sollte aber nie mehr nach Koblenz zurückkehren.
In seinem weiteren beruflichen Werdegang spiegelte sich regelrecht der verbrecherische Expansionsdrang Hitler-Deutschlands wider. Turners erstes Einsatzgebiet wurde Tschechien. Bekanntlich einigten sich Chamberlain, Daladier, Mussolini im Münchner Abkommen Ende September 1938 auf die Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland. Dies war dann der Anfang der von Hitler längst ins Auge gefassten „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“. Am 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in die „Rest-Tschechei“ ein. Schon einen Tag später wurde die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ verkündet. Danach wurde das Protektorat Teil des Großdeutschen Reiches mit – wie es hieß – „autonomer“ Selbstverwaltung, während sich das Reich die außenpolitische Vertretung und den „militärischen Schutz“ vorbehielt. Dieser Vorgang markierte – nach der „Rückkehr des Saargebiets“ ins Reich aufgrund einer Volksabstimmung, nach dem „Anschluss“ Österreichs und der „Abtretung“ des Sudetengebiets an das Reich im Münchner Abkommen – einen qualitativen Sprung in der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Denn zum ersten Mal hatte Deutschland einen europäischen Nachbarstaat gewaltsam unterworfen, aufgelöst, teilweise annektiert und seinen Machtbereich über die Siedlungsgebiete von Deutschen oder sich als solche empfindenden Menschen hinaus ausgedehnt. Weder die Forderung „Deutschland den Deutschen“ noch die Revision von „Versailles“ konnten als Rechtfertigung für diesen Gewaltakt dienen. Vielmehr zeigte sich das deutsche Streben nach einer beherrschenden Stellung in Mitteleuropa unverhüllt und aggressiv.
Und Harald Turner war dabei. Und zwar als Beamter bei der deutschen Verwaltung in Karlsbad/Böhmen.
Man wusste offensichtlich, was man an ihm hatte. Denn schon zuvor, im Jahre 1938, hatte man ihn zum Staatsrat ernannt. Hierbei handelte es sich lediglich um einen Ehrentitel. Eine politische Funktion war damit nicht verbunden. Zum Jahrestag der „Machtergreifung“ im Jahre 1939 wurde Turner zum Brigadeführer der SS (= Generalmajor) befördert.
Als Hitler-Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg vom Zaum brach, war Turner ebenfalls dabei. Diesmal als Soldat, und zwar als Major und Bataillonskommandeur einer Personalnachschubeinheit. Nach dem Blitzkrieg und Blitzsieg gegen Polen verließ Turner die deutsche Wehrmacht. Er blieb aber in Polen und wechselte als Beamter in die Verwaltung des Generalgouvernements, wie der nicht annektierte deutsch besetzte Teil Polens damals genannt wurde. Es wurde ein deutsches „Nebenland“, das von dem Generalgouverneur Hans Frank regiert wurde. Es war auch Frank, der Turner in die Verwaltung des Generalgouvernements wechseln ließ.
Dort blieb Turner aber nicht lange. Nachdem Hitler-Deutschland am 10. Mai 1940 mit dem sog. Westfeldzug Holland, Belgien und Luxemburg überfallen hatte und dann auch gleich – wie Hitler meinte – mit dem „glorreichsten Sieg aller Zeiten“ noch Frankreich besiegt hatte, wurde Turner nach Frankreich beordert. Nach dem Waffenstillstand am 22. Juni 1940 wurde Frankreich viergeteilt: der eine Teil war Elsaß/Lothringen, der zweite Teil die zu Belgien geschlagene Nordzone, der dritte Teil das eigentliche Besatzungsgebiet (mit Paris als Zentrum) und der vierte Teil schließlich war der unbesetzte Süden (= Vichy-Frankreich). Für das besetzte Frankreich wurde eine Militärverwaltung eingerichtet. An der Spitze der Militärverwaltung stand ein General, General Otto von Stülpnagel. Diesem unterstanden ein „Kommandostab“ und ein „Verwaltungsstab“. Der Verwaltungsstab wiederum unterteilte sich in eine Abteilung Verwaltung und eine Abteilung Wirtschaft. Chef der Abteilung Verwaltung war Dr. Werner Best.
Regional war die Militärverwaltung in fünf Verwaltungsbezirke untergliedert, einer davon war der Bezirk Paris. Chef dieses Militärbezirks war – Turner. Über seine Tätigkeit dort ist wenig bekannt. Diese muss aber im Kontext mit der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich insgesamt gesehen werden. Zudem dürfte Turner in Frankreich das Rüstzeug erhalten haben, das ihn später zu weiteren Aufgaben empfahl und befähigte.
Während Turner im Protektorat Böhmen und Mähren und im Generalgouvernement Teil einer deutschen Verwaltung war, die im Wesentlichen unmittelbar Regierung und Verwaltung in den besetzten Gebieten ausübte, und den einheimischen Kräften lediglich lokale Verwaltungen und den Vollzugsbereich überließ, war die Situation im besetzten Frankreich eine andere. Grundgedanke der Besatzung dort war die bruchlose und vollständige Fortsetzung der gesamten Tätigkeit der französischen Verwaltungsbehörden, die von den deutschen Besatzungsoffizieren lediglich kontrolliert werden sollten. Voraussetzung dafür war eine Kollaboration, eine mehr oder minder erzwungene Bereitschaft sowohl der französischen Verwaltung als auch der Bevölkerung zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. Diese Bereitschaft war jedenfalls am Anfang weitgehend vorhanden, so dass die deutsche Besatzung in der Pariser Zentrale mit ca. 200 und im besetzten Gebiet mit insgesamt ca. 1000 Offizieren und Beamten auskam, um das besetzte Frankreich zu regieren.
In der ersten Phase der deutschen Besatzung in Frankreich, in der Turner Chef des Militärverwaltungsbezirks Paris war, ging es im Wesentlichen – soweit es hier interessiert – um zwei Probleme: Einmal um die Ausschaltung der politischen Gegner und zum anderen um die ersten Maßnahmen gegen die in Frankreich lebenden Juden. Das eine Problem wurde mit der weitgehenden Übertragung der in Deutschland praktizierten „Schutzhaft“ auf die Verhältnisse in Frankreich gelöst. Das zweite Problem, die sog. Judenfrage, wurde mit Judenverordnungen angegangen. Damit wurden bei den französischen Präfekten Judenregister aufgebaut, alle jüdischen Geschäfte gekennzeichnet und der jüdische Besitz erfasst. Weiter wurde eine Meldepflicht für jüdische Wirtschaftsunternehmen eingeführt. Schon Ende des Jahres 1940 zeigten diese Maßnahmen erste „Erfolge“ und sie bildeten die Grundlage für die wirtschaftliche Enteignung der Juden in den nächsten Monaten.
Diese weitere Entwicklung erlebte Turner nicht mehr vor Ort mit. Denn Anfang 1941 wurde er von seinem Posten als Chef des Militärverwaltungsbezirks Paris abberufen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Sie dürften aber für Turner nicht sehr vorteilhaft gewesen sein, denn zwischen seiner Abberufung und der Übertragung einer neuen Aufgabe lag eine gewisse Zeitspanne.
Während Turner Anfang 1941 auf eine neue Aufgabe wartete, entstand eine „Festschrift“ für Heinrich Himmler zu dessen 40. Geburtstag. Einer der Beiträger war Werner Best. Sein Aufsatz trug den Titel: „Grundfragen einer deutschen Großraumverwaltung“. Dieser Beitrag dürfte Turners künftige Arbeit weitgehend mit beeinflusst haben, deshalb soll er hier kurz skizziert werden:
Danach ist Gewalt die Grundlage jeder Großraumordnung, und mit Gewalt muss sich das stärkste Volk gegenüber den anderen durchsetzen. Wie die in die Großraumordnung gezwungenen Völker dann im Einzelnen zu behandeln seien, sei eine taktische Frage – abhängig von der „Rasse“, dem kulturellen Entwicklungsstand, der politischen Entwicklung und der Tradition des jeweiligen Volkes. Sie sei aber auch abhängig von anderen Faktoren, wie räumliche Gestalt und Lage des jeweiligen Gebietes. Eine generelle Regel gebe es nicht; Maßstab sei allein das Interesse des „Führungsvolkes“. In dem Aufsatz lieferte Best eine komplette Systematik aller möglichen Herrschafts- und Besatzungsformen und richtete sie streng nach Prinzipien „rationalen“ Verwaltungshandelns, aber gleichzeitig auch nach „völkischen“ Prinzipien aus. Außerdem beschäftigte er sich mit der Frage, was zu tun sei, wenn innerhalb des Raumes, in dem ein werdendes „Führungsvolk“ seine Großraum-Ordnung erreichen wolle, ein Volk oder mehrere existierten, die das Führungsvolk aus welchen Gründen auch immer nicht in dem von ihm beherrschten Großraum dulden wolle oder könne. Gemeint waren damit die Juden. Bests Antwort war: Wenn im Großraum Völker lebten, die vom „Führungsvolk“ „unerwünscht“ seien und nicht in die Großraum-Ordnung eingegliedert werden sollten, so sei eine lebensgesetzlich zwingende Notwendigkeit, dass diese Völker vom „Führungsvolk“ entweder „total vernichtet (oder aus seinem Bereiche total verdrängt)“ werden müssten.
Zur gleichen Zeit, als Best diesen Aufsatz schrieb, überfiel Hitler-Deutschland zusammen mit Italien und Ungarn in der Tradition der Blitzkriege und Blitzsiege im April 1941 Jugoslawien und Griechenland, um die südöstliche Flanke für den Angriff auf die Sowjetunion zu sichern. Deutsche Truppen eroberten das Königreich Jugoslawien in nicht einmal zwei Wochen. Noch vor der Kapitulation der jugoslawischen Armee und auch in den ersten Tagen danach kam es bereits zu Geiselerschießungen von willkürlich festgenommenen Zivilisten. Aus dieser Zeit gibt es Fotos, eins davon will ich Ihnen hier zeigen. Dieses Bild hier zeigt eine Erschießung von Serben in Pancevo bei Belgrad am 22. April 1941. Nach der Erschießung der Männer prüft ein SS-Arzt, ob alle tot sind. Ein Wehrmachtsoffizier gibt einem Schwerverletzten den Fangschuss.
Nach der Zerschlagung Jugoslawiens schaffte Hitler-Deutschland mit seinen Verbündeten die „Neuordnung des Balkanraums“. Es entstand ein Konglomerat von Besatzungszonen, Vasallenstaaten und territorialen Abtretungen. Das Deutsche Reich stellte Serbien nebst dem Banat unter deutsche Militärverwaltung.
Die Militärverwaltung bestand aus einem militärischen Operationsstab und einem zivilen Verwaltungsstab. Turner wurde der Chef der Zivilverwaltung. Ihm unterstanden auch die Abteilung für „jüdische Angelegenheiten“ und auch die Einsatzgruppe Serbien. Turner vertrat das Konzept einer pragmatischen Besatzungspolitik wie er sie im besetzten Frankreich kennen gelernt hatte. Mit Hilfe eines kleinen Arbeitsstabes sollte die einheimische Verwaltung beaufsichtigt; dabei setzte man auf die Kollaborationsbereitschaft im Lande. Das gelang auch zunächst.
Die erste Phase der deutschen Besetzung Serbiens war auch gekennzeichnet von einer Diskriminierung der Juden und Zigeuner. Dies geschah durch die Übernahme von reichsdeutschen Regelungen und ihre Übertragung auf serbische Verhältnisse. Zahlreiche Anordnungen der deutschen Verwaltung legten fest, wer als Jude und Zigeuner zu betrachten war, die Juden und Zigeuner wurden gezählt und registriert, sie mussten gelbe Armbinden tragen, wurden aus allen öffentlichen Ämtern und privaten Betrieben entfernt, ihr Grundbesitz wurde „arisiert“ und die Zwangsarbeit wurde eingeführt. Diese Repressionen gegenüber Juden und Zigeunern verliefen relativ unkompliziert.
Ein Schlaglicht auf die Situation wirft ein Feldpostbrief von Peter G. vom 18. Juni 1941. Darin heißt es u.a.:
Manchmal können die Juden ja einem Leid tun. Hier laufen sie noch in rauen Mengen umher. Eigenartig ist aber, dass ich bisher noch keinen Rassejuden angetroffen habe. Äußerlich kann man sie von den Ariern gar nicht unterscheiden. Auf den Dörfern wird dieses Pack zu Schipparbeiten usw. herangezogen. Morgens muss die Bagage antreten und einstimmig im Chor den Morgenspruch aufsagen: „Wir haben keine Ahnung von Deutschlands Macht und Stärke!“ Ganz ordentlich, nicht wahr? Wir werden die Bande schon zur Zucht erziehen. Was die Bevölkerung vor uns für einen Respekt hat, ist unheimlich. Im Übrigen sind wir bei allen sehr angesehen und beliebt. Ob Deutsche, Ungarn, Serben oder Rumänen.
Die Situation änderte sich mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion (sog. Fall Barbarossa) am 22. Juni 1941. Noch am selben Tag, also am 22. Juni 1941, befahl Turner die Verhaftung sämtlicher führender Kommunisten und ehemaliger Spanienkämpfer. Zugleich musste die jüdische Gemeinde Belgrads täglich 40 Männer bereitstellen, die bei etwaigen Anschlägen von Partisanen als Geiseln erschossen werden sollten.
Kurze Zeit später, am 4. Juli 1941, rief die jugoslawische kommunistische Partei, von Moskau dazu angewiesen, zum bewaffneten Kampf gegen die „Besatzer und ihre einheimischen Helfershelfer, gegen die Henker unserer Völker“ auf. KP-Chef war Josip Broz genannt Tito. Er schloss sich dann auch bald den Partisanenverbänden an. Die Aufstandsbewegung entwickelte sich zu einer großflächigen Revolte. Schon nach den ersten Zwischenfällen reagierte die deutsche Besatzungsmacht mit unvergleichlicher Härte. Es erging dann der Befehl: „In jeder von Truppen belegten Ortschaft des gefährdeten Gebiets sind sofort Geiseln (aus allen Bevölkerungsschichten!) festzunehmen, die nach einem Überfall zu erschießen und aufzuhängen sind.“ Daraufhin kam es – wie es hieß – „zu „sofortigen Sühnemaßnahmen gegen Sabotageakte gegenüber der deutschen Wehrmacht, bei denen bis Ende August insgesamt rund 1.000 Kommunisten und Juden erschossen oder öffentlich aufgehängt worden sind, bei denen Häuser von Banditen, sogar ein ganzes Dorf niedergebrannt wurden“.
Gleichwohl gelang es den deutschen Besatzern nicht, die Partisanen zu schlagen. Die eingesetzten Truppen waren zahlenmäßig zu gering und schlecht ausgebildet. Turner meldete dementsprechend nach Berlin, „dass die hier zur Verfügung stehenden Truppen für den Kampf gegen die aufständischen Elemente bei den hiesigen Geländeverhältnissen, wie sich ergab, völlig ungeeignet waren.“
Zur gleichen Zeit begannen die Deutschen, überall in Serbien jüdische Männer zu verhaften und in Konzentrationslager zu verschleppen. Die meisten von ihnen waren in einem KZ am Stadtrand von Belgrad. Sie waren das „Geiselreservoir“ für weitere „Sühnemaßnahmen“.
Der Terror der Deutschen erhielt eine neue Qualität, nachdem die Deutsche Wehrmacht unmittelbar mit der „Partisanenbekämpfung“ beauftragt wurde. Der neue Befehlshaber von Serbien, General Böhme, erhielt von Hitler alle Vollmachten, um „auf weite Sicht im Gesamtraum mit den schärfsten Mitteln die Ordnung wiederherzustellen“.
In einem der ersten Befehle machte General Böhme den deutschen Soldaten in Serbien klar, um was es hier ging:
Eure Aufgabe ist in einem Landstreifen durchzuführen, in dem 1914 Ströme deutschen Blutes durch die Hinterlist der Serben, Männer und Frauen, geflossen sind. Ihr seid Rächer dieser Toten. Es muss ein abschreckendes Beispiel für ganz Serbien geschaffen werden, das die gesamte Bevölkerung auf das Schwerste treffen muss. Jeder, der Milde walten lässt, versündigt sich am Leben seiner Kameraden. Er wird ohne Rücksicht auf die Person zur Verantwortung gezogen und vor ein Kriegsgericht gestellt.
Anfang Oktober 1941 war es dann so weit. Nachdem am 2. Oktober deutsche Soldaten in einen Hinterhalt der Partisanen geraten, 21 Mann sofort gestorben waren und ein weiterer später seinen Verletzungen erlegen war, erteilte General Böhme zwei Tage später seinen ersten „Judenmordbefehl“: Zur „Sühne“ befahl er, für die 21 gefallenen Soldaten 2.100 „Geiseln“ zu erschießen. Den Chef der Militärverwaltung, Turner, wies er an, „2.100 Häftlinge in den Konzentrationslagern Sabac und Belgrad (vorwiegend Juden und Kommunisten) zu bestimmen“. Erschossen wurden dann tatsächlich auch Juden und Zigeuner, um auf die erforderliche Opferzahl zu kommen, wurden dann auch noch serbische Zivilisten erschossen.
Eine Woche später erließ General Böhme einen Tagesbefehl, der die systematische Liquidierung der erwachsenen männlichen Juden und der nichtsesshaften Zigeuner durch die Wehrmacht einleitete. Böhme ordnete an, „verdächtige männliche Einwohner und sämtliche Juden festzunehmen und sie im Verhältnis 1:100 für jeden getöteten und von 1:50 für jeden verwundeten Wehrmachtssoldaten zu erschießen“.
Sofort nach diesem Judenmordbefehl schritten die Exekutionskommandos der Wehrmacht zur Tat. Sie hatten es dabei nicht sehr schwer, da der Zugriff auf Juden und auf Zigeuner ohne weiteres möglich war, waren sie doch bereits in Lagern interniert.
Am folgenden Tag und am 11. Oktober 1941 kam es zu Erschießungen von Juden in der Umgebung von Pancevo bzw. des Schießstandes von Belgrad. Hierüber ist ein Bericht erhalten geblieben, aus dem ich Ihnen folgendes zitieren möchte:
Nach gründlicher Erkundung des Platzes und Vorbereitung erfolgte die erste Erschießung am 9. Oktober 1941.
Die Gefangenen wurden mit ihrem Notgepäck von dem Lager in Belgrad um 5.30 Uhr abgeholt. Durch Ausgabe von Spaten und sonstigem Arbeitsgerät wurde ein Arbeitseinsatz vorgetäuscht. Jedes Fahrzeug wurde nur mit drei Mann bewacht, damit aus der Stärke der Bewachung keine Vermutungen über die wahre Handlung aufkommen sollten.
Der Transport erfolgte ohne jegliche Schwierigkeiten. Die Stimmung der gefangenen während des Transportes und der Vorbereitung war gut. Sie freuten sich über die Entfernung vom Lager, da angeblich ihre Unterbringung dort nicht wunschgemäß wäre. Die Gefangenen wurden 8 Kilometer von der Erschießungsstelle beschäftigt und später nach Gebrauch zugeführt. (…) Die Erschießung erfolgte mit Gewehr auf eine Entfernung von 12 Meter. Für jeden Gefangenen wurden 5 Schützen zum Erschießen befohlen. Außerdem standen dem Arzt zwei Schützen zur Verfügung, die nach Anweisung des Arztes den Tod durch Kopfschüsse herbeiführen mussten. (…) Die Haltung der Gefangenen beim Erschießen war gefasst. Zwei Leute versuchten die Flucht zu ergreifen und wurden dabei sofort erschossen. (…) Es wurden am 9. Oktober 1941 180 Mann erschossen. Die Erschießung war um 18.30 Uhr beendet. Besondere Vorkommnisse waren nicht zu verzeichnen. Die Einheiten rückten befriedigt in ihre Quartiere ab. (…)
Die zweite Erschießung konnte (…) erst am 11. Oktober 1941 erfolgen. (…) Sie verlief planmäßig. Es wurden 269 Mann erschossen. Bei beiden Erschießungen ist kein Gefangener entwischt, und die Truppe hatte keine besonderen Ereignisse und Zwischenfälle zu verzeichnen. Im Ganzen wurden am 9. und am 11. Oktober 1941 449 Mann von den genannten Einheiten erschossen. Leider musste aus Einsatzgründen eine weitere Erschießung von den genannten Einheiten eingestellt werden und eine Übergabe des Auftrages an (eine andere Einheit) erfolgen.
Wenige Tage zuvor war Turner am 27. September 1941 noch zum SS-Gruppenführer (= Generalleutnant) befördert worden. Die Beförderung erfolgte aus Anlass seines 50. Geburtstages. Diesen feierte er am 8. Oktober 1941. Zum Geburtstag hatte ihm auch ein Freund, der Höhere SS- und Polizeiführer von Danzig Richard Hildebrandt, gratuliert und ihm ein Büchlein geschenkt.
Eine Woche nach diesen beiden Erschießungsaktionen bedankte sich Turner bei Hildebrandt für das „Büchlein, das eine willkommene Abwechslung in dem ewigen Einerlei des hiesigen Dienstes sein wird“.
Dann heißt es in dem Brief, dass hier der Teufel los sei, wisse er ja wohl. Es gebe Mord, Sabotage usw. Fünf Wochen zuvor habe er die ersten 600 Männer „an die Wand gestellt“, dann 2.000, kürzlich noch einmal 1.000. Weiter führte Turner aus:
Und zwischendurch habe ich dann in den letzten acht Tagen 2000 Juden und 200 Zigeuner erschießen lassen nach der Quote 1:100 für bestialisch hingemordete deutsche Soldaten und weitere 2.200, ebenfalls fast nur Juden, werden in den nächsten Tagen erschossen. Eine schöne Arbeit ist das nicht! Aber immerhin muss es sein, um einmal den Leuten klar zu machen, was es heißt, einen Soldaten überhupt nur anzugreifen, und zum anderen löst sich die Judenfrage auf diese Weise am schnellsten. (…) Es ist ja eigentlich falsch, wenn man es genau nimmt, dass für ermordete Deutsche, bei denen ja das Verhältnis 1:100 zu Lasten der Serben gehen müsste, nun 100 Juden erschossen werden, aber die haben wir nun mal im Lager gehabt, - schließlich sind es ja auch serbische Staatsangehörige und sie müssen ja auch verschwinden. Jedenfalls habe ich mir keine Vorwürfe zu machen, dass es von meiner Seite aus an der nötigen Rücksichtslosigkeit des Durchgreifens zum Schutze des deutschen Ansehens, aber auch der Angehörigen der deutschen Wehrmacht, gefehlt hat.“
In den nächsten Tagen kam es zu weiteren Erschießungen. In einem Runderlass vom 26. Oktober 1941 erläuterte Turner den Feldkommandanturen die Notwendigkeit dieser Aktion. Es müsse – so hieß es – grundsätzlich daran erinnert werden, dass Juden und Zigeuner ganz allgemein ein Element der Unsicherheit und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und den Frieden seien. Es sei die jüdische Intelligenz gewesen, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen habe; sie müsse daher vernichtet werden. Was den Zigeuner anbelange, so Turner weiter, so könne er aus Gründen seiner inneren und äußeren „Konstruktion“ kein nützliches Mitglied der internationalen Völkergemeinschaft sein.
Die Verwaltung kam mit dem Zählen der exekutierten Menschen kaum nach. Geradezu in einem Blutrausch wurden von Wehrmachtseinheiten innerhalb von nur zwei Wochen mehr als 9.000 Juden, Zigeuner und andere Zivilisten exekutiert.
Erwähnenswert ist auch noch ein Bericht eines Oberleutnants vom 1. November 1941 über die Erschießung von Juden und Zigeunern. Darin heißt es u.a.:
Nach Vereinbarung mit der Dienststelle der SS holte ich die ausgesuchten Juden bzw. Zigeuner vom Gefangenenlager Belgrad ab. (…) Das Erschießen der Juden ist einfacher als das der Zigeuner. Man muss zugeben, dass die Juden sehr gefasst in den Tod gehen – sie stehen sehr ruhig -, während die Zigeuner heulen, schreien und sich dauernd bewegen, wenn sie schon auf dem Erschießungsplatz stehen. Einige sprangen sogar vor der Salve in die Grube und versuchten sich tot zu stellen.
Anfangs waren meine Soldaten nicht beeindruckt. Am 2. Tage machte sich schon bemerkbar, dass der eine oder andere nicht die Nerven besitzt, auf längere Zeit eine Erschießung durchzuführen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass man während der Erschießung keine seelischen Hemmungen bekommt. Diese stellen sich jedoch ein, wenn man nach Tagen abends in Ruhe darüber nachdenkt.
Inzwischen waren etwa 6.000 Juden und tausende Zigeuner „liquidiert“. Damit standen gar nicht mehr genügend Juden und Zigeuner für solche „Sühnemaßnahmen“ zur Verfügung. Daraufhin sah sich die Wehrmacht genötigt, für weitere „Sühnemaßnahmen“ weitgehend auf nicht-jüdische und nicht-zigeunerische Serben zurückzugreifen. Allein zwischen Oktober und Dezember 1941 wurden daraufhin 25.000 bis 30.000 serbische Menschen unter dem Vorwand der Sühne ermordet.
Über diese Massenmorde wurde auch Buch geführt. Es gab Formblätter für „Geiselerschießungen“, in die maschinenschriftlich nur noch das Datum, der zu „sühnende“ Vorfall, die Zahl der zu exekutierenden und die Exekutionseinheit eingesetzt werden mussten.
In einem Brief vom 4. Dezember 1941 an den Freund Richard Hildebrandt schrieb Turner mit Blick auf die Schwierigkeit, der Partisanen habhaft zu werden:
Hier hilft eben nur die von mir beabsichtigte brutale Ausrottung aller, die sich im Sommer nicht in ihrer Wohnung aufgehalten haben. Dann wird nicht nur im Frühjahr kein Aufstand mehr kommen, sondern auch für alle Zeiten den guten Leuten die Lust genommen werden, Dummheiten zu machen.
Nach der Ermordung der jüdischen Männer blieb noch ein Problem: Was sollte mit den ca. 15.000 jüdischen Frauen und Kindern geschehen? In einem Rundschreiben vom 26. Oktober 1941 an die Feld- und Kreiskommandanten verwies Turner darauf, dass es der Auffassung vom deutschen Soldaten und Beamten widerspreche, Frauen als Geiseln zu nehmen, es sei denn, es handele sich um Frauen oder Angehörige der in den Bergen kämpfenden Aufständischen.
Turner plädierte dafür, die jüdischen Frauen und Kinder in ein Durchgangslager abzuschieben. Dafür wurde die in der Nähe von Belgrad gelegene Stadt Semling (Zemun oder Sajmiste) ausgewählt. Die Organisation Todt ging daran, dort Baracken herzurichten. Etwa im Dezember 1941 begannen deutsche Truppeneinheiten, die Familien der getöteten Geiseln nach Sajmiste zu bringen. Das Lager wurde von der SS bewacht. Anfang März 1942 traf dann aus Berlin ein Spezialfahrzeug im Lager ein. Es war ein Gaswagen.
Unter dem 11. April 1942 brüstete sich Turner:
Schon vor Monaten habe ich alles an Juden im hiesigen Lande greifbare erschießen lassen und sämtliche Judenfrauen und –kinder in einem Lager konzentrieren lassen und zugleich mit Hilfe des SD einen „Entlausungswagen“ (Gaswagen, Erg. d. A.) angeschafft.
Mit Ausnahme der Sonntag- und Feiertage wurden die Frauen und Kinder des Lagers in den Wagen verladen. Nach einigen hundert Metern wurde das Gas mit einem Schlauch in das Wageninnere geleitet. Der Wagen fuhr dann mit den sterbenden Juden durch Belgrad und brachte sie zu einem Schießplatz; dort waren für die Leichen bereits Gräber ausgehoben. Das Morden ging zügig voran. Waren im März 1942 noch ca. 5.000 bis 6.000 Juden im Lager Sajmiste, so waren es im April nur noch 2.974 und am 10. Mai 1942 war das Lager leer und die „Operation“ beendet. Befriedigt gab man die Meldung heraus, es gebe in Serbien abgesehen von den Juden in Mischehen „keine Judenfrage mehr“. Gleichzeitig schickte man den Gaswagen nach Berlin zurück; er war für weitere Einsätze in Weißrussland vorgesehen.
Als Ende August 1942 der Oberbefehlshaber wechselte, meldete Turner dem neuen Oberbefehlshaber Südost: „Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst.“
Turners Position in Serbien war schon länger nicht mehr unangefochten. Im Spätsommer 1942 geriet er dann endgültig ins Abseits. Grund war neben persönlichen Querelen und Animositäten vor allem Turners angebliche „weichliche Art der Regierung“ und sein Festhalten an der serbischen Kollaborationsregierung. Zum Jahresende 1942 wurde Turner als Militärverwaltungschef von Serbien abgelöst.
Das war ein schwerer Schlag für diesen extrem ehrgeizigen und Macht besessenen Menschen. Turner kehrte nach Berlin und in das Preußische Finanzministerium zurück. Er gab aber nicht auf. Da er offensichtlich im Ministerium nicht ausgelastet war, promovierte er in der Zeit von 1943 bis 1944 an der Humboldt-Universität in Berlin zum Doktor der Volkswirtschaft.
Unterdessen hatte sich für Turner eine günstige Personalentwicklung ergeben. Sein Freund Hildebrandt war inzwischen zum Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) ernannt worden und dann ab Anfang 1944 zugleich auch zum Höheren SS- und Polizeiführer Schwarzes Meer. Dadurch war der Chefposten beim SS-Rasse- und Siedlungshauptamt nicht ständig besetzt. Das war dann Anlass für Hildebrandt, Himmler zu bitten, Turner vertretungsweise mit der Führung des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes zu beauftragen. Dementsprechend wurde Turner ab Anfang 1944 mit der Vertretung Hildebrandts beauftragt.
Auch an diesem neuen Posten konnte sich Turner nicht lange erfreuen. Mitte August 1944 wurde dem Reichsführer-SS ein Vorfall in der SS-Junkerschule Tölz gemeldet, der sich sechs Wochen vorher ereignet hatte und zur sofortigen Enthebung Turners von seiner Dienststellung als Führer des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes und seiner Beurlaubung vom Dienst führte. Anfang Juli 1944 hatte Turner die SS-Junkerschule in Tölz besucht und mit ehemaligen Angehörigen des Rasse- und Siedlungshauptamtes im Junkerheim einen feucht-fröhlichen Abend verbracht. Unter erheblichem Alkoholgenuss und – wie es hieß – „stark gelockerter Verfassung“ hatte Turner Bormann, den Leiter der Partei-Kanzlei, angegriffen und ihn für manche falsche Entscheidung Hitlers verantwortlich gemacht. Außerdem behauptete Turner, zwischen Bormann und Himmler gäbe es Rivalitäten. Abschließend meinte Turner, Bormann sei aus seiner Position als Leiter der Partei-Kanzlei zu entfernen, da er viele Feinde habe und sehr gefährlich sei.
Daraufhin leitete die SS ein Disziplinarverfahren. Die Untersuchung bestätigte die Vorwürfe. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hätte Turner eigentlich aus der SS entfernt werden müssen. In seiner Entscheidung vom 13. Januar 1945 sah der Reichsführer-SS aber von dieser Maßnahme ab und begründete dies wie folgt:
Zugunsten von Turner kann ich lediglich in die Wagschale werfen, dass er als Beamter sich bereits frühzeitig in der Kampfzeit zur Partei und SS bekannt hat und dass seine Redensarten nach meiner Überzeugung auf die mir bekannte Unüberlegtheit, Poltrigkeit und Streitsucht des T. zurückzuführen sind. Nur aus diesen Gründen habe ich mich dazu entschlossen, meine Entscheidung noch zurückzustellen und Turner die Möglichkeit zum Einsatz und zur Bewährung an der Front zu geben.
Gleichzeitig lasse ich mich hierbei von dem Gedanken leiten, dass Turner abseits von Ministerien, Stäben und dem Gerüchtenest Berlin in der gesünderen Luft der Front die Torheit seines diesmaligen und manches früheren Verhaltens einsieht und durch restlosen Einsatz an der Front die schwere Entgleisung, die er sich als hoher SS-Führer hat zuschulden kommen lassen, vergessen macht.
Die „Bewährung an der Front“ hatte Turner offensichtlich nicht in seiner Lebensplanung vorgesehen. Ihm gelang es, durch Krankheit seinen Einsatz noch in den letzten Kriegstagen erst hinauszuschieben und schließlich ganz zu verhindern. Wie sein Freund Hildebrandt Ende Januar 1945 angab, lag Turner (angeblich) mit einer schweren Thrombose zu Hause. Damit schaffte es Turner, der früher so gern Soldat war, in diesem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Soldat werden zu müssen.
Turner überlebte den Krieg. Nach einer Fahrt durch das besiegte Deutschland mit dem Fahrrad zu seiner Familie in Schleswig-Holstein holte er sich eine Lungenentzündung und kam ins Krankenhaus in Flensburg. Von dort aus hätte er mit Hilfe eines englischen Offiziers gleichen Namens nach England fliehen können. Das lehnte er aber ab, da Turner der Auffassung war, sich in allen dienstlichen Angelegenheiten stets korrekt verhalten zu haben. Er kam dann in englische Kriegsgefangenschaft und wurde an Jugoslawien ausgeliefert. Dort machte man ihm zusammen mit anderen Verantwortlichen für die Massenmorde in Serbien den Prozess und verurteilte ihn als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Im März oder April 1947 wurde das Urteil vollstreckt und Turner in Belgrad hingerichtet.