Wilhelm Kircher (1898 – 1968)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum dritten und letzten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Der erste Vortrag vor vier Wochen beschäftigte sich mit dem Gauleiter Josef Grohé. Im zweiten Vortrag vor zwei Wochen porträtierte ich den SS-Führer Carl Zenner. Und heute werde ich Ihnen von Wilhelm Kircher erzählen – einem Lehrer. Das letzte Mal ging es um den Massenmord an Juden im weißrussischen Minsk. Das war ein abscheuliches Verbrechen – es war vieltausendfacher Mord bzw. – wie es das Schwurgericht Koblenz später sah – Beihilfe zum Mord. Dieses Verbrechen Carl Zenners und anderer ist so das, was man typischerweise vor Augen hat, wenn man an NS-Täter denkt. Es sind die SS und der Holocaust, die das Bild der NS-Täter im Allgemeinen prägen. Wer diese Vortragsreihe verfolgt, weiß, dass ich als NS-Täter nicht nur Helfer Hitlers und Himmlers porträtiere, die unmittelbar Blut an ihren Händen kleben hatten. Mir geht es mit dieser Reihe auch darum, „Schreibtischtäter“ und ideologische Wegbereiter und – begleiter der Nazis und Repräsentanten des NS-Systems zu porträtieren. In diesem Zusammenhang darf ich nur an die verschiedenen von mir porträtierten Gauleiter, den Regierungspräsidenten Harald Turner und die Richter und Staatsanwälte erinnern, deren Biografie ich an dieser Stelle beschrieben habe. Mir geht es mit dieser Sichtweise darum, uns den Blick zu öffnen – und nicht nur zu beschränken auf Hitler und Himmler und die SS, sondern darum, die breite Palette der willigen Helfer vor Ihnen auszubreiten. Diese Schwarz-Weiß-Malerei – hier die Bösen, dort die Guten – hilft nicht. Die Übergänge waren fließend. Viele „normale“ Bürger und Beamte konnten zu Massenmördern werden – denken Sie nur an die Arbeit von Christopher Browning: „Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung’ in Polen“. Auch sonst konnte man – wenn man nicht aufpasste – beruflich schnell ein Zahnrad in der NS-Ausgrenzungs- und Terrorhierarchie werden – denken Sie nur an die so genannten „Furchtbaren Juristen“.
Es gibt keinen einheitlichen Typ des NS-Täters. Sicherlich gab es gewisse Dispositionen dazu, ein solcher zu werden, auch gab es gewisse typische Milieus und auch verschiedene Typen von NS-Tätern. Aber den typischen NS-Täter gab es nicht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Menschen zu NS-Tätern aufgrund ihrer beruflichen Stellung wurden. Sie waren und wurden nicht Gauleiter oder SS-Führer, sondern blieben, das was sie waren: Juristen, Ärzte, Polizisten u.a. Sie stellten ihre Fähigkeiten und Kenntnisse „nur“ in den Dienst der NS-Ideologie und des NS-Terrors. Manchmal drängten sie sich auch danach – wollten Karriere machen -, aber sie blieben doch immer auch das, was sie waren und gelernt hatten: Juristen, Ärzte, Polizisten u.a.
Aus diesem Blickwinkel heraus habe ich Ihnen in den letzten Jahren immer auch einen „furchtbaren Juristen“ vorgestellt. Dieses Mal möchte ich von dieser Übung einmal abgehen und Ihnen heute einen Lehrer porträtieren, den Hauptlehrer Wilhelm Kircher. – Es muss ja nicht immer ein Jurist sein, es gab ja auch andere…
Die Biografie Wilhelms Kircher habe ich nicht – wie viele andere – mir aus den Akten selbst zusammengesucht oder anhand von Kurzbiografien und weiterer Originalunterlagen erarbeitet. Dieser Vortrag fußt vielmehr auf der sehr gründlichen Arbeit von Jörg-W. Link: „Reformpädagogik zwischen Weimar, Weltkrieg und Wirtschaftswunder“. Dieses Buch aus der Promotion Links hervorgegangen. In der Dissertation wie im Buch hat er das Thema an der Biografie Wilhelm Kirchers festgemacht und damit vor nunmehr 10 Jahren auch eine Biografie über Wilhelm Kircher geschrieben. Dem Buch hat der Herausgeber ein Vorwort vorangestellt, aus dem ich nachfolgend zitiere:
(Hier) steht die kontrastreiche und widersprüchliche Biografie von Wilhelm Kircher (1898 – 1968) im Mittelpunkt. Kircher gehörte während der Weimarer Zeit zu den bekanntesten, engagiertesten und kreativsten Protagonisten einer reformpädagogischen orientierten Landschulreform und war gleichzeitig ein Pionier des Schulfunks. In der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte er sich zum exponierten Funktionär im Nationalsozialistischen Lehrerbund und beteiligte sich als „pädagogischer Überzeugungstäter“ auch an der Mikrostruktur des Terrors in den Lehrer-Schulungslagern. Schließlich gewann Kircher nach einer krisenhaften Phase der Selbstreflexion nochmals in der Bundesrepublik Deutschland als Landschulreformer und nunmehr auch als Erwachsenenbildner Bedeutung. Er hat insgesamt 591 Bücher und Aufsätze (und Artikel) verfasst. Gleichwohl war der Name von Wilhelm Kircher in der Forschung bislang völlig unbekannt.
Beschäftigen wir uns nun mit diesem Pädagogen, der sowohl engagierter Reformpädagoge war als auch überzeugter Nationalsozialist. Lassen wir uns auf diese Ambivalenz ein – und lassen wir am Ende auch die Frage zu: War das denn überhaupt ein Täter? Und geben wir darauf dann eine abgewogene, aber wohl richtige Antwort.
Geboren wurde Wilhelm Kircher am 18. April 1898 als erstes Kind und einziger Sohn des Kellermeisters David Gottlieb Kircher und seiner Frau Elisabeth in Frankfurt am Main. Die Eltern waren aus dem Württembergischen 20 Jahre zuvor nach Frankfurt gezogen. Kircher war in ein aufstrebendes Sozialmilieu hineingeboren. In dieser Zeit erlebte Frankfurt einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Kirchers Eltern und er selbst waren bildungsbeflissen. Sie schickten das Kind auf eine Mittelschule und zahlten dafür auch Schulgeld. Zu Ostern 1913 verließ der knapp 15-jährige Wilhelm das Elternhaus und ging nach Wetzlar in das dortige Lehrerseminar. Zunächst musste er als Mittelschüler die Präparandenanstalt besuchen und nach dem Bestehen der Abschlussprüfung wechselte er Ostern 1915 auf das Lehrerseminar.
Ostern 1915 – das war ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914. Der Erste Weltkrieg sollte für Wilhelm Kircher wie für Millionen junger Männer seiner Generation zu einem Trauma werden. Jahre später, im Jahre 1931, schildert Kircher unter dem Titel „P.o.W. 496“ („P.o.W. bedeutet „Prisoner of War“) die Erlebnisse des Gefreiten Liehr an der Westfront ab März 1918 bis zur Rückkehr aus englischer Gefangenschaft im Herbst/Winter 1919/20. Bis ins kleinste Detail decken sich die biografischen Informationen zu Liehr mit den persönlichen Daten Kirchers, so dass der Roman ohne Zweifel eine Art Autobiografie Kirchers ist.
Danach wurde Kircher Anfang September 1917 zum Kriegsdienst einberufen. Bald stand er an der Westfront und erlebte die vernichtenden „Materialschlachten“. Ende Oktober erlitt er eine Gasvergiftung, die er mit viel Glück in französischen Lazaretten und Lagern überlebte. Aus dieser Zeit stammt auch die Taubheit eines Ohres, an der Kircher sein leben lang litt. Im Gefangenenlager engagierte er sich für die Kulturarbeit und war u.a. an der Gründung einer Theater- und Varietégruppe beteiligt. In dem Roman schilderte Kircher auch die Gefühle der Landser angesichts des bevorstehenden Gefangenenaustauschs und der Nachrichten von der „Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Es heißt:
Die frisch umgepflügten Schollen vor dem Camp duften nach Freiheit. (…) Wir sind die geprüfte Generation, die Generation mit der Dornenkrone. Hier aus dem Stacheldraht hat man sie gewunden. Die Narben bleiben. (…) Wehr Dir, deutsches Volk, wenn Du das Vermächtnis Deiner Toten mit Füßen trittst! (…) Ja, ich glaube an Dich, mein Deutschland! Magst Du die Farben wechseln, wie immer Du willst, mögen sie Dich im Rat der Völker bespötteln und verachten; ich glaube an das heimliche Deutschland, das seine Trommelwirbel vor den Haufen der Menschen herträgt, das seinen Anspruch macht, erkannt zu werden, das aber da ist wie eine große Bruderschaft des Geistes.
Im Spätsommer 1919 kam Kircher dann nach Frankfurt zurück. Wegen seiner Kriegsverletzungen und der allgemeinen Schwächung unterzieht er sich erst einmal einer Kur. Da er noch vor seiner Einberufung zum Kriegsdienst vorzeitig seine erste Lehrerprüfung bestanden hatte, begann Kircher Anfang 1920 mit der praktischen Ausbildung als Lehrer. Dabei wurde er schulartübergreifend an insgesamt neun Schulen in Frankfurt eingesetzt – bis er dann im März 1923 die zweite Prüfung zur endgültigen Anstellung als Lehrer an Volksschulen mit der Note „sehr gut“ bestand.
Danach wurde Kircher der Koblenzer Schulverwaltung überwiesen. Diese versetzte ihn nach Isert bei Altenkirchen im Westerwald, an die dortige einklassige Dorfschule. Dies war sicherlich ein „Kulturschock“ für den jungen Kircher. Denn von dem großstädtischen Milieu in Frankfurt und den dadurch geprägten Schulverhältnissen und Lebensumständen kam er unvermittelt in das ländliche Milieu des Westerwaldes und eine einklassige Dorfschule.
Das Dorf Isert hatte mit Kircher nicht nur einen neuen Lehrer erhalten, sondern zugleich eine neue Schule. Die Eltern waren zunächst skeptisch, weil Kircher gar nicht so in das Bild passte, was man damals im Westerwald von einem jungen Lehrer hatte. Aber Kircher wollte nicht nur die Kinder für sich und seine Pädagogik gewinnen, sondern auch die Eltern. Kaum hatte das Schuljahr begonnen, veranstaltete er einen Elternabend, auf dem er über „Wesen und Ziel der Arbeitsschule“ sowie den „Sinn der Erziehung“ informierte. Damit und vor allem mit seinen Erfolgen bei seinen Schülern konnte er nach und nach ….. die Eltern für seine Schularbeit gewinnen.
Seine Reformpädagogik und sein Schulversuch hatten einen Namen, seinen Schüler und er nannten dies „Haus in der Sonne“. Dabei war der Schulversuch im „Haus in der Sonne“ eine rollende Reform, die offen war für pädagogische und gesellschaftliche Entwicklungen und Ansätze. Um Ihnen einen Eindruck von diesem reformpädagogischen Schulversuch zu vermitteln, zitiere ich aus der Schulchronik für das Jahr 1928:
Das Jahr 1928 war für die innere Umbildung der Versuchsschule Isert von größter Bedeutung. Alle Wohnräume, früher Lehrerwohnung, sind zu Arbeitsräumen geworden: Raum der Kleinen, Lesezimmer, Weiheraum, Erdkundezimmer, Geschichtszimmer. Die Bankordnung ist so verändert, dass alle Kinder bei der Arbeit sich gegenseitig sehen. Das arbeitsgemeinschaftliche Verhältnis zu Handwerkern und Eltern ist systematisch ausgebaut und ein recht enges geworden. Leitgedanke wird ein Volksunterricht vom Kindergartenalter bis zur Erwachsenenbildung, Leitbild die dänische Volkshochschule. Die Schülerselbstverwaltung ist organisiert, der Gesamtunterricht wird auf den Schild erhoben, die Schüler haben Anteil an der Plangestaltung. (…) Die Kinder haben mehrere Male vier Tage hintereinander Schule gehalten ohne Lehrer.
Bereits der Name „Haus in der Sonne“ sollte symbolisieren, dass die Schule vom leben durchflutet wird, dass die Kraft der Sonne den jungen „Pflänzlingen“ in der Schule immer neue Kraft zur Entfaltung gibt. Es sollte eine Arbeits- und Gemeinschaftsschule sein, die lebens- und gegenwartsnahes, praktisches und soziales Lernen mit theoretischer Verarbeitung der Erfahrungen und besinnender Rückschau verbinden sollte. „Wir müssen uns in der Landschule frei machen von lehrhaftem Drill, von der Angst vor einem scheinbaren Zeitmangel und das Leben hereinlassen“, lautete eine von Kirchers Maximen. Neben dem „Haus in der Sonne“ gab es bald ein selbstgebautes Blockhaus im nahe gelegenen Wald, das als „Sommerschule“ und als „Nest“ der Jugend diente. In diesen Räumen waren die Arbeitsmaterialien jedem Schüler jederzeit frei zugänglich.
Kircher setzte sich konsequent für die Integration der Schule in das Leben des Dorfes, für die Dorfeigene“, jedoch nicht „dorfenge“ Schule ein: die Schule als ein Zentrum und eine Transformatorenstelle binnendörflichen Lebens mit dem Blick ins Weite“. Regelmäßig veranstaltete er Elternabende und auch Volkshochschulabende.
Auch das schulische Bildungsangebot wurde erweitert: Ab 1931 gab es in Isert ein freiwilliges neuntes Schuljahr. Das ist umso bemerkenswerter, als es im „Haus in der Sonne“ keine ausgesuchte Eltern- und Schülerschaft gab. Selbstverständlich war auch, dass der Unterricht von Fachleuten aus dem Dorf oder der benachbarten Stadt Altenkirchen, sog. Laienlehrkräften – oder, wie die Kinder sie nannten, „Privatdozenten“ – unterstützt wurde. Aber nicht nur, dass das Leben in die Schule hineingeholt wurde, auch trugen die Kinder ihr Schulleben ins Dorf und in die Welt hinaus: Sie arbeiteten in Werkstätten, forschten in der Natur, spielten Theater im Nachbarort oder in der Kreisstadt Altenkirchen, unterhielten Briefwechsel mit vielen Schulen Deutschlands und des Auslands.
Auch verfassten sie Artikel für die Schülerzeitung „Neues aus dem Scheunenviertel“, die regelmäßig in der Altenkirchener Kreiszeitung abgedruckt wurde. Über die Aufnahme der Artikel entschied die ganze Klasse, der der Autor seine Arbeit zur allgemeinen Kritik vorlegen musste. Diese Zusammenarbeit mit der Zeitung war sehr erfolgreich. Hierzu stellte Kircher fest:
Der Gedanke einer Kinderbeilage findet immer mehr Beachtung. Andere Kreisblätter versuchen nach unserem Vorbild eine ähnliche Spalte zu schaffen. Sogar in pädagogischen Fachzeitschriften, die bisher ausschließlich für Lehrer bestimmt waren, erscheint eine Kinderzeitung.
Und zum Ziel der Schülerzeitung heißt es:
Unser „Scheunenviertel“ soll kein Tummelfeld kindlicher Eitelkeiten sein, sondern ein Fenster, in das Vorübergehende hineingucken, durch das sie die „neue Schule“ an der Arbeit sehen. Wenn diese „neue Schule“ so häufig Gegenstand des Zweifels, des Spotts, der Verleumdung ist, so muss sie Recht und Mut haben, ihren Alltag unaufdringlich in die Debatte zu bringen.
Eine weitere Institution des „Hauses in der Sonne“ – wie auch generell vieler Reformschulen in der Weimarer Zeit – war das Schultheater. Schon im ersten Jahr von Kirchers Wirken in Isert – 1923 – gab es eine Theateraufführung. Prinzip war, dass die Theaterarbeit stets aus einem konkreten Anlass entstand. Das waren Schulfeiern, Gedenkfeiern oder eine Projektarbeit. Die Aufführungen blieben nie auf die Schule und die Schüler beschränkt, sondern suchten die Einbindung in das Gemeindeleben. Dabei führte man die Stücke nicht nur für die Gemeinde auf. Vielmehr wirkten auch der Posaunenchor, der Gesangverein oder auch die Frauen des Dorfes mit.
Aufgeführt wurden etwa Kasperle-Stücke, aber auch ein selbstgeschriebenes Stück, ein Volksschauspiel in drei Aufzügen mit dem Titel „Eselsberg“. Später berichtete ein Schüler über die Entstehungsgeschichte des Stücks:
In der Nähe meines Heimatortes liegt ein zerfallenes Silberbergwerk, vom Volksmund „Eselsberg“ genannt. (…) Wir machten zunächst eine Lehrwanderung zu dem alten Stollen. Dort hörten wir die Sage an Ort und Stelle. Es geschah zu einer Zeit, als in Deutschland der Tanz ums Goldene Kalb allgemein wurde und auch auf einsame Dörfer übergriff. Ein zeit- und heimatnaher Stoff also. Stegreifartig wurde der Stoff behandelt. Wir brachten ihn zuerst in Mundart ohne jeden szenischen Aufbau. Auch keine Spieler wurden ernannt. Sie gingen von selbst aus der Klassengemeinschaft hervor. Die Klasse entschied, ob sich jemand für die Rolle eignete oder nicht. So erstanden Spieler und Gegenspieler. Allmählich nahmen die einzelnen Bilder immer mehr Gestalt an. Nun erst begann die schriftliche Festlegung. Die Klasse wurde in Gruppen aufgeteilt. Jede bearbeitete ein Bild. In einer Gemeinschaftsarbeit wurden die Bilder zu einem Ganzen gefügt. Unser Lehrer, Wilhelm Kircher, dramatisierte später diesen Stoff nach dem von der Oberstufe aufgestellten Plane. Das Werk wurde dann von uns Schülern mehrfach öffentlich aufgeführt.
Der „Eselsberg“ entwickelte sich zu einem wahren Kassenschlager und spielte 500 Mark ein! Das Geld steckten sie in ein neues Projekt: in das Blockhaus im nahegelegenen Wald, in die Sommerschule und „Nest“ der Jugend. Bei der Einweihungsfeier des Blockhauses gab es dann ein weiteres Theaterstück: „Das Spiel ums Blockhaus“. Der Vorplatz des Blockhauses wurde dann bald zur Freilichtbühne und das Schultheater wurde zum Laienspiel erweitert. Aus der Schule Entlassene und ältere Gemeindemitglieder gründeten eine Laienspielgruppe. Unter Leitung und Mitwirkung Kirchers führte sie im Jahr 1932 „Wilhelm Tell“ auf und begeisterte über mehrere Wochen hinweg mehrere Tausend Besucher.
Das imponierendste Projekt Kirchers und seiner „Schule in der Sonne“ war der Schulfunk. Das war damals noch eine ganz neue Sache. Im Jahre 1923 hatte es die erste Rundfunksendung in Deutschland gegeben. Am 25. April 1928 hatte der Westdeutsche Rundfunk mit regelmäßigen Schulfunksendungen begonnen. Von Anfang an dabei war Wilhelm Kircher. Am ersten Sendetag des Schulfunks hielt er seinen ersten Rundfunkvortrag über pädagogische Fragen. Schon früh hatte das „Haus in der Sonne“ einen eigenen Rundfunkempfänger und man wählte Sendungen aus und besprach sie im Unterricht. Vor allem gestalteten die Schüler auch Funkstunden selbst. So war Kircher an vier Tagen im Mai und Juni 1928 mit „allen Jahrgängen“ seinem „Haus in der Sonne“ beim Westdeutschen Rundfunk in Köln – weil eine Übertragung aus der Schule an technischen Schwierigkeiten gescheitert war. Dort gestalteten sie dann selbst Schulfunksendungen live.
Im Frühjahr 1930 erhielt das „Haus in der Sonne“ vom Westdeutschen Rundfunk als erste Schule in der Geschichte des Schulfunks die Möglichkeit, sich in einer zwölfteiligen Sendereihe selbst einer pädagogisch interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Das Jahresthema des Schulfunks lautete „Das Dorf und die weite Welt“ und die Sendereihe griff dieses Thema auf. Wie es in diesen Sendungen zuging, illustriert ein Brief, den die Schüler in Isert an ihre Partnerschule in Amerika schrieben.
Habt Ihr in Amerika schon einmal vor dem Lautsprecher gesessen und Musik oder Vorträge gehört? Wenn Ihr dann den deutschen Sender Langenberg eingestellt hättet, so würdet Ihr uns deutsche Kinder vom Haus in der Sonne gehört haben. Denn wir haben im Sommer öfters Schulstunden vor dem Mikrophon gehalten. Das Mikrophon ist ein wahres Wunderkästchen, es fängt jeden einzelnen Ton auf, der Ton geht dann durch die Drähte und Maschinen hinaus in alle Welt, er kommt sogar zu Euch nach Amerika. Wir konnten dies zuerst nicht von unserer Schule aus machen, wir mussten in einem großen Omnibus nach dem Sender fahren, und dort hielten wir in einem mit Teppichen behangenen Zimmer Unterricht. Jetzt haben wir es einfacher, es kommt jeden Mittwoch ein Auto zu uns mit dem Mikrophon und den sonstigen Apparaten zum Senden. Der Ton geht nun von der Schule durch eine Leitung, die extra gelegt wurde, zum Sender, von dort aus wird er wie sonst in alle Welt geschickt. Nun wollen wir Euch auch schreiben, wie und was wir gearbeitet haben. (…) In der nächsten Stunde hatten wir Erdkunde. Die Kleinen ließen den Gulliver durch ein Dorf schreiten, welches sie im Sandkasten angefertigt hatten, und lernten dabei den verkleinerten Maßstab. Die Größeren wurden in Gruppen eingeteilt und forschten in Atlanten und Büchern, woher die einzelnen Lebensmittel kämen, die wir zu unserem täglichen Gebrauch haben müssen. Auf einem Brett stellten wir die Lebensmittel der Reihe nach auf, darüber hingen wir eine Erdkarte und zogen Fäden von den einzelnen Lebensmitteln zu den Ländern auf der Karte, wo sie herkamen. (…) Die sechste Stunde war eine Rechenstunde. Wir hatten den ganzen Schulsaal in eine Ladenstraße eingerichtet. Rechts und links waren Geschäfte. Wir hatten uns alle in Gruppen eingeteilt und folgende Geschäfte gebildet: Als erstes Geschäft eine Tabakstube, die hieß „Zum blauen Qualm“. Ein Gemüsegeschäft: „Zur ausgerechneten Banane“. Ein Kaffee- und Schokoladengeschäft: „Brasilius“. Eine Kolonialwarenhandlung: „Rosina Leckermaul“. Eine Wechselstube: „Zur Dollarprinzessin“. Als Letztes eine Großhandlung mit Namen „Proz-Entrich““. Sie hatte ihren Namen dadurch, weil sie mit Prozenten rechnete. Damit nun alle Geschäfte tüchtig verlaufen konnten. Bildeten wir eine 12-köpfige Familie. Die Kinder waren aus den einzelnen Schuljahren; sie kauften also nach ihrem Können ein.
An diesen kleinen Ausschnitten dürfte deutlich geworden sein, dass für Kircher im Mittelpunkt der Erziehung das einzelne Kind stand. Einer seiner Grundsätze war:
Jede wahre Erziehung geht aus der „Individuallage“ des zu Erziehenden hervor. Die Erziehungsintention will jedes Kind um seiner selbst willen in seiner Wertigkeit sichern und fördern; sie will Dauerbeständigkeit der dem Kinde erreichbaren höchsten Wertigkeit.
Ziel waren dabei individuelle Persönlichkeiten, „die die Gesetze der Materie meistern lernen durch Denken und nicht durch Herkommen und Gewohnheit“.
Dieser Unterricht Kirchners hatte natürlich kein starres Stundenplan- und Fächersystem. Ebenso existierten keine ziffernmäßigen Zensuren. Den Abschluss eines Projekts bildeten Sammel- und Protokollbücher, Rechenschaftsberichte, Ausstellungen, Aufführungen oder andere öffentliche Präsentationsformen. Rechtlich abgesichert waren diese Unterrichtsformen durch den Versuchsschulstatus der Schule und die persönliche Fürsorge des Koblenzer Schulrats sowie eines Ministerialdirektors im Preußischen Kultusministerium. Kircher arbeitete mit diesen exponierten Vertretern der Schulverwaltung bald sehr eng zusammen und begann, im Auftrag des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht seine Erfahrungen auf Tagungen, Vortragsreisen, die ihn auch ins Ausland führten und durch Rundfunkvorträge anderen Kollegen mitzuteilen und sich für eine breit angelegte internationale Landschulreform einzusetzen. Durch diese weit ausgreifende Arbeit Kirchers wurde der Besucherkreis des „Hauses in der Sonne“ immer größer und größer: Es kamen pädagogisch interessierte Gäste und Hospitanten aus Dänemark, Holland, Estland, Österreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei, England und sogar aus Amerika nach Isert.
Tja, meine Damen und Herren. Das war Pädagogik „at its best“. Da würden sich heute noch manche Lehrer und Schulen die Finger danach lecken, wenn sie so etwas hinbekämen – und das nicht nur einmal im Jahr bei einem Projekttag – sondern als durchgängiges Unterrichtsprinzip. Und das gab es schon vor 80 Jahren – und nicht irgendwo, sondern hier bei uns. In einem Dorf in der Nähe von Altenkirchen und gefördert durch einen Schulrat aus Koblenz und einen Ministerialdirigenten im Preußischen Kultusministerium. Und entwickelt, praktiziert und gelebt von einem jungen Lehrer, den es mit seiner ersten planmäßigen Anstellung in ein „Kaff“ im Oberwesterwald verschlagen und der sich zum Ziel gesetzt hatte: „Erziehung des Bauernbuben zur Weltläufigkeit“.
In unserer Schilderung sind wir inzwischen zeitlich am Ende der Weimarer Republik angekommen. Von Politik haben wir bis jetzt nicht viel mitbekommen. Das ist auch von der Darstellung her richtig. Denn für Wilhelm Kircher hatte die Politik nur eine untergeordnete Bedeutung. Im Mittelpunkt seiner Lebenswelt stand die pädagogische Arbeit in der Schule und im Dorf. Auch war er sehr anpassungsfähig. Als Jugendlicher und Kriegsteilnehmer war er „kaisertreu“. In der jungen Weimarer Republik war er – wie man es so schön nannte – „Vernunftsrepublikaner“ – und nicht „Herzensrepublikaner“, letzteres waren ohnehin die wenigsten.
Und dann kam die sog. Machtergreifung der Nazis, der 30. Januar 1933 und der Anfang der Nazizeit. Im Nachhinein schrieb Kircher in der offiziellen Schulchronik über diese Zeit:
Das Jahr beginnt mit lebhaftem politischen Interesse der Gemeinde. (…) Der 30. Januar wird in der ganzen Gemeinde gefeiert. An dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, herrscht allenthalben eitel Freude. Dieses Bekenntnis zur nationalen Erhebung bekundet sich auch durch die Feiern am 21. März, der erste Reichstagseröffnung, an der Schulentlassungsfeier am 31. März, an Hitlers Geburtstag am 20. April, am Tag der Arbeit am 1. Mai und am Johannistag beim Sonnenwendfeuer. An allen Tagen werden in der Schule die entsprechenden Rundfunkfeierstunden übertragen.
Erst ein Jahr später, Anfang August 1934 nach dem Tod des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg, setzte Kircher seine Schulchronik fort. Am „Tag der Beisetzung des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg“, des „Einen Unvergesslichen, des Vater(s) des Vaterlandes“ schrieb Kircher für das letzte Jahr sieben Seiten, die höchst euphorisch beginnen: „Die neue Zeit hat alle Herzen erhoben! Wir sehen nur Schönes und sind alle begeistert.“ Begeistert ist er auch vom „hohen Gedanken deutscher Einheit und Kraft“. Auch notierte er zwei Fahrten der Kinder ins Siebengebirge (zu Erinnerung an die Separatistenabwehr 1923) sowie nach Rüdesheim und Koblenz. Weiterhin verzeichnete er die hundertprozentige Zustimmung der Gemeinde zum Austritt aus dem Völkerbund und interpretierte sie als „Forderung nach Gleichberechtigung“.
Das sind schon deutliche Worte eines zuvor „unpolitischen“ Menschen. Doch bei den Worten ist es nicht geblieben. Am 1. April 1933 trat Kircher in die NSDAP ein. Er gehörte damit zu den sog. „Märzgefallenen“, das waren vor allem Beamte, die in dem „neuen Staat“ nicht abseits stehen wollten. Sie traten generell aus Opportunitätsgründen in die NSDAP ein, um mit dabei zu sein, nicht als Außenseiter aufzufallen und sich die Karrierechancen zu erhalten bzw. zu befördern. Bald darauf wurde Kircher auch Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Hier trat er nicht ausdrücklich ein. Vielmehr wurde er gleichsam als Mitglied des Deutschen Lehrerbundes in den Nationalsozialistischen Lehrerbund übergeleitet, als sich der Deutsche Lehrerbund selbst gleichschaltete und korporatives Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes wurde.
Dieses erkennbare Wohlverhalten sollte sich für Kircher schnell auszahlen. Denn noch im Dezember desselben Jahres – also 1933 – wurde er zum Kreisfachschaftsleiter für Lehrer an Volksschulen ernannt worden. Ein Jahr später erfolgte seine „Beförderung“ zum Gaufachschaftsleiter der Fachschaft IV: Lehrer an Volksschulen im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Mit dieser fachspezifischen Karriere ging auch eine beamtenrechtliche Karriere einher. Denn zur gleichen Zeit wurde er zum Hauptlehrer befördert und nach Winningen an der Mosel versetzt.
In Winningen war die Situation schon etwas anders als in Isert. Winningen war damals schon ein größeres Dorf mit ca. 2.000 Einwohnern. Auch gab es dort keine einklassige Dorfschule. Vielmehr war die Schule größer. An ihr unterrichteten fünf (eine zeitlang auch nur vier) Lehrer. Er konnte nicht mehr die Kinder vom ersten Tag an erziehen, sondern war „nur“ Klassenlehrer in den Oberklassen – in der 7. und 8. Klasse. Als Hauptlehrer war er Vorgesetzter der anderen Lehrer und er musste sich mit ihnen arrangieren und ggf. sehen, dass er sie für sein Unterrichtskonzept gewinnen konnte. Im Übrigen war in der Schule der Nazis weder Platz für das Rundfunkengagement noch für die internationalen Beziehungen.
In den Äußerlichkeiten bemühte sich Kircher aber, seine reformpädagogische Arbeit, die er im „Haus in der Sonne“ begonnen hatte, fortzusetzen. Auch die Winninger Schule sollte andere Schulen zur Umstellung der Arbeitsweise anregen. Auch entstanden – wie in Isert – mehrere Räume für Werk- und Gruppenarbeit und die Räume wurden mit Schülerarbeiten atmosphärisch angenehmer gestaltet; auch wurden Lehr- und Lernmittel selbst gestaltet. Ebenso wurden die Eltern in die Schularbeit eingebunden und Laienlehrer eingesetzt. Wie in Isert wurde eine Waldschule errichtet. In ihr verbrachte Kircher mit seinen Schülern manchmal mehrere Tage, um besonders intensiv ein Gemeinschaftsleben entfalten zu können. Auch blieb sein Verständnis von Schule maßgeblich reformpädagogisch geprägt. Er blieb seinen pädagogischen Wurzeln treu. Die Schule war für ihn kein Kasernenhof. Aber schon mit der Schülerselbstverwaltung – wie er sie in Isert gepflegt hatte – war in der Schule der Nazis nicht weit her. Gleichwohl hielt Kircher an einer Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Schülers fest.
Die Methoden und Elemente waren ganz ähnlich. Wichtig waren Feste und Feiern, Wanderungen und Großfahrten sowie Theateraufführungen. Aber alles – oder sehr vieles – hatte die Inhalte der NS-Ideologie. So kam es, dass Kircher, der seiner Reformpädagogik weitgehend treu blieb, mit dieser eindeutig nationalsozialistische Inhalte transportierte.
Das fing schon bei den Festen an. Die Anlässe hierfür waren natürlich die nationalsozialistischen Feiertage. Dabei war auf dem Land das Erntedankfest besonders wichtig. Mit diesem Fest ging einher die Glorifizierung des Bauerntums. Einen Eindruck vermittelt das nachfolgende Zitat, das aus Kirchers 1934 erschienenen Aufsatz „Aufbruch des Bauerntums“ stammt: „Die biologische Aufgabe des Bauerntums ist die erbhochwertige Hege deutschen Blutes, geistig wollen wir weg von aller Fremdtümelei zu den seelischen Grundwerten unserer Rasse: Führertum, Gemeinschaft, Arbeit, Wehr. Religiös fordern wir ein ‚arteigenes’ Christentum. Familie, Beruf (als Bauer), Jugend- und Männerbund und Kirche sind die Stätten dieser an den Grundwerten der Rasse orientierten Erziehung.“
Besonders wichtig für Kirchers pädagogisches Konzept waren Wanderungen und Großfahrten, die er im Sommer mit der Abschlussklasse durchführte. Sie sollten neben den feiern Schule und Leben miteinander verbinden.
Schon die Wanderungen hatten ein ganz spezielles Gepräge:
Zu einer guten Fahrt gehören körperliche Ertüchtigung, Charakterschule und Wissensvermittlung, Frühsport, Flaggenehrung, Marsch und Führungen durch Ortschaften, gemeinsame Mahlzeiten, Mannschaftsspiele gegen die Jugend der besuchten Gegend, Appelle, wenn nötig einmal ein Gewaltmarsch mit Verzicht auf warmes Mittagessen, Heimabende machen eine richtige Fahrt zu dem, was sie heute sein soll: zu einem Mittel politischer Erziehung.
Wenn für Kircher bereits die Wanderungen ein Mittel politischer Erziehung waren, so waren es die Großfahrten erst recht:
Weil wir den totalen Menschen schulen und erziehen wollen, aus der totalen Erziehung und Schulung aber nicht irgendein Stück willkürlich herausgebrochen werden kann, brauchen wir auch die Großfahrt. Die Erzieher, die von der Jugendbewegung her die Großfahrt kennen, können sie aus ihrem Erziehungsplan für die schulpflichtige Jugend nicht
Gleich im ersten Winninger Jahr – im Jahr 1935 – unternahm Kircher eine viertägige Mittelmoselfahrt mit dem Ziel, dass „ein Bild in der Seele (der Schüler) entsteht, von dem Schicksal dieses Grenzgaus, der durch Jahrhunderte im Kampf gegen Frankreich schwerste Opfer zahlen musste.“ Höhepunkt der Wanderung war die Begegnung mit Werner Beumelburg in dessen Geburtsort Traben-Trarbach. Beumelburg, Sohn eines Pfarrers und Superintendenten, war damals ein wegen seiner historischen und Kriegsromane sehr bekannter Schriftsteller. Den Schülern las er aus eigenen Arbeiten vor, u.a. aus seinem Buch „Mont Royal“, das die Geschichte der bei Traben-Trarbach gelegenen gleichnamigen Burg erzählt. So eingestimmt, besuchte man die inzwischen zur Burgruine gewordene Mont Royal. Einige Jungen, die zum Winninger Jungvolkfähnlein „Stoßtrupp Gneisenau“ gehörten, waren von der Stimmung so beeindruckt, dass sie spontan ein Gedicht verfassten. Es begann mit den Zeilen:
Wir sind der Stoßtrupp Gneisenau,
des Mosellandes jüngste Soldaten,
das Banner schwarz, die Augen blau,
und treu die Kameraden.
Das Lied endete dann mit:
Marienburg und Mont Royal,
der Schönheit, des Trotzes Symbole.
Wer dich begehrt, oh mein Moselland,
den soll der Teufel holen.
Die Begegnung mit Beumelburg war offenbar sehr inspirierend. Denn sie veranlasste einen 14-jährigen Schüler, Beumelsburgs Roman „Gruppe Bosemüller“ in ein Theaterstück umzuschreiben. Dies wurde als „Schülerdrama“ am 1. April 1936 im Gasthaus „Krone“ in Winningen aufgeführt und war ein großer Erfolg. Der Roman – wie auch das Stück – verherrlichte den Krieg und korrespondierte wohl auch mit Kirchers eigenen Erlebnissen während des Ersten Weltkrieges. Im Vordergrund stand der Mythos von der „Frontkameradschaft“.
Mit dem Geld aus dieser Aufführung vor Eltern und auch vielen interessierten Winningern konnten die Schüler ihre Reisekasse auffüllen, so dass sie im gleichen Jahr auf Großfahrt nach Potsdam gehen konnten. Das Ziel war bewusst gewählt, denn Potsdam gehörte zu den wichtigsten Winninger (Wein-)Patenstädten. Auf dem Weg dorthin sollten die Schüler „Größe“, Geschichte und „Errungenschaften“ ihres „Vaterlandes“ als Leistungen des Deutschen Reiches im allgemeinen und des NS-Staates im besonderen kennen und schätzen lernen, damit sie im Anschluss daran ihre Alltagspflichten für diesen Staat „um so freudiger“ erfüllten. Stationen auf der Reise nach Potsdam waren folgende Wallfahrtsorte“ deutscher Geschichte und der NSDAP: der Römer in Frankfurt/Main, die Wartburg, die Schlosskirche zu Wittenberg, die Leunawerke, Naumburg, die Garnisonskirche in Potsdam, die Reichskanzlei in Berlin, das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das „erste Lokal“ der HJ in Plauen, das Bayreuther Festspielhaus, das Haus der deutschen Erziehung in Nürnberg, das Nürnberger Parteitagsgelände, die Grabstätten Schillers, Goethes, Friedrich Wilhelms I., Friedrich des Großen, Richard Wagner und Walters von der Vogelweide. In Potsdam wurde man nicht nur vom Oberbürgermeister begrüßt, sondern es kam auch wieder zu einer Begegnung mit dem Schriftsteller Beumelburg.
Bei so viel Kontakt und „geistiger Verwandtschaft“ mit Beumelburg war es nur folgerichtig, die Winninger Volksschule am 19. Februar 1937, dem 38. Geburtstag ihres „Dichterpaten“, in „Werner-Beumelburg-Schule“ zu benennen und ihm mit Beschluss des Gemeinderates vom 12. November 1939 zum Ehrenbürger von Winningen zu ernennen. In Dankbarkeit und in Verehrung für ihren „Dichterpaten“ und sicherlich auch in Erinnerung an die Mittelmoselfahrt im Jahr 1937 führten die Schüler später dessen Roman „Mont Royal“, der ebenfalls dramatisiert worden war, auf. Wie es damals hieß zeigte das Stück in der schlimmsten Tyrannei durch den Franzosenkönig Ludwig XIV. das Moselvolk in seinem echten Heldentum und in seinem Glauben an das Reich. Es war so richtig nach dem Geschmack der Zuschauer. Denn es kam offensichtlich so gut bei den zahlreichen erschienenen Eltern und Freunden der Schule an, dass „reicher Beifall die wackere Spielschar (belohnte)“.
Die Großfahrt im Sommer 1937 führte in die zweite Weinpatenstadt Winningens, nach Kiel. Auf dieser „Lehrfahrt“ machte die Gruppe auch wieder Station an den „Weihestätten“ deutscher Geschichte. Zudem legte sie einen Zwischenstopp in einem Landjahr-Lager ein, in dem auch ehemalige Winninger Schüler waren. Dort gab es ein herzliches Wiedersehen auch mit ihrem früheren Lehrer Kircher.
Die letzte Großfahrt ging 1938 nach Süddeutschland und in die Alpen. Der „tiefste Sinn“ der Fahrt – so Kircher in seinem Antrag an die Schulbehörde – sei es, „die Jugend mit der Hauptstadt der Bewegung, mit dem befreiten Österreich in engste Berührung zu bringen.“ In München, der „Hauptstadt der Bewegung“, waren die Schüler Gäste von „Blutordensträgern“, die im Jahr zuvor in Winningen zu Besuch waren; zu Mittag aßen die Winninger im „Braunen Haus“.
Zu Hause waren die Laienspiele, die „nationalen Weihespiele“ ein Höhepunkt. Bekannt ist die Aufführung von vier solcher Laienspiele. Neben den Dramen „Gruppe Bosemüller“ und „Mont Royal“ – jeweils nach Romanen des Dichterpaten Beumelburg dramatisiert – waren das „Die schwarze Wiege“ (ein Spiel aus dem Bauernkrieg nach Beumelburgs „Reich und Rom“) und als viertes Stück „Schwert im Wappen, Treue im Herzen“ (ein Winninger Heimatspiel).
Alle diese Laienspiele dienten der politischen Erbauung und der Wehrerziehung. Dabei war Wehrerziehung für Kircher keine Aufgabe, der er sich erst mit dem Kriegsbeginn stellte. Nach seiner Auffassung nach war die „gesunde nationalsozialistische Erziehung ihrem innersten Wesen nach wehrpolitisch“ – anders gesagt: „Bei uns (sind) Wehrerziehung und allgemeine Erziehung eins“. Wie das so ablief, schilderte Kircher einmal so:
Am 29. Juni 1939 jährte sich zum 20. Male die Wiederkehr des Tages der Unterzeichnung des Versailler Schandvertrages. An diesem tag mache ich mit meinen Buben eine Frühwanderung, nachts um 2 ½ Uhr brechen wir auf. Zunächst beobachten wir das Erwachen der Vogelwelt. Kurz vor Sonnenaufgang sind wir auf einer Anhöhe über Winningen zu einer Feierstunde angetreten. Um 4.32 Uhr taucht der Sonnenball aus dem Frühnebel auf. Jetzt beginnt die Feier. Wir gedenken der Not, die durch Versailles über Deutschland gekommen ist, wir hören die Worte des Führers.
Wir singen. Trutzig klingt es in der frühen Morgenstunde auf: „Nur der Freiheit gehört unser Leben!“ Und wir wissen: der Führer führt Deutschland der Sonne entgegen.
Nach der Feier gehen wir mit einem kundigen Jungbauern durch die Gemarkung und achten auf die sichtbaren Spuren der Erzeugungsschlacht. (…)
Der Führer verlangt von uns jungen Bauernsöhnen höchste Berufsleistung in Einsatz für die Erzeugungssteigerung. Er verlangt von uns Härte, Gesundheit, Wehrwillen und Wehrfähigkeit. Er verlangt von uns ein dreifaches Soldatentum: Wir müssen werden Soldaten der Scholle, politische Soldaten und Soldaten der Wehrmacht. Die totale deutsche Erziehung will das erreichen.
Radikalisiert durch den totalen Krieg formulierte Kircher unmissverständlich:
Die nationalsozialistische Schule (ist) (…) keine Gelehrten- und keine Bildungsschule, (auch) nicht Vorstufe des Berufes (…), nicht Stätte der Jugendgemeinde (…), nicht Atelier des kindlichen Genius, (nein, sie ist) eine Waffengefährtin der politischen Volksführung, sie ist Weltanschauungsschule.
Problemlos gelang es Kircher, seine reformpädagogische Didaktik, die doch an sich einen emanzipatorischen Erziehungsauftrag verfolgte, mit nationalsozialistischer Ideologie zu füllen und sie in den Dienst des von Hitlers entfesselten Weltkrieges zu stellen.
Während Kircher Hauptlehrer in Winningen war, war er zugleich Funktionär im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Zwei Wochen vor seiner Versetzung und Beförderung nach Winningen war er ja Gaufachschaftsleiter für die Lehrer an Volksschulen geworden. Als solcher hatte er vor allem die Lehrer auf den Nationalsozialismus ideologisch auszurichten. Das geschah vor allem durch Schulungen und da insbesondere durch Schulungslager. Die Funktion dieser Lagerschulung beschrieb der Koblenzer Gauwalter und Chef der Schulverwaltung wie folgt:
Vielen unserer Erzieher fehlt das Erlebnis der Frontgeneration. (…) Darum gehören sie für einige Wochen ins Lager, worinnen durch Kameradschaft und lebendige Gemeinschaft ein erprobter Weg vom ich zum Wir und zum Volke führt. In solchen Lagern findet die planmäßige Überholung und Schulung statt. Gerade für die Schulung im engeren Sinne, für das Eindringen in das Gedankengut des Nationalsozialismus ist hier der rechte Ort. (…) Dieser nationalsozialistischen Ausrichtung der Erzieherschaft dienen Vorträge, Volks-, gelände- und Wehrsport, Turnen und Wandern, Singen und Spielen am Feierabend sowie die Verbindung mit der Bevölkerung und mit der Schule am Ort des Lagers. Für das Lagerleben besteht das Wichtigste in der Pflege der Kameradschaft, die in Lehren und Lernen, in Spiel, Arbeit und Feier zum Vorschein kommen muss. (…) Durch Wort und Tat sollen die Lager in die nationalsozialistische Weltanschauung einführen. In den Vorträgen werden darum die Geschichte und das Gedankengut der nationalsozialistischen Bewegung dargelegt, die wichtigsten Maßnahmen des Staates seit der Machtübernahme werden besprochen. Dann werden die neuen Stoffgebiete, Rassenkunde und Vorgeschichte einführend behandelt.
Diese Schulungslager dauerten mehrere Wochen und dafür steckte man die Lehrer in Uniformen. Die zentrale Lehrer-Schulungsstätte des Gaues Koblenz-Trier lag in dem Westerwalddorf Friedewald. Dort gab es ein Renaissanceschloss, der der Nationalsozialistische Lehrerbund gemietet hatte. Der erste Lehrgang fand im Herbst 1935 statt. Insgesamt sind 41 Lehrgänge bekannt. An 28 von ihnen war Kircher beteiligt, meist als Referent, bei sechs Lagern auch als Lehrgangsleiter. Der Tagesablauf dieser Lehrgänge war im Lager immer gleich. Neben rituellen Handlungen wie Flaggenhissung und Flaggeneinholen stand Sport auf dem Tagesplan. Schwerpunkt waren dann weltanschauliche und fachliche Vorträge. Kirchers Standardvortrag hieß „Organisches Weltbild“ bzw. „Organische Pädagogik“. Darin schilderte er auch, wie er dieses Weltbild und die Pädagogik in seiner Werner-Beumelberg-Schule in Winningen umsetzte.
Für diese Zwecke wurde Kircher vereinnahmt und er ließ sich auch vereinnahmen. Und er tat es offensichtlich – wie sehr vieles in seinem Leben – mit Begeisterung. Dazu schrieb er:
Im Lager aber können die Lehrer die Wirkung der Fahnenfeier an sich selbst erleben. Das ist namentlich wichtig und nötig für ältere Lehrer, die bisher nicht wie ihre jüngeren Kollegen in einer Lagergemeinschaft gestanden haben. Wenn sie ins Lager eingetreten sind und sozusagen alle privaten Reservate auf Kammer abgegeben haben, wenn sie in gleicher Uniform antreten, in normierten Betten schlafen, am gleichen und für alle verbindlichen Tagesablauf vom Frühsport über Schulung und Arbeitsdienst bis zur Abendrunde teilnehmen, dann erfahren sie an sich: Wer auf die Fahne der Mannschaft schwört, hat nichts, was ihm noch selbst gehört!
Das war Kern und Ziel der nationalsozialistischen Lagerpädagogik: die Auflösung der Persönlichkeit. Die Wirkung eines solchen Lagerlebens hat einmal sehr treffend der Publizist Sebastian Haffner beschrieben. Er war in keinem Lehrer-Schulungslager, wohl aber – als angehender Jurist – im Herbst 1933 in einem ganz ähnlichen Lager, dem Hanns-Kerll-Lager für Rechtsreferendare in Jüterbog. Dazu stellte Sebastian Haffner folgendes fest:
(Es war der 13. Oktober 1933 und im Radio kam die Meldung, dass Deutschland die Abrüstungskonferenz und den Völkerbund verlassen habe.) Als (der Sprecher) ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte zum ersten Mal, plötzlich ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Munde – das Gefühl: „Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht.“ Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in der Luft, ungefähr drei Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. (…)
(Und dann zum zentralen Begriff und Wert der „Kameradschaft“): (Ich) behaupte mit aller Schärfe, dass (…) diese Kameradschaft eins der furcht-barsten Mittel der Entmenschung werden kann – und in der Hand der Nazis geworden ist. Es ist das große Lockmittel, der große Köder der Nazis. (…) Sie haben die Deutschen überall zu Kameraden gemacht und sie vom widerstandslosesten Alter an an dieses Rauschmittel gewöhnt: in der Hitler-Jugend, der SA, der Reichswehr, in tausend Lagern und Bünden (…) Kameradschaft gehört zum Krieg. (…) Die Kameradschaft, um das Zentralste voranzustellen, beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung, so im bürgerlichen Sinne, und, schlimmer, im religiösen. (…) Viel schlimmer ist, dass Kameradschaft dem Menschen auch die Verantwortung für sich selbst und vor Gott und seinem Gewissen abnimmt. Er tut, was alle tun. Er hat keine Wahl. Er hat keine Zeit. (…) Wenn wir – Referendare immerhin, Akademiker mit intellektueller Schulung, angehende Richter und gewiss nicht durch die Bank Schwächlinge ohne Überzeugungen und ohne Charakter – in Jüterbog binnen weniger Wochen zu einer minderwertigen, gedankenlos-leichtfertigen Masse geworden waren, … dann waren wir dies durch Kameradschaft geworden.
Soweit Sebastian Haffner über seine Zeit im Gemeinschaftslager Hanns Kerrl für Rechtsreferendare in Jüterbog und das „Gift der Kameradschaft“. Nicht viel anders war es im Lehrer-Schulungslager in Friedewald. - Und Wilhelm Kircher, der mit seiner Reformpädagogik die Individualität der Kinder fördern und fortentwickeln wollte, war da mitten dabei.
Und er machte weiter Karriere. Während seiner Zeit als Hauptlehrer in Winningen und noch vor dem Krieg wurde er Reichsreferent für Landschulfragen. Zum 1. Januar 1941 ernannte man ihn schließlich zum Reichsfachschaftsleiter der Fachschaft IV: Lehrer an Volksschulen. Während er Reichsreferent noch neben seiner Tätigkeit als Hauptlehrer in Winningen sein konnte, war das als Reichsfachschaftsleiter nicht mehr möglich. Das war eine hauptamtliche Tätigkeit mit Dienstsitz im „Haus der Deutschen Erziehung“ in Bayreuth. Kircher zog mit seiner Familie – mit seiner Frau und den inzwischen vier Kindern – von Winningen nach Bayreuth. Kirchers Aufgaben lagen vor allem in der Ausarbeitung und Neugestaltung von Lehrplänen und in der Ausrichtung der Lehrerschaft. Im Lehrer sah Kircher dabei auch den „Künder“ der nationalsozialistischen Weltanschauung:
Das Richtbild des Führers als des größten Volkserziehers aller Zeiten wird ungeahnte Energien aus denen herausholen, die sich mit heißem Glauben der Aufgabe verschreiben, die Schuljugend in die bedingungslose Gefolgschaft Adolf Hitlers zu stellen. Kämpfer und Künder, Kämpfer auf Schlachtfeldern und im Ringen um die innere Größe des Reiches, Künder heldischer Art, selbstlosen Opfers, reichster Innerlichkeit: das ist der Lehrer und Erzieher von heute.
Immer weiter entfernte sich Kircher von der früher gerade auch von ihm propagierten Individualbildung der Kinder.
Aus der Systemzeit stammt das Wort von Bertrand Russell: „Der ideale Lehrer sollte seine Kinder mehr als ein Vaterland lieben!“ Das bezeichnet typisch die weltanschauliche Hilflosigkeit der damaligen Epoche und ihren radikalen Schuloptimismus, der die Nation nicht sah, in der Leere der Abstraktion dem einzelnen Kind nachging und es in einem weltabgeschiedenen Wertreich ansiedelte. Es geht heute nicht um das Reich der Werte, es geht um das politische Reich der Deutschen. Der Lehrer sieht in dem Kinde nicht so sehr den werdenden Menschen, als er in der Jugend das kommende Volk liebt und so seinen Auftrag darin sieht, Jungvolk zu Volk empor zu bilden. Von der Nation her liebt der Erzieher und Lehrer die Jugend und das Kind.
Anfang 1943 – nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad – waren Lehrplangestaltung und Lehrerbildung für den Nationalsozialismus kein relevante Themen und Aufgaben mehr. Die Dienststelle Kirchers wurde deshalb für die Dauer des Krieges „stillgelegt“ und Kircher wurde in die NSDAP-Gauleitung in Bayreuth übernommen. Seine Hauptaufgabe bestand offenbar in der Betreuung der pädagogischen Presse. Er selbst rief immer mehr zu einer „pädagogischen Mobilmachung“ auf. Die Titel seiner ab 1943 veröffentlichten Aufsätze sprechen eine deutliche Sprache: „Totaler Krieg – Totaler Einsatz“ – „Alleinarbeit in der Schule während des totalen Krieges“ – „Der volkstumspolitische Imperativ“ – „Germanische Renaissance“ – „Das Reich und die Schule“ – „Die Schule und der Sieg“ – „Das Reich und Europa“ – „Rassische Zucht, nordisches Lebensgefühl und politische Erziehung“.
Mit diesen und anderen Propagandaartikeln schaffte Kircher dann noch einen weiteren Sprung auf der Karriereleiter: Zum 1. März 1944 wurde er außerplanmäßiger „Reichsbeauftragter für die weltanschauliche Schulung der deutschen Erzieher“ im Hauptschulungsamt der NSDAP in München. Die NSDAP hatte jetzt für die Dauer des Krieges die weltanschauliche Betreuung und Ausrichtung der Erzieher selbst übernommen und Kircher half bei der weltanschaulichen Ausrichtung.
Den Krieg bezeichnete Kircher nun als „Rassenkrieg gigantischen Ausmaßes zwischen arischer Menschheit und Judentum“. Dieser zwinge zu einer „ausweglose(n) Unerbittlichkeit“, die besonders nach den Ereignissen des 20. Juli eines neuen Bekenntnisses zum Glauben an den Führer bedürfe. Nur ein solcher „unbezwingbarer Glaube“ sichere den Einsatz bis zum letzten. Hier galt dann weder das eigene noch das andere Leben etwas:
Mit dem Glauben wächst unsere Härte! An den Strang, wer in diesem Kampf die Schmuggelware der Friedenssehnsucht in die Front der starken Herzen tragen will, wer Feindesliebe predigt angesichts der bestialischen Mordsorgien unserer Gegner, wer Gefangenen gegenüber in Humanitätsduselei erstickt.
Das Kriegsende und die frühe Nachkriegszeit erlebte Kircher in Bayern. Dort wurde er dann auch als „Mitläufer“ (Gruppe IV) entnazifiziert. Einige Zeit später folgte er seiner Frau und seinen Kindern in den Westerwald und kehrte in das Elternhaus seiner Frau nach Isert zurück, wo diese zunächst wieder Unterkunft gefunden hatten.
Schon bald bemühte sich Kircher um die Wiedereinstellung in den Schuldienst, aus dem er ja seinerzeit mit der Übernahme von hauptamtlichen Aufgaben ausgeschieden war. Die Wiedereinstellung zog sich hin, erfolgte dann aber im Frühjahr 1950. Insbesondere die Schulverwaltungsbeamten sprachen sich für Kircher aus. Nach einigen Vorträgen, die Kircher vor Lehrern gehalten hatte, hieß es dazu:
Wenn auch einerseits in einem gewissen Umfange die politische Belastung des Herrn Kircher hier bekannt ist, so ist auch andererseits Kircher als ein Reformer der einklassigen Landschule allgemein bekannt. Es steht auch zweifelsfrei fest, dass sein Vortrag einwandfrei war und in Mayen gut aufgenommen wurde. Wenn auch in keiner Weise beabsichtigt ist, den Lehrer Kircher aus Hardert in besonderer Weise zu fördern oder hervorzuheben oder ihn ins Rampenlicht zu bringen, so glauben wir doch, bei unseren Vorschlägen keinen Missgriff bei der Rednerauswahl für die Tagung gemacht zu haben (…) und geben unserer Meinung Ausdruck, dass Herr Kircher ein seit drei Jahrzehnten bekannter idealistischer Reformer der Landschule ist, der über den westdeutschen Raum der Bundesrepublik bekannt ist.
Seine erste Stelle hatte Kircher in dem Dorf Hardert im Landkreis Neuwied. Das soziale und schulische Umfeld war ähnlich dem von Isert. Es war ein kleines Dorf mit einer einklassigen Dorfschule – allerdings gab es in Hardert etwas Kurbetrieb und auch die Modernisierung hatte eingesetzt. Kircher setzte auf Kontinuität – Kontinuität zu seinen früheren Schulversuchen in Isert und in Winningen. Er veranstaltete sogleich eine Elternversammlung, auf dem er seine pädagogischen Grundsätze erläuterte, unternahm mit seinen Kindern eine Fahrt nach Köln und Bonn, initiierte Stegreifspiele und Feiern. Ließ Theaterstücke aufführen und begann in der Schule mit Volksbildungsabenden. Bezeichnenderweise erhielt die Schule in Hardert ebenfalls den Namen „Haus in der Sonne“ und es gab auch wieder eine Waldschule, die im Sommer oft wochenlang genutzt wurde. Zudem brachte er auch pädagogische Elemente ein, die er vor allem in Winningen ausgebildet hatte – wie Leistungswettkämpfe, nur mit dem Unterschied, dass sie mehr (wehr-)sportlich ausgerichtet waren.
Eigentlich hatte Kircher – wenn schon Lehrer – einen Anspruch darauf, auch wieder als Hauptlehrer eingesetzt zu werden. Denn zuletzt war er ja Hauptlehrer in Winningen gewesen und er war durch die Entnazifizierung nicht degradiert worden. In Erkenntnis dessen bemühte sich die Schulverwaltung in Koblenz, ihn wieder als Hauptlehrer einzusetzen. Kircher verzichtete aber zunächst darauf und begründete das ausdrücklich mit seiner Vergangenheit in der NS-Zeit und auch mit dem Willen, den Schulversuch in Hardert fortsetzen zu wollen.
Im Jahr 1960 wurde er dann doch wieder Hauptlehrer, und zwar an der dreiklassigen evangelischen Volksschule in Boppard am Rhein. Dort blieb er bis zu seinem 65. Lebensjahr und blieb auch danach noch zwei Jahre im Angestelltenverhältnis im Dienst. Sein Beruf als Lehrer war ihm offenbar eine innere Berufung, die für ihn nicht an eine bestimmte Altersgrenze geknüpft war.
Als Kircher dann im Jahr 1968 starb, hatte er allein nach dem Krieg noch über 300 Veröffentlichungen gemacht. Seine letzten Vorträge bei der Volkshochschule u.a. hatten die Titel: „Die Zukunftsbedeutung der Hoffnung bei Ernst Bloch“ – „Der Mensch zwischen Angst und Hoffnung“ – „Die Bedeutung der Kunst und ob nach einem Wort von Adorno nach Auschwitz Dichtung noch möglich ist“. Sein letzter Vortrag befasste sich mit Teilhard de Chardin.