Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Dr. med. Johann Recktenwald (geb. 1882)

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich begrüße Sie sehr herzlich zum zweiten Vortrag in der diesjährigen Staffel über Widerstand und Verfolgung in Koblenz 1933 bis 1945. In der diesjährigen Staffel der VHS-Vorträge haben wir uns ja wieder Täter aus Koblenz vorgenommen. Das letzte Mal – vor zwei Wochen – habe ich den Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier, später: Gau Moselland, Gustav Simon porträtiert. Heute will ich Ihnen einen Mediziner vorstellen, Dr. med. Recktenwald, genauer gesagt: einen wie man so sagt Human-Mediziner – obwohl das mit dem „Humanen“ hier ist -wie Sie noch sehen werden - so eine Sache ist.

Wie dem auch sei. Recktenwald ist der erste Mediziner, den ich in dieser Reihe porträtiere. Ich darf in Erinnerung rufen, mit wem wir uns bisher befasst haben: Im letzten Semester habe ich die Tätergeschichten begonnen mit dem Kesselschmied Emil Faust, dann habe ich den Verwaltungsjuristen Harald Turner porträtiert und schließlich den Justizjuristen Leonhard Drach. Vor 14 Tagen habe ich Ihnen von Gustav Simon, dem Diplom-Handelslehrer und abgebrochenen Jurastudenten erzählt. Also: Dr. Recktenwald ist in der Tat der erste von mir porträtierte Mediziner. – Und weil das so ist, möchte ich Ihnen zunächst etwas allgemein zu den Medizinern erzählen.

Wie wir ja inzwischen wissen, sind die Nürnberger Prozesse eine wichtige Erkenntnisquelle über NS-Täter. Vor mehr als 60 Jahren – am 1. Oktober 1946 – ergingen die Urteile des Internationalen Militär-Tribunals gegen die verbliebenen NS-Größen aus der Politik. Angeklagt waren Göring und 23 weitere Hauptkriegsverbrecher und sechs Organisationen. Anklagepunkte waren: Verbrechen gegen den Frieden (Planung und Führung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. An diesen Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess schlossen sich 12 Nachfolgeprozesse an. Der erste dieser Nachfolgeprozesse war der „Fall 1“: Der Nürnberger Ärzteprozess. In diesem Prozess gab es vier Hauptanklagepunkte, und zwar:

  • Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen,
  • Kriegsverbrechen (insbesondere medizinische Menschenversuche),
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
  • Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen.

Hinter diesen abstrakten Vorwürfen standen konkrete Personen und ihre Taten, als da waren: Hunderttausendfacher „Euthanasie“mord, brutale und tödliche Menschenexperimente sadistische medizinische Quälereien bisher unbekannter Art.

Im Einzelnen behandelte der Nürnberger Ärzteprozess die Dachauer Unterdruck- und Unterkühlungsexperimente, Versuche zur Trinkbarmachung von Meereswasser, Fleckfieber-Impfstoffversuche und die Hepatitis-epidemica-Virus-Forschung, Sulfonamid-, Knochentransplantations- und Phlegmoneversuche, Humanexperimente mit den Kampfstoffen Lost und Phosgen, die Herkunft der jüdischen Skelettsammlung für die „Reichsuniversität“ Straßburg, den als Euthanasie-Aktion verbrämten Krankenmord an Psychiatriepatienten und die experimentelle Vorbereitung für Massensterilisationen.

Auf der Nürnberger Anklagebank saß, neben den wenigen stellvertretenden Haupttätern, auch die in großen Teilen willfährige deutsche Medizin unter der NS-Diktatur, eine Medizin, deren Hauptvertreter es verstanden hatten, ihre allgemeinpolitischen und standespolitischen Interessen mit denen der NS-Ideologie auf einen Nenner zu bringen.

Das Gerichtsverfahren dauerte vom 9. Dezember 1946 bis zum 19. Juli 1947. Am 20. August 1947 wurde das Urteil verkündet: 7 Todesurteile, zahlreiche lebenslängliche Haftstrafen, einige Haftstrafen von fünfzehn bzw. zehn Jahren sowie einigen Freisprüche. – Darüber gibt es übrigens ein hochinteressantes, aber vollständig in Vergessenheit geratenes Buch: „Medizin ohne Menschlichkeit“. – Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Herausgegeben und kommentiert von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, erschienen in der Fischer Bücherei, Frankfurt/Main 1960. Dieses Buch ist im Übrigen die Neuausgabe der 1947 von den beiden Autoren veröffentlichten Schrift „Das Diktat der Menschenverachtung“.

Nicht in Nürnberg, sondern hier bei uns in Koblenz gab es ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, das am 4. Februar 1948 zur Anklage des Oberstaatsanwalts in Koblenz bei der Strafkammer beim Landgericht in Koblenz gegen drei Ärzte der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Andernach führte. Hauptangeklagter war der ehemalige Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Dr. med. Johann Recktenwald. Der Vorwurf gegen ihn lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mord in einer Vielzahl von Fällen. Wir wollen hier der Frage nachgehen, wie es zu dieser Anklage kam, und wie es mit der Anklage gegen Dr. Recktenwald und mit ihm selbst weiterging.

Johann Rechtenwald wurde am 24. Juni 1882 in Bliesen im damaligen Saargebiet geboren. Die Familienverhältnisse waren unspektakulär: Der Vater Recktenwalds war Landwirt, ein Bruder von ihm fiel im Ersten Weltkrieg, seine Schwester war mit einem Rektor in Bliesen verheiratet. Ebenso unspektakulär war Recktenwalds Ausbildung und beruflicher Werdegang. Er besuchte zunächst die Volksschule in seinem Heimatort Bliesen und anschließend die humanistischen Gymnasien in St. Wendel und in Trier. Die Reifeprüfung bestand er im Jahr 1902. Anschließend studierte er an den Universitäten in Straßburg, Bonn, Marburg, Berlin, Heidelberg und Freiburg. Er war also ein weit gereister Student, ehe er im Jahre 1907 sein medizinisches Staatsexamen in Marburg – mit der Note „1“ - ablegte. Zwei Jahre später, 1909, promovierte er in Freiburg. Anschließend kehrte er nach Marburg zurück und hatte eine Stelle an der dortigen Psychiatrischen Klinik und Landesheilanstalt. Im Jahre 1911 trat Recktenwald in die Dienste der Rheinprovinz. Dort war er an verschiedenen Anstalten tätig: zunächst in Süchteln, dann in Düren, schließlich in Galkhausen bei Düsseldorf und noch in Merzig. In Merzig blieb er bis 1920. Dann war er von 1920 bis 1927 als Oberarzt an der Rheinischen Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Andernach tätig.

Diese Zeit der ersten Berufsjahre Recktenwalds fiel zusammen mit der Diskussion über die Behandlung Geisteskranker und Schwachsinniger. Das war keine nur von den damals noch zahlenmäßig und auch sonst unbedeutenden Nationalsozialisten angeheizte Kontroverse. Vielmehr wurde sie in der Mitte und aus der Mitte der Gesellschaft heraus geführt. Ihr Ursprung war der sog. Sozialdarwinismus, d.h. die auf der „Evolutionstheorie“ Charles Darwins beruhende These, dass Verbrecher, Asoziale, Geisteskranke u.a. auszusondern, zu selektieren sind, um die „Artung“ des Volkes aufzuwerten.

Diese Erbgesundheitspflege kam bis zum Ersten Weltkrieg nicht über ein Schatten- und Sektiererdasein hinaus. Das änderte sich während des Krieges, in dem – wie es hieß – gerade die besten Teile des Volkes ihr Leben lassen mussten, sowie durch eine weitere Publikation. Es war die im Jahre 1920 erschienene, nur 62 Seiten umfassende Schrift mit dem programmatischen Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“ Die Schrift hatte zwei Autoren mit Rang und Namen: Zum einen den Juristen Karl Binding. Er war zweimal promoviert, Dr. jur. und Dr. phil., Präsident des Reichsgerichts und 40 Jahre lang Universitätsprofessor. Der zweite Autor war der Psychiater Dr. med. Alfred Hoche. Nach Bindings Meinung gab es zwei Gruppen von Menschen, die zur Vernichtung freigegeben werden sollten:

Die Menschen der ersten Gruppe waren die, die infolge einer Krankheit oder Verwundung unrettbar verloren waren und den dringenden Wunsch nach Erlösung zu erkennen gegeben haben. Hierzu sollten gehören die unheilbar Krebskranken oder Schwindsüchtige wie auch die tödlich Verwundeten. In dieser Gruppe ging es also um die Freigabe des Todes der unheilbar Kranken auf Verlangen, also das, was man gemeinhin als Sterbehilfe, als Euthanasie, bezeichnet.

Dies war nicht das eigentlich Problematische an dem Buch von Bindung und Hoche. Das Problem befand sich in der zweiten Gruppe, die Binding als „lebensunwertes Leben“, das vernichtet werden durfte, definierte. Das war die Gruppe der unheilbar Blödsinnigen. Über sie schrieb Binding: „Sie haben weder den Willen zu leben noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für Ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke.“ Der Psychiater Hoche lieferte aus seinem Fachgebiet noch „ärztliche Bemerkungen“ für die Tötung von Blödsinnigen. Für ihn waren das „Ballastexistenzen“. Ein Zitat möge diese erhellen:

Es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen.

Hoche sah diese Menschen nicht aus sich heraus, sondern nur in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze. Gegenüber diesem

Ganzen hatten die Einzelexistenzen an Bedeutung verloren. Schon hier – wie erst recht später im Nationalsozialismus – trat immer mehr an die Stelle der Individualethik die Gemeinschaftsethik - nach dem platten Motto „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“. Es finden sich hier auch wirtschaftliche Erwägungen, die in der NS-Zeit große ideologische Bedeutung hatten.

Das Buch von Binding/Hoche war der Durchbruch für die Rassenhygieniker. Bereits in der Weimarer Republik diskutierten die Politiker zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten die hohen Kosten, die durch die Unterbringung von Menschen in Anstalten entstünden. Psychiater und Juristen dachten offen über Gesetze und Programme nach, die eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in bestimmten Fällen ermöglichen sollten. Dabei stand allerdings nicht die Tötung“ dieser Menschen, sondern deren Sterilisierung im Vordergrund. Man propagierte weiterhin das Ziel, nämlich die „Ausmerze der Minderwertigen“, wollte sich aber „nur“ des vermeintlich milderen Mittels bedienen. Andererseits erfuhr diese „Ausmerze der Minderwertigen“ schon in der Weimarer Republik eine Erweiterung. Denn man problematisierte die unkontrollierte Vermehrung „minderwertiger und asozialer“ Bevölkerungsschichten. Die „Rassenhygieniker“ beschworen ein Untergangsszenario, dessen Kern die Behauptung bildete, dass die als minderwertig eingeschätzten Teile der Bevölkerung sich schneller vermehrten als die angeblich vollwertigen. Der Geburtenrückgang betreffe nur die wertvollen Teile der Bevölkerung, während alle minderwertigen sich „hemmungslos“ vermehrten.

Um ihnen einen Eindruck vom Zeitgeist zu vermitteln, möchte ich Ihnen die Ergebnisse einer Fachtagung der Evangelischen Kirche aus dem Jahre 1931 mitteilen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Evangelische Kirche – immerhin eine Institution mit fester sittlicher Grundhaltung – eine eher humanistischere Haltung einnahm als manche andere Organisation bzw. Gruppierung bzw. die öffentliche Meinung – von der NSDAP ganz zu schweigen. In einem Artikel fasst ein Dr. med. und Dr. phil. Hans Harmsen die Beratungsergebnisse der Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik zusammen, die im Mai 1931 in Treysa tagte. Darin heißt es unter der Überschrift „Eugenik und Wohlfahrtspflege“:

Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, dass erbbiologische Gesundheit nicht mit ‚Hochwertigkeit’ identisch ist. Die Erfahrung aller Zeiten lehrt vielmehr, dass auch körperlich und geistig Gebrechliche ethisch und sozial hochwertige Menschen sein können. Die Strukturwandlungen innerhalb unseres Bevölkerungsaufbaus und die quantitative wie qualitative Änderung der Bevölkerungsvermehrung, die vor allem in der Schrumpfung der durchschnittlichen Familiengröße bei den Gruppen der erbbiologisch und sozial Tüchtigen und Leistungsfähigen zum Ausdruck kommt, lassen aber eine eugenische Neuorientierung unserer öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege dringend erforderlich erscheinen. An die Stelle einer unterschiedslosen Wohlfahrtspflege hat eine differenzierte Fürsorge zu treten. Erhebliche Aufwendungen sollten nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtspflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. Träger erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind, sollten tunlichst von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden.

So weit diese Fachkonferenz der Evangelischen Kirche in Treysa im Frühjahr 1931. Sie sehen, dass selbst hier – nach einigen Reminiszenzen an die christliche Lehre und Tradition – doch einer Neuorientierung das Wort geredet wird. Wenn auch vorsichtig angesprochen wird doch eine Sterilisation befürwortet – und zwar wegen „sozialer Minderwertigkeit“.

Angesichts dieser Stimmung war es nicht verwunderlich, dass die Ärzteschaft und die Ministerialbürokratie schon zurzeit der Weimarer Republik den Entwurf eines Sterilisationsgesetzes auf den Weg gebracht hatten. Im Dezember 1932 hieß es im

Reichsinnenministerium, die Sache sei dringlich, weil „zutreffend und in neuerer Zeit unter den Eindrücken der Wirtschaftsnot immer häufiger darauf hingewiesen wird, dass die ungehemmte Fortpflanzung von Menschen mit schlechten Erbanlagen die Allgemeinheit wirtschaftlich außerordentlich belastet“. Zwar sei bei der gegenwärtigen „Sachlage“ die Einwilligung des Betroffenen Voraussetzung, es müsse aber geklärt werden, „ob auch eine Zwangssterilisierung bei bestimmten schweren geistigen Erkrankungen“ möglich sei. Ein Sondergesetz unter Federführung des Reichsinnenministeriums sei zu empfehlen, da eine bloße Änderung des Strafgesetzbuchs „sowohl sachlich wie zeitlich in höchstem Maße nachteilig wäre“.

Durch die Turbulenzen im Januar 1933 und durch die Auflösung des Reichstages nach der so genannten Machtergreifung der Nazis wurde das Gesetzesvorhaben zunächst nicht weiter verfolgt. Als die Nazis dann aber in Preußen und im Deutschen Reich und auch anderswo im Land die Macht an sich gezogen hatten, forcierten sie das Vorhaben und verlangten vor allem auch eine Sterilisation gegen den Willen des Betroffenen.

Am 14. Juli 1933 erließ dann die Reichsregierung – seit Ergehen des so genannten Ermächtigungsgesetzes konnte sie anstelle des (gleichgeschalteten) Reichstages ebenfalls „Gesetze“ erlassen – das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Hierzu äußerte der Vizekanzler von Papen Bedenken. Diesen trug man Rechnung, indem vor seinem In-Kraft-Treten der Abschluss des Reichskonkordats mit dem Heiligen Stuhl abgewartet werden sollte und das Gesetz dann erst zum 1. Januar 1934 in Kraft trat.

Wir sehen: Dieses Gesetz war keine „Erfindung“ der Nazis. Sie griffen hier – wie auch in anderen Fällen – „lediglich“ bereits Vorhandenes sowie Stimmungen im Volk und gesetzgeberische Vorarbeiten auf – um es dann allerdings mit der ihnen eigenen Radikalität und exzessiv ein- und umzusetzen. Die Nazis gaben dabei das Ziel unmissverständlich vor: „Wir sind uns darüber klar, dass die Zukunft unseres Volkes nur durch positive

bevölkerungspolitische Maßnahmen gesichert werden kann. Die Voraussetzung für solche Maßnahmen sind aber die ausjätend wirkende Ausmerzung und die Milderung der Gegenauslese.“ Kurz und bündig hieß es: „Aufartung durch Ausmerzung“.

Das Gesetz regelte in § 1 Abs. 1, dass – wer erbkrank ist – „durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden (kann), wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden.“ In § 1 Abs. 2 zählte das Gesetz neun Diagnosen auf, nach denen eine Person als erbkrank galt.

In dieser Zeit sammelte Recktenwald außerhalb von Andernach Erfahrung in der Heil- und Pflegeanstalt in Bonn und als stellvertretender Direktor in Bedburg-Hau. Er stand auch nicht abseits, als die Nazis 1933 die Macht ergriffen. Nach seiner eigenen Darstellung wurde er im Augenblick der sog. Machtergreifung Mitglied der NSDAP und war Mitglied des NSV, des NS-Ärztebundes, des VDA, des RLB, des RDB und im Reichskolonialbund. Er sei zunächst auch Zellenleiter-Anwärter gewesen. Diesen Posten habe er aber bald aufgegeben, um nur noch einfaches NSDAP-Mitglied zu sein. Dies alles war nicht Dr. Recktenwalds Schade. Denn schon 1934 wurde er Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Andernach.

Seitdem war und blieb die sog. Rassenhygiene als Teil des Rassismus ein entscheidendes Ziel der Nazis. Dabei fand das Thema sogar Eingang in die Schulbücher. In Mathematik-Büchern rechnete man mit den Kranken. Eine Aufgabe etwa lautete:

Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich bei einem Satz von 4 RM? – Wie viele Ehestandsdarlehen zu je 1.000 RM könnten (…) von diesem Geld jährlich ausgegeben werden? – Oder: Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Mill. RM. Wie viele Siedlungshäuser zu je 1.500 RM hätte man dafür bauen können?

Auf diese Weise sollte der Boden für die Bejahung eines künftigen „Euthanasie“gesetzes mit dem Inhalt vorbereitet werden, „unwertes Leben“ weitgehend schutzunwürdig zu lassen.

Schon im Jahr 1935 beschäftigte man sich in „Führerkreisen“ mit dem Beginn einer „Euthanasieaktion“. Im Folgejahr – 1936 – gab es erste Verlegungen von nervenkranken und schwachsinnigen Patienten aus kirchlichen in staatliche Anstalten. Im nächsten Jahr – inzwischen nahmen die Verlegungen zu – verlangte die SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ den „Gnadentod“ für „unwertes Leben“ – sinnigerweise mit Akten aus der Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Im Jahr 1938 dann führte man ausgewählte Besuchergruppen in psychiatrischen Anstalten die Patienten als „Abschaum der Menschheit“ vor. In verschiedenen Zeitschriften erschienen Fotos behinderter Menschen zu dem Zweck, Ekel und Abscheu zu erregen. Die „Kanzlei des Führers“ erwartete trotz dieser sehr regen Propagandatätigkeit bei einer groß angelegten „Euthanasieaktion“ Widerstände insbesondere bei der konfessionell gebundenen Bevölkerung. Sie beauftragte deshalb einen katholischen Moraltheologen, ein Gutachten zur „Euthanasie“ zu erstellen. Dieser kam zu dem Schluss, „Euthanasie“ sei unter bestimmten Bedingungen mit der katholischen Moraltheologie vereinbar.

Im Januar 1939 begannen die konkreten Vorgespräche mit Ärzten in der „Kanzlei des Führers“. Im Laufe des Jahres wurden die Vorbereitungen intensiviert. Inzwischen stand der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg unmittelbar bevor. Im Juli/August 1939 erhielt die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ den Tarnnamen „T 4“. Die Benennung kam von dem Standort der Dienststelle in Berlin, in der Tiergartenstraße 4. Es wurden auch die Gutachter bestellt, die die „Selektion“ der Kranken und Behinderten vornehmen sollten. Weiterhin wurde das Kriminaltechnische Institut im Reichssicherheitshauptamt Berlin beauftragt, das am besten geeignete Tötungsmittel herauszufinden. Man einigte sich auf Kohlenmonoxydgas. Es wurde in Flaschen abgefüllt beim Ludwigshafener Werk der IG Farben bestellt. – Am 1. September 1939 befahl Hitler den Überfall auf Polen. Damit begann der Zweite Weltkrieg – wir werden darauf gleich noch einmal zurückkommen.

Drei Wochen später – am 21. September 1939 – ordnete der Reichsminister des Innern mit Runderlass an, alle Heil- und Pflegeanstalten zu melden. Damit sollte sichergestellt werden, dass sämtliche Krankenanstalten und später auch alle ihre Patienten erfasst wurden – also auch die konfessionellen und privaten Anstalten unterfielen der Meldepflicht. Am 9. Oktober 1939 ordnete der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Dr. Conti an, an alle Heil- und Pflegeanstalten für die einzelnen Patienten Meldebögen zu versenden. Diese Bögen waren von den Anstalten auszufüllen und zurückzusenden. Wir kommen nachher noch einmal darauf zurück.

Im Herbst 1939 begannen die Massentötungen. Die ersten Opfer sind Patienten aus Pommern, Westpreußen und Polen. In dieser Zeit unterzeichnete Hitler die bekannte Ermächtigung an seinen Begleitarzt Dr. Brandt und den Reichsleiter Bouhler zur Tötung nervenkranker und schwachsinniger Anstaltspatienten im Deutschen Reich. Diese auf Privatpapier gegebene Ermächtigung wurde auf den 1. September 1939 – den Beginn des Zweiten Weltkrieges – zurückdatiert. Sie hatte den Wortlaut:

Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

Bis Ende 1939 wurden die Anstalten Grafeneck in Württemberg, Brandenburg/Havel und Schloss Hartheim bei Linz/Donau zu Tötungsanstalten umfunktioniert. Die sog. Kinderfachabteilung Görden begann mit der Tötung minderjähriger Patienten. In Meseritz/Obrawalde und Tiegenhof wurden die Patienten in mobilen „Gaswagen“ umgebracht.

Im Laufe des Jahres 1940 hatten alle Tötungsanstalten – mit Ausnahme der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg – mit den Massentötungen Kranker und Behinderter begonnen. Im Sommer 1940 gab es die ersten Proteste von Kirchenvertretern und auch dem einen oder anderen Arzt. Auf einer Tagung verbot die katholische Bischofskonferenz den Gläubigen, beim Abtransport von „Euthanasie“-Patienten aktiv mitzuwirken. Die beiden großen Konfessionen versuchten dann, durch „Verhandlungen“ auf die „Euthanasie“-Aktion Einfluss zu nehmen und zu erreichen, dass die „Euthanasie“ auf einen möglichst eng begrenzten Personenkreis beschränkt wurde. Im Dezember 1940 verkündete das Hl. Offizium in Rom durch Dekret, dass jede Tötung menschlichen Lebens, insbesondere im Zuge der „Euthanasie“, nach offizieller kirchlicher Auffassung verboten sei.

Noch im selben Monat wurde die „Vergasung“ von „Euthanasie“-Opfern in der Tötungsanstalt Grafeneck eingestellt. An ihre Stelle trat – nach Umbaumaßnahmen – im Januar 1941 die Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg.

Bis dahin waren in diese „T 4-Aktion“ nur die engsten Sachbearbeiter Hitlers und einige wenige Gutachter eingeweiht. Das änderte sich im Februar 1941. Da fand in der Reichskanzlei die eigentliche Eröffnung der „T 4-Aktion“ statt. Es waren sämtliche Direktoren der als sog. Zwischenanstalten vorgesehenen Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands sowie Professoren der Psychiatrie deutscher Universitäten geladen. Anwesend waren etwa 100 Personen. Mit dabei waren auch Dr. Recktenwald von der Zwischenanstalt Andernach sowie ein gewisser Prof. Dr. Creutz. Creutz war Medizinaldezernent des Provinzialverbandes der Rheinprovinz und war zuständig für die Psychiatrie (und Euthanasie) im Rheinland. Dieser Prof. Creutz wird später noch eine sehr wichtige Rolle spielen.

Diesem Auditorium wurde dann verdeutlicht, es seien „unnütze Esser“ zu beseitigen: „Die besten der Nation fielen draußen; dieser negativen Auslese des Krieges müsse entgegengewirkt werden. Im Übrigen sei es auch im Interesse der Front notwendig, diesen Schritt zu tun, sonst könne draußen leicht eine Bitterkeit entstehen, dass der Soldat Tag und Nacht in Lebensgefahr schwebe, während die für die Nation wertlosern Elemente zu Haus gepflegt und gehegt würden“. Alle Anwesenden erklärten ihre Bereitschaft mitzumachen – mit Ausnahme eines Dr. Schmidt. Dieser Mediziner war sehr bestürzt über das Gehörte und Geplante. Er verweigerte daraufhin seine Mitarbeit. Das brachte ihm Vorwürfe ein, aber nicht deswegen, weil er mit bereit war mitzumachen, sondern weil er seine fehlende Bereitschaft nicht beizeiten – vor der Darlegung der Tötungsaktion – erklärt hatte. Dieser Dr. Schmidt hat übrigens auch später keine erkennbaren Nachteile durch seine Weigerung erleiden müssen. Den Teilnehmern wurde dann der Ablauf der Tötungsaktionen erläutert. Das Verfahren bei den Massentötungen war dabei – wie schon zuvor – das folgende:

Alles begann mit den Meldebögen. Diese waren – wie erwähnt – im Laufe des Jahres 1940 für die einzelnen in den Anstalten vorhandenen Patienten auszufüllen. Halbjährlich waren die Meldebögen für die Neuzugänge erstellt. Die Meldebögen enthielten außer den Personalien Fragen nach dem Krankheitsbild, der Brauchbarkeit für Außen- und Hausarbeiten und dem Grad der Arbeitsfähigkeit, prozentual verglichen mit der Arbeitsleistung Gesunder. Die Meldebögen waren von jeder Heil- und Pflegeanstalt in der damaligen Rheinprovinz auf dem Dienstweg an die zuständige Stelle zu senden und zwar an den Prof. Creutz. Creutz sandte die Meldebögen weiter an das Reichsinnenministerium.

Dann ging es zur „Begutachtung“ dieser Meldebögen. Dafür war inzwischen eine (erste) Organisation geschaffen worden: die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten. Dort arbeiteten Ärzte als „Gutachter“. Sie entschieden lediglich anhand der Meldebögen über Leben und Tod der Patienten. Je zwei Ärzte werteten unabhängig voneinander die Meldebögen aus und füllten dann das schwarz umrandete Kästchen des Meldebogens aus: „Ja“ war der Vorschlag zur Tötung, „nein“ die Ablehnung. Auch konnten sie noch „fraglich“ eintragen. In diesem Fall wurde der Patient durch eine Kommission oder durch einen Universitätsprofessor noch einmal untersucht.

Damit nicht alle Anstalten mit dem Abtransport der „todeswürdigen“ Kranken in die Tötungsanstalten beauftragt wurden, damit also möglichst wenige Ärzte in das „Euthanasie“-programm eingeweiht zu werden brauchten, wurden in den einzelnen Provinzen Deutschlands jeweils zwei Anstalten bestimmt, die als sog. Zwischenanstalten die Sammlung aller durch die Listen zum Tode verurteilter Patienten durchzuführen und sie nach genau vorgeschriebenen Transportaufträgen in die Tötungslager abzuführen hatten. In der damaligen Rheinprovinz gab es auch zwei sog. Zwischenanstalten: das waren die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen bei Düsseldorf und eben die Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Damit diese „Zwischenanstalten“ ihre Aufgabe erfüllen und Patienten anderer Anstalten aufnehmen konnten, mussten sie selbst erst einmal von für „todeswürdig“ angesehenen Patienten „geleert“ werden. Dies geschah, indem man diese Kranken der Zwischenanstalten, sog. Ursprungskranke, sofort in die Tötungsanstalten brachte und dann ermordete. Der dadurch frei gewordene Platz in den Zwischenanstalten wurde dann mit Kranken aus anderen Anstalten besetzt. Für diese war die Heil- und Pflegeanstalt erkennbar eine Zwischenanstalt.

Dr. Recktenwald hatte nach Rückkehr aus der Reichskanzlei in Berlin zwei weitere Andernacher Anstaltsärzte in diese

„Euthanasie“-Aktion einzuweihen. Daraufhin wurden die Meldebögen ausgefüllt bzw. wenn sie bereits ausgefüllt waren entsprechend den in Berlin erhaltenen Direktiven abgeändert. Zu diesem Zeitpunkt wussten diese drei also positiv, dass die Verneinung der Arbeitsfähigkeit bzw. der Möglichkeit, den Patienten zu entlassen, höchstwahrscheinlich das Todesurteil für den Betreffenden bedeutete. Erst recht wussten sie, dass die Patienten, die auf den den Anstalten später zugehenden Transportlisten standen, umgehend in den Tötungsanstalten getötet würden. Dabei hatte – nach der Aussage eines Zeugen in dem Nachkriegsprozess – das ärztliche Personal der Heil- und Pflegeanstalt selbst zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit, Patienten von der Liste zu streichen. Wörtlich gab dieser Zeuge später an: „Es lag in der Hand des leitenden Direktors der hiesigen Anstalt und in der Hand der Abteilungsärzte, von der Liste diejenigen zu streichen, die noch arbeitsfähig waren oder für die noch sonstige Gründe sprachen, dass sie hier blieben.

Der erste Transport verließ Andernach am 11. Februar 1941. Er fiel insoweit aus der Reihe, weil von ihm jüdische Kranke, 58 Personen, betroffen waren. Es hieß, sie sollten in die von der Reichsvereinigung der Juden unterhaltenen Jacobysche Heil- und Pflegeanstalt in Sayn, heute: Bendorf-Sayn verlegt werden. Dort wurden die jüdischen Patienten aus dem gesamten Reichsgebiet zusammengefasst und dann später – wie die Juden aus der Stadt und dem Landkreis Koblenz – zur Vernichtung in den Osten deportiert. Diese 58 Juden aus der Anstalt in Andernach kamen aber nie in Bendorf-Sayn an. Sehr wahrscheinlich sind diese 58 jüdischen Kranken als erste in die Tötungsanstalt Hadamar transportiert und dort vergast worden.

Zur Vorbereitung der (weiteren) Transporte von Andernach nach Hadamar hielt sich am 29. und am 31. März 1941 eine Gutachter-Kommission in Andernach auf. Anhand der ausgefüllten Meldebögen und dem flüchtigen Eindruck von den Kranken entschieden sie, welche Patienten auf die Todeslisten kamen und welche nicht. Dabei nahm man sich für jeden Patienten durchschnittlich 2 Minuten Zeit.

Während die Gutachter-Kommission in Andernach war, fand am 29. März 1941eine Konferenz der Leiter rheinischer Heil- und Pflegeanstalten statt. Sie wurde einberufen und geleitet von dem bereits erwähnten Prof. Dr. Creutz. An ihr nahm auch Dr. Recktenwald teil. Dabei erstattete Prof. Creutz einen Bericht über die „Euthanasie“-Aktion, und speziell ihren Ablauf im Rheinland. Diese Konferenz sollte später – nach dem Krieg - eine zentrale Bedeutung bekommen, wir werden auf sie dann noch einmal zurückkommen.

Der 1. Transport von Andernach nach Hadamar erfolgte dann am 23. April 1941 mit 89 Kranken. Der 2. Transport war am 25. April 1941 mit 60 Kranken. Der 3. Transport am 6. Mai 1941 betraf 89 Kranke. Dem 4. Transport am 7. Mai 1941 fielen 88 Kranke zum Opfer. Und der 5. Transport ging am 8. Mai 1941 mit 90 Kranken nach Hadamar ab. Diese fünf Transporte betrafen alle sog. Stammkranke, also Patienten, die bereits seit längerem in Andernach untergebracht waren.

Nachdem die Anstalt Andernach von diesen „Stammkranken“ zu einem guten Teil geleert worden war, wurden ab dem 8. Mai 1941 Patienten aus anderen rheinischen Heil- und Pflegeanstalten nach Andernach verlegt. Für diese sog. Durchgangskranken war Andernach „Zwischenanstalt“. Nach einem kürzeren Aufenthalt in Andernach sollten in die Gaskammer nach Hadamar geschickt werden. So geschah das auch. Einen Monat später wurden die Transporte wieder fortgesetzt. Dabei betraf der erste dieser Transporte, der vom 7. Juni 1941 mit 51 Patienten, noch einmal „Ursprungskranke“ der Anstalt Andernach. Das waren dann insgesamt 469 „Ursprungskranke“, die von Andernach nach Hadamar in den Tod geschickt wurden.

Dann begannen die Transporte der „Durchgangskranken“ von Andernach in die Tötungsanstalt Hadamar. Es waren insgesamt 5 Transporte:

1.Transport am 18.06.1941               115 Kranke nach Hadamar

2.Transport am 20.06.1941               105 Kranke nach Hadamar

3.Transport am 07.07.1941                 87 Kranke nach Hadamar

4.Transport am 25.07.1941                 67 Kranke nach Hadamar

5.Transport am 15.08.1941                 76 Kranke nach Hadamar

Das waren – wenn Sie so wollen – 448 „Durchgangskranke“. Insgesamt waren es also zunächst 469 „Stammkranke“ und dann 448 „Durchgangskranke“, also insgesamt 917 Kranke, die nach Hadamar ins Gas geschickt wurden. Das alles sind Zahlen. Diese sind wichtig, aber sie sagen letztlich nichts über das Schicksal dieser von Medizinern als „todeswürdig“ angesehenen Menschen aus. Deshalb will ich Ihnen hier zwei Menschenschicksale kurz darstellen – wenn überhaupt erfährt man von diesen „Euthanasie“-Opfern ohnehin nur sehr wenig und oft genug amtlicherseits Gelogenes.

Ein solches Opfer war der am 31. März 1908 in Bendorf geborene Gerd W. Er lebte seit einer nicht näher bekannten Zeit in der Anstalt Andernach. Dann geriet er in die „T 4-Aktion“. Am 8. Mai 1941 (das ist er zuvor erwähnte 5. Transport von Andernach nach Hadamar) wurde er mit einem Bus einer eigens zu Tarnzwecken gegründeten Gesellschaft namens GEKRAT nach Hadamar gefahren und dort noch am selben Tag im Keller in der Gaskammer umgebracht.

Um den Mord zu verschleiern, teilte der ärztliche Direktor der Anstalt Andernach den Eltern unter diesem 8. Mai 1941 mit, dass ihr Sohn in eine andere Anstalt verlegt worden sei, deren Name und Anschrift ihm noch nicht bekannt seien. Sie mögen sich wegen weiterer Nachrichten noch etwas gedulden. Am 20. Mai schrieb dann die Anstalt Sonnenstein in Sachsen - sie ist zur Tarnung eingeschaltet -, dass der Sohn vor kurzem in diese Anstalt verlegt worden und am 20. Mai 1941 unerwartet „infolge akuter Hirnschwellung verstorben“ sei. Weiter heißt es, dass zur Seuchenbekämpfung die sofortige Einäscherung und Desinfektion des Nachlasses verfügt sei. Gleichzeitig wurde um Mitteilung gebeten, ob die Eltern die „Urne mit den sterblichen Überresten des Entschlafenen auf einem bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen“. Anderenfalls werde man die Urne anderweitig beisetzen lassen. Als die Eltern umgehend um die Überführung der Urne baten, erhielten sie noch folgenden Brief der Anstalt Sonnenstein:

(Die Ortspolizeibehörde Sonnenstein) wird nunmehr die Urne mit den sterblichen Überresten Ihres heimgegangenen Sohnes Gerd W. in Kürze gebührenfrei an die Friedhofsverwaltung Bendorf/Rhein überführen, so dass Sie mit dem Eintreffen derselben im Laufe der kommenden Woche rechnen können. Gleichzeitig bestätigen wir den (von Ihnen) ausgesprochenen Verzicht auf den Nachlass, den wir der (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) NSV zur Verfügung stellen werden. Heil Hitler! Im Auftrag (Unterschrift).

Das war das Schicksal von Gerd W. – einem sog. Ursprungskranken. Nachdem die „Zwischenanstalt“ Andernach viele solcher Ursprungskranker nach Hadamar in den Tod geschickt hatten, war in Andernach Platz frei geworden für Kranke, die aus anderen Anstalten nach Andernach als Zwischenanstalt verlegt wurden, um dann von Andernach aus nach Hadamar in den Tod geschickt zu werden.

Einer dieser so genannten Durchgangspatienten war der 1920 in Koblenz geborene Edmund Z. Seine Kindheit und Jugendzeit in Koblenz verliefen in geordneten Bahnen und „normal“. Edmund Z. besuchte die Volksschule, ohne sitzen zu bleiben, und absolvierte eine kaufmännische Lehre.

Dann trat er freiwillig in den Reichsarbeitsdienst ein. Nach vier Wochen bekam er seinen ersten Gehirnkrampf und wurde entlassen. Daraufhin bemühten sich seine Eltern um die Behandlung des Leidens. Zunächst wurde er in Koblenz fachärztlich betreut, später - als dies keine Besserung brachte - kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Auch dort besserte sich sein Zustand nicht. Die Krämpfe traten sogar häufiger auf, drei- bis fünfmal am Tag. Gleichwohl behielt er seinen Verstand und machte sich in der Anstalt durch vielerlei Arbeiten für Schwerkranke nützlich.

Im Mai 1940 passierte es dann: Edmund Z. geriet in die „Aktion T 4“. Offenbar mit dem Transport vom 20. Mai 1941 wurde er mit 25 Männern und 25 Frauen von Bonn in die Heil- und Pflegeanstalt Andernach „verlegt“. Anfang Juni schrieb er seiner Familie, sie hätten einen Ausflug nach Andernach gemacht, dort solle er bleiben. Daraufhin besuchte ihn die besorgte Mutter in Andernach. Als drei Tage später seine Patin ihn ebenfalls besuchen wollte, war er schon nicht mehr da. Der sofortige Anruf seiner Schwester blieb ebenfalls erfolglos: Viermal wurde sie von einer Stelle zur anderen weiter verbunden, dann hängte die Anstalt einfach ein. Am nächsten Tag war die Schwester in Andernach. Man verweigerte jede Auskunft über den Verbleib des Bruders, gab ihr aber die Adresse der Gesellschaft, die ihn abtransportiert hatte. Auf ihren heftigen Protest hin bekundeten die versammelten drei Herren der Anstalt ihre Unschuld an allem. In großer Sorge verließ sie Andernach.

Tage später erhielt die Familie aus Berlin Bescheid, Edmund sei nach Hadamar bei Limburg verlegt worden und sei in gutem Gesundheitszustand dort angekommen. Wegen ansteckender Krankheiten seien aber Besuche, Briefe und Pakete verboten. Wenige Tage später kam die Nachricht: Tod am 3. Juli 1941 in Hadamar durch Pneumonie (Lungenentzündung). Die Wahrheit ist aber eine andere: Edmund Z. wurde noch am Tag seiner Ankunft in Hadamar vergast.

Am 3. August 1941 hielt der Bischof von Münster, Graf von Galen, eine sehr engagierte Predigt, in der der die Massentötungen von Geisteskranken als Mord anprangerte. Auch in der Bevölkerung gab es inzwischen Proteste.

Daraufhin wurde am 24. August 1941 die „Aktion T 4“ auf Weisung Hitlers eingestellt. Der Grund dafür ist nicht ganz klar. Sicherlich haben diese Proteste Wirkung gezeigt. Andererseits hatte man mit der „Aktion“ die zuvor gesetzten Ziele erreicht. Man hatte sich vorgenommen, ca. 70.000 Patienten zu ermorden. Tatsächlich hatte man in den Tötungsanstalten bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 70.000 Menschen umgebracht.

Damit war die „T 4-Aktion“ abgeschlossen – nicht aber das massenhafte Töten von Menschen, deren Leben man damals als „lebensunwert“ bezeichnete und die Menschen danach behandelte. Denn das Töten dieser Menschen ging weiter. Die Morde geschahen aber nicht mehr durch Giftgas sondern durch andere gezielte Maßnahmen: Vor allem durch sog. Hungerkuren und die Überdosis von Medikamenten insbesondere in den bereits bestehenden Tötungsanstalten. Dies war die zweite Phase der „Euthanasie“, die sog. wilde Euthanasie. Noch sehr viel schwieriger als für die „Aktion T 4“ ist die Zahl der dabei ermordeten Kranken zu schätzen. Man nimmt hierfür eine Zahl von 140.000 Opfern an. In dieser Phase lag es vor allem in der Hand der Leiter der Anstalten und der Anstaltsärzte, wie sie die ihnen zur Heilung anempfohlenen Patienten behandelten. Sie hatten weiterhin die Meldebögen auszufüllen. Nun stellte aber keine übergeordnete Stelle in Berlin die Transportlisten zusammen. Vielmehr gab sie nur eine bestimmte Anzahl von Patienten vor, die von der Zwischenanstalt verlegt werden sollten. Die Auswahl der Opfer und deren Zusammenstellung in den in den Transportlisten oblagen der Anstalt, also deren Leiter, also in Andernach Dr. Recktenwald.

In dieser Phase der „wilden Euthanasie“ waren die Anstaltsleiter und die Anstaltsärzte erst recht Herr über Leben oder Tod ihrer Patienten. Zudem kamen immer neue Menschengruppen in den Kreis derer, die die selektiert und dann getötet werden sollten: Tuberkulosekranke, Alte und Schwache, Obdachlose, Arbeitsunwillige, Zigeuner und viele andere mehr.

Auch die sog. Verlegungen der Insassen der Andernacher Anstalt gingen weiter. Bekannt sind insgesamt 37 Transporte von Andernach aus mit 1.828 Patienten. Aber die wenigsten von ihnen kamen nach Hadamar. Letztlich die beiden letzten Transporte im Juli und im September 1944 gingen dorthin. Die anderen Transporte hatten unbekannte oder andere Ziele. Es ist davon auszugehen, dass die ersten Transporte nach dem sog. „Euthanasie-Stopp“ am 24. August 1941 Rückführungen waren, d.h. die für die Ermordung in Hadamar vorgesehenen Patienten, die zu diesem Zweck in die Zwischenanstalt Andernach verlegt wurde, wurden nunmehr von Andernach in ihre ursprünglichen Anstalten zurückverlegt, nachdem eine Ermordung in Hadamar nicht mehr vorgesehen war.

Anders war es aber mit den Transporten in den Osten. Sie sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass im Jahr 1942 die Anweisung erging, polnische Heil- und Pflegeanstalten von polnischen Kranken „freigemacht“ werden mussten. Damit sollte Platz geschaffen werden für Kranke aus dem „Altreich“, damit diese in dem besetzten Polen getötet werden konnten. Mindestens 6 Transporte mit insgesamt 325 Menschen gingen von Andernach in das besetzte Polen, und zwar nach Tworki bei Warschau, nach Kulparkow bei Lemberg und nach Meseritz/Obrawalde in Hinterpommern.

In Meseritz-Obrawalde wurden in den drei Jahren von 1942 bis 1945 18.000 Menschen ermordet. Eine ehemalige Patientin von Meseritz-Obrawald hat kurz nach der Befreiung folgende Aussage gemacht:

Ich bin des Nachts, wenn Transporte kamen, aufgeblieben und habe die Pflegerinnen, die den Transport begleitet hatten, bedient. Da kamen die Oberpflegerinnen R., W., Sch., J. und anderes Personal. Sie haben sich unterhalten über die Spritzen. Oberpflegerin J. sagte u. a., man solle viele bringen, damit wir hier viele erledigen könnten. Eine Pflegerin von dem Transport sagte zu ihr, das dürfen sie doch ohne weiteres nicht machen, die Angehörigen werden doch wissen wollen, woran die Kranken gestorben sind. Doch meinte die J.: Die Älteren geben wir (an) als an Altersschwäche oder Herzschlag, Grippe oder doppelseitiger Lungenentzündung gestorben. Eine Pflegerin von dem Transport fragte nachdem noch: Wenn aber die Angehörigen die Leiche wollen? Darauf wurde geantwortet: Dann würde Dr. Mootz schreiben, wir können die Leiche nicht überführen, weil sie eine ansteckende Krankheit hätten, oder aus Geldmangel, oder weil die Bahn keine Leichen mehr zum Transport annähme. Wenn aber die Angehörigen die Leiche sehen wollten, so wurden sie zu denen, die abgespritzt waren, nicht zugelassen; die Pflegerin vom Transport sagte dagegen, bei uns dürften wir den Kranken keine solche Spritzen geben, dann würden wir bestraft oder abgesetzt. Frau Oberpflegerin J. (…) hat oft des Nachts zu mir gesagt, wenn ich von diesen Dingen ein Wort erzähle, würde es mir gerade so ergehen. Eine kurze Zeit war ich einer Krankheit wegen isoliert auf 4. Dort hörte ich, dass die Oberpflegerinnen R., J. und E. zur Pflegerin A. sagte: heute können wir die nehmen. Die Kranken wollten nicht gehen, da (sagte) die A. zu den Kranken: Ihr habt Besuch oder ihr wurdet verlegt. Da hatte die Kranke Helga Schultz zu der Pflegerin A. gesagt: Uns könnt Ihr nicht dumm machen, ihr wollt uns nur abspritzen. Da sind sie nicht gegangen, dann rief die A. bei der R. an, die darauf einige Pflegerinnen schickte, worauf sie mit Gewalt in die Zelle gebracht wurden. Wir hörten dann ca. 2 Minuten das Schreiben, darauf wurde es ganz still und es hieß, die Kranke wäre verlegt.

Eine von Andernach nach Polen deportierte Patientin war Erna P. Sie sagte nach dem Krieg als Zeugin vor Gericht folgendes aus:

1943 war ich mit noch anderen Anstaltsinsassen nach Tworki bei Warschau transportiert worden. Die Fenster unseres Wagens waren gestrichen, so dass man nicht hinaussehen konnte. Wir wurden von Pflegerinnen begleitet. Wohin es ging wurde uns nicht mitgeteilt. In Polen wurden wir gleich in Tworki, (in) eine polnische Anstalt eingeliefert. Gleich nach unserer Ankunft hörte ich, wie ein polnischer Arzt in deutscher Sprache sagte, die Angekommenen seien ja alle vergiftet. Zu mir sagte er, was ich denn dort wolle, ich sei ja nur magenkrank. Unser Transport bestand aus 100 Personen... Die Kranken bekamen in Tworki sehr wenig zu essen. Eines Tages hieß es dann immer, der und der sei nun tot. Ich habe in der Anstalt in Tworki gesehen, dass Anstaltsinsassen, die krank waren, Medikamente erhielten und dann nach zwei Stunden tot waren. Auch habe ich gesehen, dass sie Arznei in das Essen bekamen. Ich habe damals in Tworki in der Küche geholfen. Von Tworki aus bin ich auch in eine Anstalt in Kulparkow bei Lemberg gekommen. In dieser Anstalt waren wir acht Monate. In Kulparkow sind viele von uns gestorben. Die Kranken bekamen fast nichts zu essen und hatten sich ganz aufgelegen. Ich vermute, dass sie vor Hunger gestorben sind. Von Kulparkow kamen wir dann später wieder nach Tworki. (Dort) habe ich von Pflegerinnen gehört, dass sie den Kranken Koral, Trional und noch andere Medikamente gaben. Auch in Tworki war viel Hunger, die Kranken fielen so um. Nach meiner Ansicht sind auch dort viele verhungert. In Kulparkow habe ich acht Monate lang die Zimmer eines der dortigen Ärzte in Ordnung gehalten. Diese Gelegenheit habe ich wiederholt genutzt, um in die dort liegenden Akten der Kranken hineinzuschauen. Ich habe dort wiederholt gelesen, dass Kranke an Unterernährung gestorben seien. Sowohl in Andernach als auch in den polnischen Anstalten waren die meisten Kranken zu Skeletten abgemagert. Die bettlägerigen Kranken erhielten in den Anstalten täglich nur einen Teller Wassersuppe und eine Scheibe Brot. Die arbeitenden Insassen erhielten täglich vier Scheiben Brot und einen Teller Wassersuppe. Während der 18 Monate in Polen haben wir keine Kartoffeln gesehen. In Tworki gab es in der letzten Zeit auch keine Betten mehr, wir mussten auf der Erde, auf dem blanken Boden schlafen. Decken zum Zudecken gab es auch nicht. Auch wurde in Tworki im Winter nicht geheizt. Die Kranken waren verlaust.

Als die amerikanischen Truppen im März 1945 die Region um Koblenz befreiten, wurde u.a. auch der Direktor Dr. Recktenwald von der amerikanischen Militärbehörde verhaftet. Recktenwald kam in das Internierungslager Idar-Oberstein und dann in das Sonderlager Dachau. Nach einiger Zeit wurde er entlassen. Am 16. Dezember 1946 leitete der Oberstaatsanwalt in Koblenz das Ermittlungsverfahren gegen ihn ein, wenig später, am 17. Februar 1947, erging gegen ihn Haftbefehl und er kam in Untersuchungshaft.

In dem Ermittlungsverfahren nach dem Krieg räumte Dr. Recktenwald diesen Sachverhalt im Großen und Ganzen ein. Allerdings wollte er nichts davon gewusst haben, dass die ersten Transporte in die Tötungsanstalt Hadamar gegangen seien und die Transporte in das besetzte Polen, nach Tworki und nach Kulparkow im Zusammenhang mit der „Euthanasie“-Aktion gestanden hätten Vor allem machte Recktenwald geltend, er habe seinen Posten in Andernach nicht aufgegeben, weil er überzeugt gewesen sei, im Falle einer Weigerung selbst schweren Verfolgungen ausgesetzt zu sein. Zudem wäre an seiner Stelle in der „Euthanasie“-Aktion dann ein den Nazis höriger Arzt eingesetzt worden, der die ganze Anstalt ausgerottet hätte. Sein Bestreben sei gewesen, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig Kranke in der „Euthanasie“-Aktion hingemordet worden seien.

Am 4. Februar 1948 wurde gegen Recktenwald und zwei weitere Ärzte Anklage erhoben, am 13. Juli 1948 begann die Hauptverhandlung vor der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz. Mit Urteil vom 29. Juli 1948 verurteilte das Landgericht Koblenz Dr. med. Recktenwald wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord in einer unbekannten Anzahl von Fällen zu 8 Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von 5 Jahren. Die Untersuchungshaft wurde Recktenwald in Höhe von 2 ½ Jahren auf die Freiheitsstrafe angerechnet.

In seiner Entscheidung ging das Landgericht Koblenz davon aus, dass Dr. Recktenwald nur für die Verlegungen und Tötungen einer sehr begrenzten Zahl von Kranken strafrechtlich verantwortlich war, nämlich nur für die Transporte vom 7. Juni bis 15. August 1941 mit den vom Gericht angenommenen 501 „Durchgangskranken. Die Kranken dieser Transporte seien nämlich von Recktenwald untersucht und für die „Verlegungen“ bereitgestellt worden. Alle anderen Transporte und Tötungen waren für das Landgericht Koblenz strafrechtlich nicht relevant.

Der allererste Transport – der Transport vom 58 Juden am 11. Februar 1941 – musste nach Auffassung des Gerichts schon außer Betracht bleiben, weil das Schicksal dieser Kranken nicht aufgeklärt werden könne, insbesondere nicht bewiesen sei, dass der Transport in die Tötungsanstalt Hadamar geführt habe. Weiterhin lastete das Landgericht Koblenz Recktenwald auch nicht die Tötungen der „Ursprungskranken“ an, die in den … Transporten vom 23. April bis 8. Mai 1941 von Andernach nach Hadamar verschleppt und dort ermordet worden waren. Diese Transporte und die anschließenden Ermordungen hätten nämlich auf der Entscheidung der Gutachter-Kommission beruht, die die Kranken in Andernach zuvor am 29. und 31. März 1941 selektiert hätte. Ebenso wenig sei Dr. Recktenwald für die weiteren Transporte nach dem sog. Euthanasie-Stopp am 24. August 1941 strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Bei den ersten Transporten nach dem Euthanasie-Stopp habe es sich ersichtlich um Rückführungen der für die Tötung in Hadamar vorgesehenen Patienten in ihre Ursprungsanstalten gehandelt. Problematischer seien demgegenüber die Transporte in den Osten, wie etwa nach Kulparkow bei Lemberg und nach Tworki bei Warschau zu beurteilen. Diese hätten zwar häufig zum unnatürlichen Tod der Patienten geführt, jedoch sei Recktenwald nicht zu widerlegen gewesen, er habe von der Tötung dieser Patienten im Osten nichts gewusst. Vielmehr sei er davon ausgegangen, die Kranken seien vor dem Heranrücken der Front im Westen in den „sicheren“ Osten evakuiert worden.

Danach blieben nur noch die Ermordungen der. „Durchgangspatienten“, die das Gericht mit 501 Personen annahm. Für diese Tötungen erklärte das Landgericht Koblenz Dr. Recktenwald aber für schuldig. Insbesondere nahm es ihm seine – spätere – Einlassung, die durch die Aussage des Prof. Dr. Creutz als Zeugen bestätigt wurde, nicht ab, er sein ein Gegner der NS-„Euthanasie“ gewesen und habe bei der Durchführung der „T 4-Aktion“ eine „stille Sabotage“ betrieben. Denn wenn das tatsächlich so gewesen wäre, dann habe sich das für den Ablauf der Aktion in der Anstalt Andernach nicht bemerkbar gemacht. Recktenwald sei im Wesentlichen so tätig geworden, wie es von der T 4-Zentrale in Berlin aus von ihm als Direktor der Zwischenanstalt Andernach erwartet worden sei; dadurch habe er das Euthanasie-Programm und speziell die Morde in Hadamar gefördert. Eine „stille Sabotage“ wie sie Recktenwald und der Zeuge Creutz behauptet hätten, wäre erst dann erkennbar und strafrechtlich relevant, wenn Rückstellungen von Transport und Entlassungen der Kranken aus der Anstalt einen solchen Umfang gehabt hätten, dass mit ihnen der Aktion ein wesentlicher Abbruch geschehen wäre. Das hat das Gericht aber nicht feststellen können. Ausdrücklich stellte das Landgericht Koblenz zusammenfassend dazu fest:

Es ist also bestenfalls ein verschwindend kleiner Teil der zu verlegenden Kranken auf außerhalb des Willens von Berlin liegende Initiative der Angeklagten hin nicht nach Hadamar gebracht worden, wobei (…) hervorgehoben werden muss, dass die Angeklagten als Ärzte der (…)Anstalt Andernach ausdrücklich dazu bestellt waren, die Kranken der Verlegungslisten daraufhin zu untersuchen, ob nicht unter ihnen solche wären, die unter die von Berlin vorgesehenen Ausnahmen fielen. Es durften nach dem Willen von Berlin nicht nur Ausnahmen gemacht werden, sondern es war gerade Aufgabe der Angeklagten als Ärzte der Zwischenanstalt, solche Ausnahmen herauszufinden. (…) Alles in allem haben die Angeklagten „pflichtgemäß“ gearbeitet. (…) Sie haben sich bewusst in das Mordgetriebe des Euthanasie-Programms einspannen lassen, sie haben willig, wenn auch ungern, die ihnen zugedachte Rolle, die von den Organisatoren der Aktion für wesentlich angesehen und deshalb eingerichtet wurde, angenommen und sie im Großen und Ganzen auch so ausgefüllt, wie man es von ihnen erwartete. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag zum Euthanasie-Programm geleistet und sind Glieder in der Kette, die von der „Kanzlei des Führers“ und dem Reichsinnenministerium in Berlin bis in den Vergasungsraum und das Krematorium in Hadamar reicht. Durch ihre Untersuchungen füllten sie eine Funktion aus, die von Berlin aus für so wesentlich gehalten wurde, dass man, wie sie selbst sagen, andere Ärzte herangezogen hätte, wenn sie sich ihr entzogen hätten.

In rechtlicher Hinsicht war für die Strafkammer diese Tätigkeit Dr. Recktenwalds Beihilfe zu den vielen Morden in Hadamar und zu dem in ihnen liegenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese heimtückischen und grausamen Morde, zu denen Recktenwald Beihilfe geleistet, seien auch nicht gerechtfertigt gewesen. Zwar habe es hierfür den „Ermächtigungserlass“ des „Führers“ vom 1. September 1939 gegeben, jedoch könne dieser die Morde nicht rechtfertigen. Auch hätte Recktenwald gewusst, dass die Massentötungen in Hadamar Unrecht waren. Selbst wenn er sein handeln für erlaubt gehalten haben mag, könne das ihn nicht entlasten. Denn eine solche Annahme „stünde in argem Widerspruch (…) zu dem, was im primitivsten Rechtsbewusstsein der Gesamtheit aller Völker als große Missetat lebe“. Schließlich sei sein Handeln auch nicht deshalb straflos, weil er nach besten Kräften „stille Sabotage“ geleistet und damit das Schlimmste verhindert habe. Dabei könne dahinstehen, ob eine solche „stille Sabotage“ überhaupt die Strafbarkeit ausschließen könne. Denn jedenfalls sich in tatsächlicher Hinsicht nicht feststellen, dass Recktenwald nach Kräften Widerstand geleistet und auch erkennbar etwas verhindert habe.

Gegen dieses Urteil wird man – im Großen und Ganzen - nicht viel einwenden können. Sicherlich war es etwas „blauäugig“ anzunehmen, dass Recktenwald für die Verlegungen und damit Tötungen der „Ursprungskranken“ keine Verantwortung traf, weil die Gutachter-Kommission die Kranken Ende 1941 selektiert hatte. Denn auch in diesen Fällen gab es sehr wohl die Möglichkeit der Entlassung bzw. der Rückstellung. Auch konnte man Recktenwald nur schwerlich abnehmen, nicht gewusst zu haben, was den Patienten nach den Verlegungen in den Osten widerfahren würde. Wenn man die anderen Kranken umgebracht hat, dann wird man diese sicherlich nicht vor Kriegshandlungen im Westen schützen wollen – zumal die Juden schon in den Osten deportiert und dort ermordet wurden und 1943 die Westfront – bezogen auf Andernach - nicht näher war als – nach dem Fall Stalingrads im Januar 1943 – die Ostfront bezogen auf Lemberg. Und überdies erhielt die Anstalt Andernach nach den Verlegungen in den Osten geradezu Stöße weise Todesmeldungen von dort. Das hätte einen doch aufschrecken müssen – zumal wenn man angeblich eine „stille Sabotage“ haben betreiben wollen. - Im Übrigen ist das Urteil nicht auf die Tötungen durch Verhungern lassen und Todesspritzen in der Phase der „wilden Euthanasie“ eingegangen. Das kann man dem Urteil aber nicht anlasten. Diese Morde waren schon von der Staatsanwaltschaft nicht angeklagt worden, sie hätten sich auch nur sehr schwer – wenn überhaupt – nachweisen lassen. Dazu hätte es Aussagen vom Pflegepersonal bedurft – aber wer vom Pflegepersonal hatte schon ein Interesse, dies zu offenbaren und sich damit selbst zu belasten?

Dieses Urteil des Landgerichts Koblenz ist nicht rechtskräftig geworden. Hiergegen hat Dr. Recktenwald Revision eingelegt. Auf dessen Revision hob das Oberlandesgericht Koblenz in seinem Urteil vom 14. Juli 1949 das Urteil des Landgerichts Koblenz mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Koblenz zurück. Das Oberlandesgericht monierte widersprüchliche Feststellungen des Landgerichts zur Bedeutung der Meldebögen und zur Möglichkeit der Zwischenanstalt, ausnahmsweise Rückstellungen und Entlassungen von Patienten vorzunehmen. – Hintergrund dieser Entscheidung war, dass das Landgericht Düsseldorf den Vorgesetzten Recktenwalds, den …. Prof. Dr. Creutz, der im Recktenwald-Prozess auch als Zeuge aufgetreten war, mit Urteil vom 24. November 1948 wegen erwiesenen ärztlichen Widerstandes gegen die Euthanasie-Aktion freigesprochen hatte. Das Landgericht Düsseldorf glaubte diesem Prof. Creutz, dass er in der Direktorenkonferenz vom 29. März 1941 den versammelten Anstaltsleitern nicht nur die Richtlinien zur Durchführung der T 4-Aktion mitgeteilt habe, sondern sie zugleich auch auf eine „stille Sabotage“ der Euthanasie-Aktion einhellig eingestimmt habe. Die ihm damals untergeordneten Anstaltsleiter hatten das Creutz – ich sage mal – gern bestätigt, war es doch auch für sie sehr vorteilhaft, waren sie doch dadurch Teil einer größeren Widerstandsgruppe und konnten für ihr eigenes Tun nicht belangt werden. – Auffällig ist allerdings, dass sich Recktenwald in seinem Strafverfahren nicht in dieser Weise eingelassen hatte. Das wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er lange Zeit in Haft bzw. Internierung war und sich – anders als die anderen – nicht mit diesen absprechen und diese Verteidigungsstrategie aufbauen konnte. Später hat er diese Strategie natürlich gern aufgegriffen.

Als das Oberlandesgericht Koblenz sein Revisionsurteil fällte, war das Urteil des Landgerichts Düsseldorf zwar noch nicht rechtskräftig, es war aber abzusehen, dass Prof. Creutz, der Vorgesetzte Recktenwalds straflos bleiben werde.

Tatsächlich wurde Prof. Creutz vom Landgericht Düsseldorf mit Urteil vom 27. Januar 1950 freigesprochen. Zur Begründung hieß es, Creutz sei eindeutiger Gegner der NS-Euthanasie gewesen, habe dieser Aktion entgegengewirkt und habe damit auch erwiesenermaßen Erfolg gehabt. Er habe auf seinem Posten ausgeharrt und sich bei diesem Ausharren allein und ausschließlich von dem Bestreben der Rettung möglichst vieler Kranken leiten lassen. In dem Urteil wurde Creutz als ein „Saboteur gegen verbrecherische staatliche Maßnahmen des Nationalsozialismus im besten Sinne und ohne Makel“ bezeichnet.

Nach diesem Freispruch von Creutz in Düsseldorf war auch der Weg für Recktenwald in dem noch anhängigen Strafverfahren vor dem Landgericht Koblenz frei. Es fand eine neue Hauptverhandlung statt, in der selbst die Staatsanwaltschaft Koblenz für Recktenwald und den zweiten Angeklagten Anstaltsarzt Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragt. Mit Urteil vom 28. Juli 1950 sprach das Landgericht Koblenz Dr. med. Recktenwald (und auch den zweiten Arzt) dann frei – und zwar „de luxe“. Das Gericht nahm Recktenwald ab, zusammen mit seinem Vorgesetzten Prof. Creutz und den anderen Anstaltsleitern „stille Sabotage“ betrieben zu haben. So heißt es etwa in dem Urteil des Landgerichts Koblenz:

Der Angeklagte Dr. Recktenwald selbst hielt sich während der Transporte, deren Zweck er kannte, stets fern. Er durchlebte dann bittere Stunden in dem Bewusstsein, ein schweres Unrecht im Gefühl völliger Ohnmacht mit ansehen zu müssen (…) Bei jedem Transport musste er die Versuchung, sich von der Wehrmacht übernehmen zu lassen, erneut niederkämpfen. Doch hielt ihn sein Versprechen, das er seinem Vorgesetzten, Prof. Creutz gegeben hatte und insbesondere die Sorge, wer an seine Stelle treten würde, auf seinem Posten. (…) Dr. Recktenwald hat seine Zwischenanstalt (…) in eine Rettungsanstalt für die Kranken, die überhaupt gerettet werden konnten, verwandelt.

Das Gericht kam dann zu der Einschätzung, dass 18 im Einzelnen untersuchte Rückstellungen „stille Sabotage“ gewesen seien – 18 von 448 „Durchgangskranken“. Dann rechnete das Gericht noch weiter, dass noch 5 Fälle wahrscheinlich „stille Sabotage“ gewesen seien und 2 Rückstellungen im Einklang mit den Berliner Rückstellungs-Richtlinien erfolgt seien. Schließlich berücksichtigte das Gericht noch 17 weitere vorläufige Rückstellungen und führte diese auch auf „stille Sabotage“ zurück. So errechnete das Gericht 42 Fälle von „stiller Sabotage“. In dieser Sabotage sah das Gericht einen Schuldausschließungsgrund und stellte zusammenfassend fest:

Es steht zur völligen Gewissheit fest, dass die Angeklagten die Tötungsaktion aus Überzeugung missbilligt und sich ausschließlich deshalb an ihr beteiligt haben, um sie nach besten Kräften zu verhindern, zu stören und einzuengen. (…) In Anbetracht der rücksichtslosen Gewaltherrschaft der hinter der Euthanasieaktion stehenden Diktatur gab es für die Angeklagten nur diesen einen Weg, um wenigstens einen teil der Kranken zu retten. Ein Zurücktreten der Angeklagten hätte ihren Ersatz durch willfährige Anhänger der Euthanasie zur Folge gehabt. (…) Ihre Gesamtbeteiligung vom ersten Entschluss bis zur Beendigung war allein von der Erwägung getragen, der Aktion nach Kräften Abbruch zu tun und zwar nicht nur nach Maßgabe der Richtlinien. Sie haben sich nämlich nur aufgrund des Abwehrplanes des Prof. Creutz, der die Überschreitung der Berliner Richtlinien gerade bewirken sollte, zur Beteiligung entschlossen und in diesem Plan bis zum Schluss der Aktion die ihnen zugewiesene Aufgabe erfüllt. Die Angeklagten haben sich tätig und mit Erfolg für die Rettung der Kranken eingesetzt und jede erreichbare Möglichkeit zur Rettung der Kranken voll ausgenutzt.

Gegen dieses 127 Seiten lange Urteil hat der Oberstaatsanwalt dann noch – halbherzig, schließlich hatte sie in der Hauptverhandlung selbst Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragt – eine 5 ¼ Seiten lange Revisionsschrift verfasst und mit dieser Revision zum Oberlandesgericht Koblenz eingelegt.

Damit war Dr. med. Recktenwald rechtskräftig freigesprochen worden, obwohl er nachweisbar Beihilfe zum Mord an ca. 1.500 Menschen geleistet hat.

Meine Damen und Herren! Dr. Recktenwald und der Ausgang des Strafverfahrens gegen ihn sind kein Einzelfall. Von deutschen Gerichten ist – glaube ich – nur ein einziger Arzt wegen der Anstaltsmorde verurteilt worden. Ein Arzt der Tötungsanstalt in Hadamar. Immer wieder gab es Prozesse gegen Ärzte, die nach dem Krieg untergetaucht waren. Im Jahre 1986/87 fand ein letzter „Euthanasie“-Prozess beim Landgericht Frankfurt/Main statt. Angeklagt war u.a. ein Dr. Ullrich, früherer Arzt in der Tötungsanstalt Brandenburg. Als dieser im Prozess davon sprach, es seien lediglich „leere Menschenhülsen“ getötet worden und dies dann in der Heimatzeitung berichtet wurde, meldete sich eine ehemalige Patientin Dr. Ullrichs, die bei ihm nach dem Krieg jahrelang in Behandlung war. Sie schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft. Mit diesem Brief will ich hier schließen. In dem Brief erzählt sie von ihrem älteren Bruder, der Ende der 30er Jahre in Abständen von vier bis sechs Wochen epileptische Anfälle bekam. Eines Tages sei ihr Vater aufgefordert worden, den Jungen die die Heil- und Pflegeanstalt Andernach zu bringen. Dann heißt es wörtlich in diesem Brief:

Ich kann mich gut erinnern“, schrieb die Frau, „dass wir meinen Bruder dort besuchten. Mein Bruder liebte mich sehr und hob mir stets alle seine Geschenke auf. Mein Vater versprach meinem Bruder immer wieder, dass er nach Hause kommen dürfe, er sprach mit den Ärzten und wurde stets vertröstet. Mein Bruder konnte ausgezeichnet Violine spielen und bat immer wieder, ihm sein Instrument zu bringen, was aber abgelehnt wurde.

(Der Junge kam dann nach Hadamar. Sein Tod zerstörte das Leben der ganzen Familie. Die Frau fuhr in ihrem Brief fort:) Glauben Sie mir, meine ganze Kindheit war von diesem Mord überschattet, meine Eltern lachten nie wieder. Main Vater machte sich bis auf sein Sterbebett die schrecklichsten Vorwürfe, dass er es zugelassen hatte, dass mein Bruder überhaupt zur Untersuchung kam (…) Der Schmerz von uns konnte niemals milder werden, denn später kamen diese schrecklichen Berichte, ich sehe sie vor mir, die Busse mit den verhangenen Fenstern und darinnen diese armen Menschen. Ich habe mich immer wieder gefragt, was mein Bruder gedacht hat, wie mag er über meinen Vater gedacht haben, auf dessen Wort man bauen konnte. (Abschließend heißt es in dem Brief:) Mir steht es nicht zu, ein Urteil zu fällen. Aber gibt es eine Gerechtigkeit? Herr Dr. Ullrich konnte diese Gräuel sicherlich vergessen, er wohnte adäquat und hat sicherlich ein gutes Leben gehabt. Vielleicht bekommt er seines Alters wegen Straferlass, ich aber (…) kann es mein Leben nicht vergessen.