Gustav Kohlstadt (geb. 1899)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum dritten und letzten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Nach dem Gauleiter und Oberpräsidenten der Rheinprovinz Josef Terboven, den ich vor vier Wochen porträtiert habe, und dem Brauereibesitzer und SS-Obersturmführer Wilhelm Schultheis, mit dem ich mich in meinem Vortrag vor zwei Wochen beschäftigt habe, möchte ich Ihnen heute als dritten NS-Täter aus Koblenz und Umgebung den Amtsgerichtsrat Gustav Kohlstadt vorstellen. Nach einem Gauleiter und „politischen Beamten“ und einem kleinen Wirtschaftsführer und SS-Mann heute nun wieder einmal einen „furchtbaren“ Juristen.
Das Leben dieser „furchtbaren“ Juristen, von denen ich Ihnen schon einige vorgestellt habe, ist ja bis in die ersten Jahre der NS-Zeit ziemlich unspektakulär. Sie sind gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren, stammen aus einem bürgerlichen Elternhaus und erhalten die höhere Schulbildung, studieren in einer nahe gelegenen Universität, durchlaufen in der Zeit der Weimarer Republik die Referendar- und Assessorenzeit und sind dann zurzeit der sog. Machtergreifung Richter oder Staatsanwalt, sind auf Lebenszeit angestellt bzw. stehen kurz vor der Ernennung. In der NS-Zeit bewähren sie sich als „politisch zuverlässig“ und machen dann Karriere. Dabei bedeuten der Zweite Weltkrieg und die Ausweitung der NS-Herrschaft in den besetzten Nachbarländern des Deutschen Reiches und die Festigung dieser Herrschaft auch auf dem Gebiet der Justiz sehr oft ein Sprungbrett zu einer (weiteren) Karriere dieser Juristen. So ähnlich war es auch bei Gustav Kohlstadt.
Geboren wurde Gustav Adolf Kohlstadt am 5. Juni 1899 in dem damals noch selbständigen Pfaffendorf bei Koblenz, heute Koblenz-Pfaffendorf. Dank der nationalsozialistischen Rassenforschung wissen wir heute noch einiges über seine Familie. Denn aus Anlass seiner Verheiratung musste er später den sog. Ariernachweis führen. Mit diesem Nachweis hatte Gustav Kohlstadt keine Probleme. Er stammte aus einer durch und durch evangelischen Familie. Schon seine Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits waren allesamt evangelisch. Während die Großeltern mütterlicherseits aus Annweiler in der Pfalz stammten, waren die Großeltern väterlicherseits in der Rheinprovinz beheimatet. Der Großvater war in Köln geboren, die Großmutter in Barmen, heute Wuppertal-Barmen. Dorthin, nach Wuppertal-Barmen, zog auch Kohlstadts Großvater, dort ließ er sich als Kaufmann nieder. In Wuppertal-Barmen wurde auch Kohlstadts Vater geboren. Er war Fabrikant und Kaufmann. Wohl erst recht spät kam er nach Pfaffendorf. Jedenfalls heiratete er im Jahr 1897 seine Frau Elisabeth, geb. Schwartz, in Koblenz. Bemerkenswert an dieser Hochzeit war u.a., dass der Bräutigam 73 Jahre und die Braut 21 Jahre alt war, der Altersunterschied betrug also 52 Jahre. Bemerkenswert war auch, dass aus dieser Ehe noch der Sohn Gustav Adolf hervorging. Als er 1899 geboren wurde, war der Vater 75 Jahre alt. Schon bald starb der Vater und die junge Mutter heiratete ein zweites Mal.
Der kleine Gustav Adolf besuchte zunächst die Volksschule in Pfaffendorf. Im Jahre 1910 wechselte er nach Koblenz auf das Realgymnasium (heute: Eichendorff-Gymnasium). Mit knapp 18 Jahren, im Jahr 1917, machte er dort das Abitur, das sog. Notabitur. Notabitur deshalb, weil damals noch Krieg war und das deutsche Heer junge Leute als Soldaten brauchte.
Kohlstadt wurde im Oktober 1917 Soldat und später Frontkämpfer. Er wurde durch einen Granatsplitter am linken Handgelenk verwundet und erhielt verschiedene Auszeichnungen: Das Eiserne Kreuz 2. Klasse, das Verwundetenabzeichen in Schwarz und das Frontkämpferehrenkreuz. Bis Mai 1919 blieb Kohlstatt Soldat – möglicherweise war er noch an den Kämpfen im Baltikum Anfang 1919 beteiligt -, danach ging er als Gefreiter ab.
Anschließend studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Rechtswissenschaften. Am 20. Februar 1922 legte Kohlstatt vor dem Oberlandesgericht Köln die erste juristische Staatsprüfung ab. Die Note war nicht so gut. Sie lautete auf „ausreichend“. Das war die Note, mit der die meisten Juristen ihre Examina machten und auch heute noch machen. Bekanntlich sind die guten Noten bei den Juristen dünn gesät. Damals wie heute macht das Gros der Juristen mit der schlechtesten Bestehensnote, mit „ausreichend“, das Examen. So war es auch bei Kohlstadt. 1925 legte er das zweite juristische Staatsexamen ab. Auch hierbei kam er nicht über die Note „ausreichend“ hinaus.
Anschließend war Kohlstadt als Gerichtsassessor an zahlreichen Gerichten des Rheinlandes kommissarisch und unentgeltlich tätig, zuletzt in Bonn. Er war Mitglied des Preußischen Richtervereins. Interessant ist, wie Kohlstadt seine richterliche Tätigkeit und sein Selbstverständnis als Richter später in der Nachkriegszeit selbst beurteilte:
In den nahezu 25 Jahren meiner Tätigkeit in der Justiz, d. h. von Jugend an, habe ich mich nie in der Politik betätigt. Es liegt mir charakterlich nicht und ich verspüre keine Neigung dazu. Schon vor 1933/34 habe ich die NSDAP abgelehnt und, wie überhaupt, so insbesondere nicht die Veranstaltungen dieser Partei besucht. Ich habe immer den Standpunkt vertreten, dass die parteipolitische Bindung nicht zum Richterberuf passt.
Auf die Frage, welche Partei er bei den letzten freien Reichstagswahlen im November 1932 gewählt habe, gab er die Deutsche Demokratische Partei oder die Deutsche Volkspartei an, verneinte aber ausdrücklich, die NSDAP gewählt zu haben.
Von diesen Erklärungen in der Nachkriegszeit, die u.a. auch unter dem Eindruck der Entnazifizierung und der Rechtfertigung des früheren Verhaltens standen, kommen wir jetzt zurück zum authentischern Geschehen Ende der 1920er Jahre. In Kohlstadts dienstlicher Beurteilung, die im Dezember 1929 vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Köln aus Anlass der Ernennung des Gerichtsassessors Kohlstadts zum Amtsgerichtsrat erstellt wurde, heißt es:
Kohlstadt verbindet mit gut durchschnittlicher Befähigung und befriedigenden Kenntnissen einen großen Fleiß, ernstes Streben und praktisches Geschick. Wo er auch verwandt worden ist, bei Gericht und bei der Staatsanwaltschaft, hat er sich in das ihm zugeteilte Arbeitsfeld schnell hineingefunden und in kurzer Zeit durchaus befriedigende Leistungen erzielt. Ich bin überzeugt, dass er jede Amtsgerichtsratsstelle zur vollen Zufriedenheit ausfüllen wird. Die Führung ist ohne Tadel.
Daraufhin wurde Kohlstadt im Jahr 1930 zum Amtsgerichtsrat in Driesen – das war eine Kleinstadt im preußischen Brandenburg an der Netze, das war weit im Osten, heute ist das polnisch. Kohlstadt erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen. Der Landgerichtspräsident in Landsberg an der Warthe urteilte über ihn wie folgt:
Kohlstadt ist von guter Begabung und besitzt gründliche Rechtskenntnisse. Er arbeitet fleißig und prompt und leitet die Verhandlungen mit Würde und Gewandtheit. Seine Entscheidungen zeugen von praktischem Blick und sind gewöhnlich einleuchtend und sorgfältig begründet. (…) Sein freundliches offenes Wesen hat ihn bei der Bevölkerung und der ihm unterstellten Beamtenschaft besonders beliebt gemacht.
Nach dieser „Bewährung“ Kohlstadts im Osten gelang ihm schon wieder die Rückkehr in seine Heimat. Am 15. Juli 1933 – also kurz nach der Machtübernahme der Nazis – war Kohlstatt dienstlich wieder im Westen – und zwar beim größeren Amtsgericht Wuppertal, in der Heimat seiner Väter.
Inzwischen hatte er - der doch angeblich so unpolitisch war und „schon vor 1933/34“ die NSDAP abgelehnt haben will – tatsächlich seine „vornehme“ politische Zurückhaltung aufgegeben, sich mit dem Nazi-Regime gut arrangiert und dort an untergeordneter Stelle seinen Platz gefunden. So war er seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP, Blockleiter in Wuppertal-Barmen, seit Anfang Juni 1933 Mitglied der Standesorganisation der Juristen, des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes, außerdem des Reichsbundes Deutscher Beamten, des Reichsluftschutzbundes, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, der VDA und des Kolonialverbandes.
Kohlstadt selbst schilderte diese Zeit des die Macht im Staat erobernden Nationalsozialismus später wie folgt:
Auch während des Naziregimes habe ich nicht anders gedacht (als dass die parteipolitische Bindung nicht zum Richterberuf passt), deren Theorie und vor allem deren Praxis ich in zunehmendem Maße missbilligt habe. Ich fühlte mich aber als Beamter dem Volksganzen verpflichtet, im Rahmen des Möglichen für Recht und Gerechtigkeit in Ausübung meines Berufs zu sorgen und Härten nach Möglichkeit zu mildern. Offene Widersetzlichkeit hätte mir das unmöglich gemacht. Eintritt in die Partei und gelegentliche aushilfsweise Mitarbeit politischer Art erfolgten gegen meinen freien Willen aufgrund unausweichlichen Druckes. Welcher Druck tatsächlich bestanden hat, führt mit aller Deutlichkeit das „Nürnberger Urteil“ vor Augen. Es heißt dortselbst: „Die gesamte Justiz wurde einer Kontrolle unterworfen. Richter wurden aus politischen und rassischen Gründen aus ihrem Amt entlassen. Sie wurden bespitzelt und stärkstem Druck unterworfen, um sie als Ausweg zur Vermeidung der Entlassung zum Eintritt in die Nazipartei zu pressen.“ Es versteht sich von selbst, dass solche in die Partei gepressten Richter nicht die Nazigesinnung haben konnten und schwerlich später erworben haben. Ich gehöre zu diesen.
In diesem Zusammenhang verstieg sich Kohlstadt später noch zu folgender Bemerkung:
Wenn ich meine ursprüngliche Absicht, bei passender Gelegenheit aus der Partei auszutreten, nicht verwirklichen konnte, so gelang es mir doch, mich vom Eintritt in zahlreiche Nebenorganisationen pp. und überwiegend von der Mitarbeit freizuhalten.
Auf diese Weise versuchte Kohlstadt später in der Entnazifizierung, Distanz zum NS-Regime zu schaffen. Dass es so nicht war, wissen wir heute. Kohlstadt war sehr wohl darauf bedacht, sein berufliches Fortkommen durch Zustimmung zum NS-Regime zu fördern.
Auch familiär ergaben sich für Kohlstadt Veränderungen. Zur gleichen Zeit, im Sommer 1933, heiratete er seine Frau Alice, geb. Preuss. Sie kam – wie man so sagt – aus kleinen Verhältnissen. Ihr Vater war Postschaffner. Die Familie sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits stammte aus der Umgebung von Posen und damit aus der noch bis 1918 preußischen Provinz Posen. Wie sich aus dem Ariernachweis aber ergibt, waren auch die Eltern und Großeltern von Kohlstadts Frau alle „arisch“ und alle evangelisch. Kohlstadt hatte seine spätere Frau offenbar während seiner Tätigkeit als Amtsgerichtsrat in Driesen kennen gelernt. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, zwei Jungs und zwei Mädchen. Das erste Kind kam 1936 zur Welt und das vierte 1944.
Aber auch in anderen Bereichen engagierte sich Kohlstatt stark. Als Hitler unter Verletzung der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages im März 1935 mit dem „Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht“ im Deutschen Reich wieder die allgemeine Wehrpflicht einführte, war Kohlstatt dabei. Als ehemaliger Soldat im Ersten Weltkrieg nahm er wiederholt an Wehrübungen teil. Dabei begann er als Gefreiter der Reserve – also, wie man so sagt als Mannschaftsdienstgrad. Innerhalb von nur zwei Jahren schaffte er es mit Wehrübungen vom Gefreiten des Ersten Weltkrieges über den Unteroffizier der Reserve und den Feldwebel der Reserve bis zum Leutnant der Reserve. Wegen fortgeschrittenen Alters musste er dann allerdings – zu seinem großen Bedauern - aus dem Reserveoffizierkorps ausscheiden.
Während dieser Zeit war Kohlstadt weiter Amtsgerichtsrat beim Amtsgericht in Wuppertal. Er bearbeitete Zivilsachen, später war er auch als Vormundschaftsrichter tätig. Außerdem war er zugleich stellvertretender Vorsitzender beim Arbeitsgericht in Wuppertal-Barmen und auch stellvertretender Vorsitzender beim Anerbengericht in Wuppertal.
Damit man sich auch höheren Orts einen persönlichen Eindruck von Kohlstadt machen konnte, ordnete man ihn Anfang 1938 für einen Monat als Hilfsrichter an das Oberlandesgericht Düsseldorf ab. Einen überragenden Eindruck hat er dabei aber nicht hinterlassen. Zu dieser Abordnungszeit stellte der Landgerichtspräsident in Wuppertal kurz darauf fest:
Kohlstadt war kurze Zeit Hilfsrichter beim Oberlandesgericht, ohne dass dabei überragende Leistungen festgestellt werden konnten. Er dürfte auch zur Verwendung in Verwaltungssachen in Betracht kommen, zumal er zeitweise schon in Driesen Aufsichtsrichtergeschäfte versehen hat. .
Das war also nicht viel. Allgemein war man Kohlstadt wohl gesonnen und hat ihn auch fördern wollen. Aber er hat die Leistungen, die man bei aller nationalsozialistischer Grundhaltung ja nun auch erwartete, nicht erbracht. Der Präsident des Landgerichts ließ aber nicht locker. Immerhin teilte er Anfang 1939 dem Oberlandesgerichtspräsidenten in Düsseldorf mit, dass er beabsichtige, Kohlstadt zur vorzugsweisen Beförderung zum Oberamtsrichter vorzuschlagen. Dabei musste er aber zugleich einschränkend einräumen, dass Kohlstadt für eine Amtsgerichtsdirektorenstelle in einem Bezirk mit ihm fremder Bevölkerung vorerst nicht in Betracht komme.
Tja, das war dann wiederum nicht viel. Selbst der ihn fördernde Präsident des Landgerichts war von Kohlstadt nicht sonderlich überzeugt. So wurde er dann auch nicht Oberamtsrichter.
Unterdessen hatte Hitler seine von Anfang an bestehende Absicht, den sog. Schandfrieden von Versailles rückgängig zu machen und ehemals deutsche Gebiete dem Reich wieder einzuverleiben, in die Tat umzusetzen begonnen. Das begann mit dem unter der Kontrolle und Verwaltung des Völkerbundes stehenden Saargebiets, setzte sich fort mit dem Überfall auf Österreich - die Nazis nannten es „Anschluss“ -, der Zerschlagung der Tschechoslowakei.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 war Hitler entschlossen, die nach dem Ersten Weltkrieg gebildete erste Tschechoslowakische Republik zu „zerschlagen“. Hierzu hatte er Weisungen am 21. April und am 30. Mai 1938 gegeben. Im September 1938 kam es dann zu der „Sudetenkrise“: Hitler veranlasste den Führer der von ihm gesteuerten Sudetendeutschen Partei Konrad Henlein, für die tschechoslowakische Regierung unannehmbare Forderungen zugunsten der Sudetendeutschen zu stellen. Hitler seinerseits verlangte die Abtretung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich. Ende September 1938 kam es dann zu der Münchner Konferenz mit Hitler, dem britischen Premierminister Chamberlain, dem französischen Ministerpräsidenten Daladier und dem italienischen Duce Mussolini. In dem „Münchner Abkommen“ wurde dann die Abtretung des Sudetengebiets an Deutschland ab dem 1. Oktober 1938 beschlossen. Dies sollte – so Hitler – angeblich der letzte territoriale Revisionsanspruch Deutschlands sein.
Anfang Oktober 1938 marschierten deutsche Truppen in die Tschechoslowakei ein und besetzten das Sudetengebiet. Zwei Wochen später gab Hitler den Geheimbefehl, die „Erledigung der Rest-Tschechei“ vorzubereiten. Mitte März 1939 marschierten deutsche Truppen dann in die Tschechoslowakei ein. Die Slowakei erklärte auf deutschen Druck hin ihre Unabhängigkeit von der Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Regierung musste der Schaffung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ zustimmen. Konstantin von Neurath wurde „Reichsprotektor“, ab Ende September 1941 wurde Reinhard Heydrich sein Stellvertreter. In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, dass Ende Mai 1942 der Stellvertretende „Reichsprotektor“ Heydrich in Prag durch ein Attentat zweier tschechischer Fallschirmspringer tödlich verletzt wurde und dann kurz darauf starb. Zwei Wochen später wurde das tschechische Dorf Lidice wegen des Verdachts, einen der Heydrich-Attentäter beherbergt zu haben, von der deutschen Polizei niedergebrannt. Alle 192 Männer sowie sieben Frauen wurden erschossen, die übrigen Frauen wurden ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, die Kinder verschleppt.
Doch jetzt zurück zu den Anfängen des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“. Die deutsche Besatzung schuf – wie gesagt – den „Reichsprotektor“ und seinen Stab und besetzte alle Schlüsselpositionen mit hochrangigen Nationalsozialisten. Diese kontrollierten über die Landräte die tschechischen Provinzialbehörden. Der tschechische Präsident und eine „autonome“ tschechische Regierung blieben nominell im Amt. Sie hatten aber nicht mehr das Sagen. Ihre Aktivitäten waren den politischen, ökonomischen und militärischen Interessen des Deutschen Reiches vollständig untergeordnet. Zu dieser Okkupation gehörte auch die Etablierung einer deutschen Justiz, vor allem das Sondergericht in Prag.
Für den Aufbau der deutschen Justiz in Böhmen und Mähren zog man auch Kohlstadt in Betracht. Die Idealbesetzung war er aber wohl nicht. Immerhin hatte ihm der Präsident des Landgerichts noch Anfang 1939 – trotz seiner wohlwollenden Förderung – bescheinigt, dass er in einem Bezirk mit ihm fremder Bevölkerung vorerst nicht in Betracht komme. Er sollte also besser in dem ihm vertrauten Rheinland, in Wuppertal und Umgebung eingesetzt werden. Das passte nun zur „Tschechei“ überhaupt nicht.
Trotzdem kam es so. Mit Verfügung vom 24. November 1939 – inzwischen hatte Hitler mit dem Überfall auch auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselt – wurde Kohlstadt mit Wirkung vom 4. Dezember 1939 vom Amtsgericht Wuppertal an das Amtsgericht und die landgerichtliche Zweigstelle in Böhmisch Budweis abgeordnet.
Man fragt sich natürlich, warum man gerade auf Kohlstadt verfallen ist, der doch eigentlich für „Höheres“ doch eigentlich nicht geeignet war und wenn überhaupt eigentlich viel besser im Rheinland aufgehoben gewesen wäre. Was genau die Beweggründe waren, kann ich Ihnen nicht sagen. Sagen kann ich Ihnen aber, wie das Justizpersonal in dem von Deutschland besetzten Westpolen rekrutiert wurde. Das dürfte in Böhmen und Mähren ähnlich gelaufen sein. Die Rekrutierungsaktion kann man charakterisieren als „Bewährung im Osten bei schlechten Examensnoten“. Einsatz und Bewährung in den besetzten Gebieten waren wichtige Voraussetzungen für eine Karriere. Der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Roland Freisler forderte in einem „Wort an die deutsche Rechtswahrerjugend“: „Alle, die im Osten sich bewährt haben, werden dem Antlitz der Rechtspflege im Gesamtreich ihre Züge aufprägen. Jeder, der das zeug zum Höheren in sich spürt, soll daher diese hohe Schule verantwortungsvoller Aufbauarbeit durchmachen.“ Der Richter sollte „in Reih’ und Glied des politischen Kampfes“ mitmarschieren und sich als „des Führers politischer Soldat auf dem Gebiet des Rechts“ bewähren. Die Richter sollten also nicht bzw. nicht vor allem Recht sprechen, sondern nach dem Willen der politischen Führung in den eroberten Gebieten die Naziherrschaft etablieren und festigen und den „politischen Volkstumskampf“ mit den Mitteln des „Rechts“ führen helfen. Hierzu suchte man in erster Linie junge Juristen, die „wenigstens“ die zweite Staatsprüfung mit „gut“ bestanden hatten, oder auch solche, die „bei sonst voll ausreichenden Leistungen und Prüfungsergebnissen schon vor der Machtergreifung offen für die nationalsozialistische Bewegung eingetreten sind“.
Diesem „Idealbild“ entsprach Kohlstadt nun allerdings gar nicht. Er war Ende der 1930er Jahre weder jung, noch hatte er wenigstens das zweite Staatsexamen mit der Note „gut“ abgelegt noch war er „alter Kämpfer“ – sondern erst nach der Machtübernahme der Nazis NSDAP-Mitglied geworden. – Aber man hatte wohl keinen anderen – schließlich wurden für das sog. Aufbauwerk im Osten ja auch viele gebraucht – und so nahm man auch Kohlstadt.
Nach dem Krieg stellte Kohlstadt diese Abordnung übrigens so dar, als sei sie ihm aufgezwungen worden. Er erklärte dazu:
Gegen meine im Dezember 1939 erfolgte Abordnung nach Budweis konnte ich keinen Einspruch erheben, da die Unversetzbarkeit des Richters durch Gesetz beseitigt war. Mehrfache Aufforderungen der Justizbehörde, mich freiwillig unter Beförderung in eine gehobene Richterstelle in das damalige Protektorat versetzen zu lassen, lehnte ich ab, denn ich fühlte mich in der dortigen Berufsausübung und im Lande nicht wohl. Mir sagte weder die Behandlung der Tschechen und der Juden, noch der von oben auf die Berufstätigkeit ausgeübte Zwang zu.
Nun, so weit Kohlstadts Verharmlosung nach dem Zweiten Weltkrieg zu seiner Tätigkeit in Budweis – am dortigen Amtsgericht und an der dortigen landgerichtlichen Zweigstelle.
Manches konnte Kohlstadt nach dem Krieg aber dann doch nicht ganz klein reden – wie etwa den Umstand, dass er trotz seiner Stellung als Leutnant der Reserve nicht zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurde wie auch den Umstand, dass er in der Kreisleitung in Budweis Hauptstellenleiter des Personalamtes und des Schulungsamtes war – das hatte er nämlich nach Wuppertal selbst gemeldet. Er gab sich aber alle Mühe, dies so darzustellen, als sei er unter Druck gesetzt worden oder habe formal Bescheid getan, um in Ruhe gelassen zu werden. Bei Kohlstadt klang das so:
Besonders im Laufe der Kriegszeit war infolge von immer stärker werdendem Personalmangel der Druck von Partei und Dienstbehörde, ganz besonders in Südböhmen, immer stärker geworden. Jeder Beamte wurde gezwungen, eine Parteitätigkeit zu übernehmen, was durch ständige Nachfrage der Dienstbehörde kontrolliert wurde. Etwa im Jahre 1942 war in Budweis die ortsansässige, vor allem haupt-amtliche Besetzung der Kreisleitung einschließlich Kreisleiter abberufen und durch Personen aus Oberdonau ersetzt worden. Sie suchten neue Arbeitskräfte unter dem dünnen Bestand von vorhandener arbeitsfähigen Deutschen, vor allem sog. Reichsdeutschen. So wurde mir etwa Mitte 1942 aufgetragen, eine Personalkarte des Personalamtes umzuschreiben. Ich konnte mich aber wiederum von dieser Arbeit freimachen, zumal ich nicht Schreibmaschine schrieb. Während dieser Zeit, fast ein halbes Jahr, habe ich nicht einen einzigen Federstrich getan. Daher wurde ich im Oktober 1942 der Schulungsabteilung abgegeben. Gerade in jenen Tagen kam dann wieder einmal eine der häufigen Fragen aus Prag und Wuppertal nach meiner Betätigung in der Partei. Obwohl ich weder in der einen noch in der anderen Abteilung eine Tätigkeit entfaltet hatte, ich aber an die Dienstbehörde berichten musste, gab mir der Amtsleiter nach langen Überlegungen Antwort mit folgenden Worten: „Dann geben Sie halt an Hauptstellenleiter“, obwohl dies nicht der tatsächlichen Sachlage entsprach. Hierüber war ich sehr erstaunt, brachte es auch zum Ausdruck, nahm aber die Möglichkeit, in dieser Form zu berichten, gern hin, um vor weiteren lästigen Anfragen dieser Art Ruhe zu haben und nahm daher auch die sachliche Unrichtigkeit mit in Kauf.
Diese Darstellung kann nicht richtig gewesen sein. Denn demgegenüber hieß es in einer Stellungnahme des ihn nach Budweis entsendenden Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 12. Juli 1941 wie folgt:
Dort (also in Budweis) hat er nach dem Urteil des OLG-Präsidenten in Prag für die besonderen Aufgaben des Richters im Protektorat großes Verständnis gezeigt und auch in Vorträgen und Besprechungen dazu beigetragen, die bodenständigen deutschen Richter in Budweis und Strakonitz mit dem deutschen Strafrecht näher vertraut zu machen. Ferner hat er dort für die Bearbeitung von Justizverwaltungsgeschäften als ständiger Vertreter des Aufsichtsrichters Neigung und Veranlagung gezeigt. Der OLG-Präsident in Prag hat seine Gesamtleistungen mit gut bewertet und hält ihn für die Stelle eines Amtsgerichtsdirektors für gut geeignet.
Dieser positive Eindruck verfestigte sich dann noch in der Folgezeit. So hieß es in der dienstlichen Beurteilung des Präsidenten des Landgerichts in Prag von November 1942 wie folgt:
Amtsgerichtsrat Kohlstadt (…) ist ein über dem Durchschnitt befähigter Richter. (…) Seine Entscheidungen sind sorgfältig begründet und lassen erkennen, dass er ein gesundes Urteilsvermögen besitzt. Die Verhandlungen leitet er mit Würde und Gewandtheit. Für die besonderen Aufgaben des Richters im Protektorat hat er großes Verständnis. (…) Die Gesamtleistung bewerte ich mit „gut“. Der Gesundheitszustand ist gut. Die Führung ist tadellos. Amtsgerichtsrat Kohlstatt hat einen gefestigten Charakter, eine ehrliche, anständige Gesinnung und ein freundliches, offenes Wesen. Er ist kameradschaftlich und einsatzbereit. (…) Kohlstadt ist überzeugter Nationalsozialist und setzt sich rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat ein.
Der Landgerichtspräsident war von Kohlstadt so angetan, dass er abschließend feststellte:
Er verdient eine bevorzugte Beförderung.
Dieser für Kohlstadt sehr günstigen Beurteilung trat der der Präsidenten des Deutschen Oberlandesgerichts in Prag bei. Er ergänzte die Beurteilung dann noch wie folgt:
Auch ich bin der Auffassung, dass der Richter aufgrund seiner Leistungen und seiner Gesamtpersönlichkeit eine Förderung verdient.
Damit empfahl sich Kohlstadt offensichtlich für Höheres: Allerdings wurde daraus nun keine Beförderung, aber immerhin ein neues Aufgabengebiet. Und zwar als Beisitzer beim Sondergericht in Prag. Nach dem Krieg und im Entnazifizierungs-verfahren sah das Kohlstadt allerdings ganz anders. Seine Abordnung dorthin hatte er angeblich sogar verhindern wollen, weil er – wie er später sagte - stärksten Widerwillen verspürt hatte.
Einer Abordnung an das Landgericht in Prag konnte ich mich längere Zeit mit Erfolg widersetzen. Schließlich konnte ich nicht verhindern, dass ich dorthin aushilfsweise als Beisitzer zum 1. Juli 1943 zum Sondergericht – neben der Strafkammer – kommandiert wurde. Obwohl ich gegen diese Tätigkeit stärksten Widerwillen hatte und bis zum Äußersten zu verhindern suchte, musste mein Widerstand an dem kategorischen Abordnungsbefehl brechen.
Soweit Kohlstadts Version nach dem Krieg. Objektive Informationen zu seiner Tätigkeit beim Sondergericht in Prag gab es zunächst nicht. Man war auf das angewiesen, was Kohlstadt nach dem Krieg zu seiner Tätigkeit verlautbarte. Das hörte sich dann so an:
Ich konnte nur versuchen, aushilfsweise Kammern mit weniger bedeutungsvollen Strafen als Beisitzer zugeteilt zu werden. In dieser Zwangslage machte ich dank meiner gemäßigten Einstellung meinen Einfluss oft mit Erfolg dahin geltend, dass allzu strenge Strafen verhindert wurden. Das ist wie ich mit Bestimmtheit annehmen kann, vielen Strafverteidigern nicht verborgen geblieben.
Die Abordnung an das Landgericht Prag sollte, wie mir versprochen wurde, als Aushilfe nur einige Monate dauern. Ich wurde in der Folge aber immer wieder auf einige weitere Monate der aushilfsweisen Tätigkeit vertröstet. Nach Wuppertal konnte ich wegen der zunehmenden Kriegszerstörungen, denen im Mai 1943 auch das von mir bewohnt gewesene Haus zum Opfer gefallen war, nicht zurückkehren. Die Rückkehr von Prag an das Amtsgericht in Budweis konnte ich erst im März erzielen.
Meine gemäßigte Haltung im damaligen Protektorat mag Grund dafür sein, dass ich weder eine Beförderung im Justizdienst auf deutschem Gebiet erreichte noch eine Kriegsdienstauszeichnung, wie sonst erhielt.
1943 trat Kohlstadt aus der evangelischen Kirche aus. Das hatte – wie Kohlstadt später behauptete - nicht etwa was mit der Sympathie zur NSDAP zu tun. Der Grund dafür lag vielmehr darin, dass er in Budweis keinen inneren und seelischen Rück-halt in der evangelischen Kirche fand. – Das hat Kohlstadt übrigens schon bald bedauert und beschlossen, der Kirche wieder beizutreten. Wegen der – wie er später sagte - zugespitzten Kriegslage und seiner häufigen Abwesenheit von Budweis konnte er diesen Entschluss zunächst nicht realisieren. Erst nach dem Krieg trat er wieder in die evangelische Kirche ein.
Im Sommer 1945 kehrte Kohlstadt mit seiner Frau und den vier Kindern dann nach Wuppertal zurück. Wie selbstverständlich bezog er – ohne irgendjemanden zu fragen – mehrere Zimmer im Gebäude des Amtsgerichts in Wuppertal-Barmen – dabei wird er sich auch nicht die schlechtesten ausgesucht haben. Der Landgerichtspräsident wies ihn wiederholt auf das Ungesetzliche seines Handelns hin. Kohlstadt ließ sich aber davon nicht abbringen. Noch ein Jahr später beklagte sich der Präsident des Landgerichts bei dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf darüber, dass Kohlstadt nicht nur die dringend benötigten Diensträume in Anspruch nehme, sondern auch noch Strom für Heiz- und Kochzwecke, ohne diesen zu bezahlen.
Diese „wilde Mietstreitigkeit“ zwischen dem Amtsgerichtsrat Kohlstadt und seinem Dienstherrn fand ein Ende, als der Präsident des Oberlandesgerichts ihm eine Räumungsfrist setzte, ihm eine bescheidenere Unterkunft gegen Zahlung einer angemessenen Nutzungsentschädigung in Aussicht stellte und Kohlstadt dieses Angebot annahm. Kohlstadt verließ die von ihm okkupierten Räume im Amtsgerichtsgebäude in Wuppertal-Barmen und bewohnte dann andere Räume – ebenfalls im Amtsgerichtsgebäude.
Ein solches „Nachgeben“ Kohlstadts war umso mehr angezeigt, als die Rechtsabteilung der britischen Militärregierung ihm die Zulassung als Amtsgerichtsrat verweigerte. Begründet wurde dies mit seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und in zahlreichen Nebenorganisationen sowie seiner Funktion als Hauptstellenleiter im Personalamt und im Schulungsamt. Kohlstadt war dann zunächst im Zentralheizungsfach tätig – als Monteurhelfer - und später als Nachtwächter in einer Margarinefabrik.
Die Entnazifizierung überstand er in der britischen Zone sehr glimpflich. Zunächst wurde er mit Einreihungsbescheid der britischen Militärregierung vom 18. Dezember 1947 noch in die Kategorie III (Minderbelastete) eingereiht, zugleich aus der Stellung eines Amtsgerichtsrats entfernt und die Pension als verwirkt angesehen. Dann reihte ihn der Bescheid des Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung vom 24. April 1948 in die Kategorie IV b (Mitläufer) ein – und damit ohne diese Beschränkungen.
Drei Wochen später war Kohlstadt wieder Richter beim Amtsgericht in Wuppertal und bat um eine Abschlagszahlung auf sein Gehalt. Ein Jahr später wies ihn der Justizminister von Nordrhein-Westfalen in seine frühere Planstelle beim Amtsgericht in Wuppertal ein.
In eben dieser Zeit – im Mai 1949 – bat Kohlstadt im Wege des Richteraustausches um eine Einstellung im Dienst des Landes Rheinland-Pfalz beim Amtsgericht oder Landgericht Koblenz oder beim damaligen Amtsgericht Ehrenbreitstein. Das Gesuch begründete er damit, dass seine betagte und in Bonn wohnende Mutter kränkele und der Pflege bedürfe. Diese Pflege könne er mit seiner Familie gewährleisten, wenn die Mutter in ihr Haus in Pfaffendorf Im Mühlengraben 1 zöge und er und seine Familie ebenfalls dort wohnten. Er sei mit seiner Familie ohnehin noch beengt in einem Amtsgerichtsgebäude untergebracht. Das Haus in Pfaffendorf sei zwar zurzeit von zwei Familien mit insgesamt neun Personen bewohnt, der Oberbürgermeister von Koblenz habe ihm aber zugesichert, mit seiner Mutter in dieses Haus einziehen zu können.
Im Mai 1950 wurde Kohlstadt zum Hilfsrichter beim Amtsgericht in Koblenz bestellt. Dort bearbeitete er Register- und Hausrats-, Sorgerechts- und Wiedergutmachungssachen. Knapp zwei Jahre später bescheinigte man ihm, ein befähigter, verantwortungsbewusster Richter mit guten Umgangsformen zu sein. Das Gesamturteil lautete auf „vollbefriedigend“.
Im Laufe der Zeit musste man aber feststellen, dass die Leistungen Kohlstadts dann doch nicht so gut waren. Wurde er als Richter im Protektorat Böhmen und Mähren noch mit „gut“ beurteilt und zur Beförderung zum Amtsgerichtsdirektor vorgeschlagen und im Mai 1950 noch mit „vollbefriedigend“ bewertet, so lautete im Jahr 1954 das Gesamturteil nur auf „ausreichend“. Schon bald nach der letzten Beurteilung stellte man fest, dass sein Dezernat erhebliche Rückstände aufwies. Am schlimmsten war das in den Wiedergutmachungssachen, diese verzögerte Kohlstadt ganz außergewöhnlich. Daraufhin gab man ihm ein anderes Dezernat, bestehend aus Einzelrichterstrafsachen und Wirtschaftsstrafsachen. Aber auch da – obwohl das ja nun „seine“ Materie war - arbeitete er nicht beanstandungsfrei. Vor allem rügte man die Art und Weise seiner Verhandlungsführung. Der OLG-Präsident äußerte sich zu dieser Bewertung dahin, dass er „der vorstehenden Beurteilung leider nur beitreten (kann)“.
Dann geriet Kohlstadt in die „Blutrichter-Kampagne“. Um was ging es da?
Wie wir wissen, wurden viele Juristen, die in der NS-Zeit tätig waren, in der westdeutschen Justiz wieder beschäftigt. Diese Wiederverwendung der NS-Juristen war natürlich auch dem zweiten Staat auf deutschem Boden, der DDR, nicht verborgen geblieben. Dessen Propagandisten wussten um die Schwachstelle des leichten Wiederaufstiegs alter NS-Funktionseliten in der Bundesrepublik. Sie ließen daher Mitte der 1950er Jahre sämtliche Unterlagen des Reichsjustizministeriums, des Leipziger Reichsgerichts, die Bestände des Volksgerichtshofs sowie die Akten sämtlicher ehemaliger Sondergerichte auf ostdeutschem Gebiet auf Personenidentität mit westdeutschen Juristen durchforsten.
Das Ergebnis war mehr als beachtlich: Der sog. Ausschuss für Deutsche Einheit“ (ADE) behauptete, im Besitz von mehreren hundert Original-Prozessakten und Personalakten aus der NS-Zeit zu sein, die derzeit amtierende Richter und Staatsanwälte der Bundesrepublik beträfen. Zwischen 1957 und 1959 veröffentlichte er in seiner sog. Blutrichterkampagne in regelmäßigen Abständen insgesamt sechs Broschüren, in denen das gefundene Material medienwirksam aufgearbeitet wurde. Im Einzelnen waren das: die im Mai 1957 herausgegebene Dokumentation: „Gestern Hitlers Blutrichter – heute Bonner Justizelite“, im Juni 1957: „Das Terrorgesicht des Bonner Unrechtsstaats“, im Oktober 1957: „Hitlers Sonderrichter – Stützen der Adenauer-Regierung“, im Oktober 1958: „600 Nazi-Juristen im Dienste Adenauers“, im Februar 1959: „Wir klagen an – 800 Nazi-Blutrichter, Stützen des Adenauer-Regimes“ und schließlich im November 1959: „Freiheit und Demokratie im Würgegriff von 1.000 Blutrichtern“. Die Dokumentationen umfassten Listen mit über 1.000 Richtern und Staatsanwälten, die damals in politischen Strafsachen wie etwa Hochverrat oder Rassenschande tätig gewesen waren. Die Veröffentlichungen nannten ihre Namen und bezeichneten ihre damaligen Tätigkeiten bei den ordentlichen Gerichten, Sondergerichten, Kriegsgerichten oder am Volksgerichtshof und erwähnten dann auch ihre derzeitige Tätigkeit im Justizwesen der Bundesrepublik Deutschland.
Als einer dieser von der DDR so bezeichneten Blutrichter wurde der beim Amtsgericht in Koblenz tätige Amtsgerichtsrat Gustav Kohlstadt genannt. Die Broschüre „600 Nazi-Juristen im Dienste Adenauers“ erwähnte fünf Strafverfahren, die unter Mitwirkung Kohlstadts beim Sondergericht Prag für die Angeklagten einen tödlichen Ausgang hatten. Das waren:
1. Fall Thein ----- Aktenzeichen: 7 KLs 231/43. -----
Am 22. Juli 1943 verurteilte Kohlstadt den Juden Franz Thein aus Prag XII, geboren am 15. November 1907, Wegen fälschlicher Anfertigung einer Bürgerlegitimation“ und den Tschechen Josef Maly aus Malischitz, geboren am 13. Februar 1904, „weil er einen anderen angestiftet hat, dem Juden Thein Ausweispapiere zum unbefugten Gebrauch auszuhändigen“, zum Tode. Thein, der sich dadurch vor der Vernichtung in einem KZ retten wollte. Hätte „eine ehrlose und gemeine Gesinnung gezeigt“, weil er versucht habe, „sich der ihm drohenden Evakuierung zu entziehen“.
2. Fall Rauer Aktenzeichen: 2 KLs 284/43 – 4 – 2267/43 -. ----
Am 14. Dezember 1943 verurteilte er (…) Karl Rauer aus Prag, geboren am 10. März 1923, wegen „Diebstahls von Kleinvieh“ zum Tode.
3. Fall Kafka -----Aktenzeichen: 4 KLs 365/43 – IV 2318 -.
Am 3. Februar 1944 verurteilte er (…) den Tschechen Anton Kafka, geboren am 27. März 1915 in Holy, wegen Schwarzhandels mit Tabak und Zigaretten zum Tode. (Wörtlich heißt es in dem Urteil:) „Allerdings hat sich nichts ergeben, aus dem geschlossen werden könnte, dass der Angeklagte schon durch sein Vorleben in irgendeiner Weise als typischer Gewaltverbrecher gekennzeichnet ist (…) Sie bleibt aber eine Gewalttat im Sinne der Gewaltverbrecherverordnung.“
4. Fall Broz ----- Aktenzeichen: 224/44 – IV – 2178/44 -.
Kohlstadt verurteilte am 14. Dezember 1944 (…) den tschechischen Arbeiter Ferdinand Broz nach der berüchtigten „Volksschädlingsverordnung“ zum Tode.
5. Fall Vonasek Aktenzeichen: 5 KLs 43/45 – IV – 314/45 -. ---
Am 8. März 1945 verurteilte Kohlstadt (…) Karl Vonasek aus Tereschau, geboren am 24. Dezember 1898, wegen Nichtablieferung von Getreide zum Tode.
Die von der DDR aufgedeckte personelle Kontinuität der NS-Justizjuristen, die ohne die Blutrichterkampagne der DDR höchstwahrscheinlich einem darüber hinausgehenden Kreis völlig unentdeckt geblieben wäre, war verheerend. Das Thema war wiederholt Gegenstand von Anfragen im britischen Unterhaus und auch von Debatten in westdeutschen Länderparlamenten. Der Druck auf die Verantwortlichen nahm zu, der Ansehensverlust der westdeutschen Justiz und der Bundesrepublik Deutschland überhaupt war beträchtlich. Der Deutsche Richterbund stellte sich schützend vor seine Mitglieder und wertete die Veröffentlichungen aus dem Osten als diffamierend. Die Begründung lautete u.a. dahingehend, die Dokumente seien gefälscht.
Als Kohlstadt Ende 1958 vom OLG-Präsidenten zu einem Bericht über die Vorwürfe aufgefordert wurde, meinte er die Angelegenheit noch mit einer Handbewegung abtun zu können. Er schrieb dazu:
Was die in obigem Berichtsauftrag angeführten Fälle anlangt, so kann ich im Einzelnen mangels genauerer Angaben und mit Rücksicht auf die inzwischen vergangenen langen Zeiten keine Angaben machen, sei es, ob solche Urteile ergangen sind, ob und in welcher Form ich dabei mitgewirkt habe (Berichterstatter, Abstimmung), sei es, ob das Urteil den damaligen Gesetzen und der damaligen Rechtslage entsprach.
Damit hatte es sich Kohlstadt aber wohl zu leicht gemacht. Das fiel auch dem OLG-Präsidenten auf. Er forderte ihn deshalb auf, eingehender Stellung nehmen.
Auf einmal konnte sich Kohlstadt in einer 4 1/2-seitigen Ergänzung etwas besser erinnern – allerdings nur an ihn Entlastendes. In seiner Stellungnahme vom 31. Januar 1959 hieß es u.a.:
Die fünf angeführten Urteilsfälle enthalten nur kurze summarische Angaben. Sie stammen aus einer Druckschrift eines sowjetzonalen Ausschusses. Sie verfolgt politische Ziele, die reichlich bekannt sind. Ganz gleich, ob solche Urteile ergangen sind, ist diesen Anführungen mit Vorsicht zu begegnen, weil Irreführungen befürchtet werden können. Es ist möglich, dass Unrichtiges als wahr oder Unrichtiges mit Richtigem vermengt versteckt gebracht wird, um Verwirrung zu stiften. Fotokopien, beglaubigte Abschriften und dergleichen schützen nicht davor. Die Kürze der Anführungen soll offenbar schlaglichtartig zeigen, dass Bagatellen benutzt worden seien, um schwerste Strafen zu verhängen, dass die Innehaltung rechtsstaatlicher Grundsätze bei Prozessführung und Rechtsfindung gefehlt habe. Die Einrichtung der Sondergerichte, ihre Zuständigkeit, die Prozessordnung, die Straftatbestände, die Strafen waren gesetzlich geregelt. Ich habe keinen Fall kennen gelernt, bei welchem die Gerichte dagegen verstoßen hätten. Die Gerichtsbehörden in Prag waren ständig bemüht, parteilichen Einflussnahmen zu begegnen. (…)
Das schließt natürlich nicht aus, dass es die Fälle (…) gegeben hat und dass (die Angeklagten) zu den angeführten Strafen verurteilt worden sind, auch dass die angeführten Richter und Staatsanwälte an den Verfahren teilgenommen haben. Aber die wesentliche Frage scheint mir doch die zu sein, ob die Urteile gesetzmäßig ergangen sind und daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.
Dann kam Kohlstadt wiederum auf seine Erinnerungslücken zu sprechen. Als „alter“ Amtsrichter wusste er natürlich, wie problematisch das mit der Erinnerung ist und drückte das in seinem Fall so aus:
Natürlich gibt es eine Anzahl Dinge, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert. Das sind aber im Grunde nicht sehr viele und das ist bei den einzelnen Menschen sehr verschieden. Oft sind die Erinnerungen lückenhaft, sehr oft sogar falsch, weil sich vielerlei Erinnerungsbilder mischen, besonders bei gleichförmigen Geschehensabläufen. Daher sind nach alter Erfahrung der Gerichtspersonen die Zeugen eins der schlechtesten Beweismittel, vor allem bei länger zurückliegenden Vorgängen oder stark gefühlsbetonten Personen. Welche Eindrücke gesichert haften bleiben, hängt von vielerlei Umständen ab und ist oft ein Spiel des Zufalls.
Nach diesen allgemeinen forensischen Erkenntnissen eines erfahrenen Amtsrichters zum Beweiswert von Zeugenaussagen kam Kohlstadt dann noch auf die Verhältnisse in Prag zu sprechen – an die konnte er sich noch ganz gut erinnern:
Die an sich schon unerfreuliche Tätigkeit beim Landgericht in Prag war erschwert durch übermäßig großen Arbeitsanfall, durch schlechte Ernährung, durch die Schwierigkeiten des Lebens in einer fremden Stadt, auf die immer schlimmer werdenden Kriegsverhältnisse, die Bombenangriffe auf die Städte und Landstraßen usw. Die riesigen Luftflotten der Amerikaner kamen häufig über Böhmen eingeflogen, auch die, die Dresden zerstört und eine außerordentlich große Zahl von Menschen zu Tode gebracht haben, darunter viele Frauen und Kinder. Was ja allgemein bekannt ist.
Auch an seine Menschlichkeit konnte sich Kohlstadt noch ganz gut erinnern. Er schrieb dazu:
Meine persönliche Einstellung zu den übersteigerten Strafen der damaligen Kriegszeit war eine grundsätzlich ablehnende und ich habe dies auch nach Kräften zum Ausdruck gebracht, oft ohne Erfolg, aber auch oft mit Erfolg. (…) Ich hatte es mir damals trotz entgegen-stehender Strömungen zur Pflicht gemacht, Tschechen, Juden, Polen Deutsche gleichmäßig menschlich zu behandeln. (…) Ich habe immer mehr Neigung zum Ausgleichen gehabt (…). Ein in Berlin wohnhafter Schwager – Ehemann einer Schwester meiner Ehefrau – ist Halbjude, und mein Stiefvater war in Bonn seit dem I. Weltkriege Mitglied der dortigen Freimaurerloge „Zu den drei Weltkugeln“ in höheren Graden. In jüngeren Jahren habe ich dort als Gast oft verkehrt. Meine jetzt 82 Jahre alte Mutter ist auch heute noch dort häufig zu Gast. Eine judenfeindliche Einstellung habe ich weder früher gehabt noch heute. Was den Fall Thein anlangt (sofern ich daran teilgenommen habe), so hatte ich damals meine Tätigkeit in Prag erst aufgenommen und war auch mit der dortigen Praxis nicht vertraut.
Die Sache „Kohlstadt“ nahm dann keinen rechten Vorgang. Die rheinland-pfälzische Justizverwaltung hatte auch keinen Impetus, den Vorwürfen engagiert und offensiv nachzugehen. Aber Ruhe bekamen sie und Kohlstadt doch nicht.
Eine wichtige Rolle spielte dabei der Verband der antifaschistischen Widerstandskämpfer der Tschechoslowakischen Republik. In seiner 1960 in Prag herausgegebenen Dokumentation „Verbrecher in Richterroben“ berichtete er über die Tätigkeit von 230 NS-Richtern und –Staatsanwälten auf dem okkupierten Gebiet der Tschechoslowakei, die wieder in der Justiz in der Bundesrepublik tätig seien. Dabei wurde auch speziell Kohlstadt mit einer Kurzbiografie sowie mit dem Hinweis erwähnt, ein Mitarbeiter der Gestapo habe Kohlstadt als Mitarbeiter der Gestapo bezeichnet. In der Dokumentation wurde Kohlstadt der Mitwirkung an – über die fünf Verfahren hinausgehenden – weiteren insgesamt vier Verfahren des Sondergerichts Prags, die zu Todesurteilen führten, bezichtigt. Das waren die Verfahren:
6. Fall Kefurt
Die Eheleute Kefurt und deren Schwester bzw. Schwägerin wurden am 30. September 1943 wegen Beistandsleistung an eine von der Gestapo verfolgte Person zum Tode verurteilt.
7. Fall Skarda
Mit Urteil vom 25. September 1943 wurde der minderjährige Lehrling Edmund Skarda wegen geringen Fahrraddiebstahls und Einbrüchen in eine Schwimmschule zum Tode verurteilt.
8. Fall Kamenicka
Die 1905 geborene Marie Kamenicka wurde am 2. Dezember 1943 wegen Beherbergung und Unterstützung eines illegalen Widerstandskämpfers zum Tode verurteilt.
9. Fall Mitvalski
Der 1913 geborene Jaroslaw Mitlavsky wurde am 10. Oktober 1944 wegen Schwarzschlachtungen zum Tode verurteilt.
Der Verband der antifaschistischen Widerstandskämpfer machte hierzu Eingaben beim rheinland-pfälzischen Justizministerium. Überdies stellten mehrere Privatpersonen Strafanzeige gegen Kohlstadt.
Dabei wurden noch zwei weitere Strafverfahren aktenkundig. Das war
10. Fall Sulc
Die Tschechen Bohuslav Sulc und Franz Mojak wurden mit Urteil des Sondergerichts Prag wegen Lederdiebstählen, die sie unter Ausnutzung der Verdunklung begangen hatten, zum Tode bestraft.
Ein 11. Fall „Vladimir Klumpar“ betraf dann allerdings kein Todesurteil.
Angesichts dieser Vorwürfe und der vorgelegten Dokumente blieb der Staatsanwaltschaft Koblenz nichts anderes übrig, als Ermittlungen gegen Kohlstadt aufzunehmen. Sie vernahm ihn auch als Beschuldigten.
Von zehn dieser Fälle – mit Ausnahme des Falles Broz – lagen der Staatsanwaltschaft Koblenz inzwischen die Fotokopien der Urteile vor. Diese zehn Fälle legte sie daraufhin ihren Ermittlungen zugrunde. Sie ging nach einer Prüfung der vorgelegten Fotokopien von der Echtheit der ihnen zugrunde liegenden Originale und deren Übereinstimmung mit den Originalen aus.
In sieben Fällen („rechtmäßige“ Urteile)
1. Fall Kefurt
2. Fall Kamenicky
3. Fall Bartoß – Rauer
4. Fall Klumpar
5. Fall Mitvalsky
6. Fall Sulc
7. Fall Vonasek
der insgesamt zehn Fälle ging die Staatsanwaltschaft Koblenz davon aus, dass die Entscheidungen auf der Grundlage der damaligen Rechtslage „rechtmäßig“ waren – getreu dem geflügelten Wort des damaligen Militär ,,, und baden-württembergischen Ministerpräsidenten Karl Filbinger: „Was damals Recht war, kann nicht heute Unrecht sein.“
In drei Fällen („unrechtmäßige“ Urteile)
1. Fall Thein
2. Fall Skarda
3. Fall Kafka
der insgesamt zehn Fälle ging selbst die Staatsanwaltschaft davon, dass diese auf der Grundlage des NS-„Rechts“ falsch entschieden worden waren.
Wir können hier nicht die Rechtsprechung des Sondergerichts Prag in seiner Gesamtheit und auch nicht wenigstens die zehn Fälle im Einzelnen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf ihre damalige Übereinstimmung mit dem NS-„Rechts“ untersuchen und dann anschließend die Vereinbarkeit dieser Entscheidungen mit den Grundsätzen der Menschlichkeit sowie dann noch die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines beteiligten Beisitzers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Das würde den Rahmen dieses Vortrags bei weitem sprengen.
Aber immerhin möchte ich hier exemplarisch auf einen einzigen Fall – und sicherlich auch den allerschlimmsten – etwas näher zu sprechen kommen – auf den Fall Thein. Er wurde auch von der Staatsanwaltschaft Koblenz als der gravierendste angesehen. Dabei möchte ich mich auf den Angeklagten Thein beschränken und nicht auch noch auf seinen Helfer Maly, der ebenfalls zum Tode verurteilt wurde eingehen.
Zu Thein stellte die Staatsanwaltschaft Koblenz u.a. fest:
Es war nicht mehr geschehen, als dass ein Jude sein ihm durch die NS-Führung zugedachtes Schicksal der Evakuierung und anschließenden Tötung dadurch hatte abwenden wollen, dass er sich falsche Papiere besorgte bzw. einen Ausweis fälschte, um damit die Grenze nach Ungarn überschreiten zu können. Selbst wenn das Gericht ernsthaft der Meinung gewesen war, bei der Evakuierung der Juden habe es sich um eine „staatspolitisch notwendige Maßnahme“ gehandelt, so hätte doch berücksichtigt werden müssen, dass diese Maßnahme für jeden betroffenen Juden ein schweres Unglück bedeutete, an dessen Zustandekommen er keinerlei Schuld trug und dem er sich nach dem Recht des übergesetzlichen Notstandes entziehen durfte.
Damit sind wir eigentlich schon fürs erste fertig. Mit dieser – überzeugenden - Begründung steht fest, dass Thein keine Straftat begangen hat. Das gleichwohl vom Sondergericht Prag ausgesprochene Todesurteil war objektiv falsch.
„Zur Sicherheit“ und - wie man so sagt – doppelt genäht prüfte die Staatsanwaltschaft noch, ob das Todesurteil nicht außerdem noch deshalb falsch war, weil es – wenn es schon eine Verurteilung aussprechen musste – nicht einen „leichten“ Fall angenommen hatte. Auch das hat die Staatsanwaltschaft bejaht und ausgeführt:
Es ist kaum ein leichterer Fall denkbar als der Fall Thein, wenn man den gesetzgeberischen Zweck der Verordnung vom 3. Juli 1942 bedenkt, die die Erfassung von Reichsfeinden und ihren Helfern gewährleisten sollte. Mit einem solchen Reichsfeind hatte Thein nicht das Geringste zu tun. Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, handelte es sich bei ihm um einen harmlosen Juden, der sich, solange die Zeiten normal gewesen waren, recht und schlecht durchgeschlagen hatte und weder kriminell noch politisch irgendwie auffällig geworden war. (Auch) spricht in charakterlicher Hinsicht (nicht) die Tatsache zu seinem Nachteil, dass er trotz entgegenstehender Gebote nicht den Judenstern getragen und sich auch sonst wie als Arier zu tarnen versucht hatte.
Man kann es nur als eine besonders eindeutige Verletzung des Gesetzes bezeichnen, wenn das Gericht hier nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, durch Bejahung eines leichten Falles zu verhindern, dass Thein wegen einer solchen Bagatelle die Todesstrafe erleiden musste. Es muss festgestellt werden, dass diese Verurteilung jeder Gerechtigkeit Hohn spricht.
Damit hatte die Staatsanwaltschaft Koblenz wenigstens in diesem eindeutigen Fall festgestellt, dass das vom Sondergericht Prag verhängte Todesurteil gegen den Juden Thein objektiv rechtswidrig war. Es war falsch, weil es überhaupt eine Verurteilung ausgesprochen hat und es war außerdem noch falsch, weil es die Todesstrafe ausgesprochen und nicht einen „leichten“ Fall mit einer sehr viel milderen Strafe angenommen hatte. Damit war das Todesurteil also objektiv Mord oder wenigstens Totschlag bzw. zumindest Beihilfe zu einem solchen Tötungsdelikt.
Solche Delikte – gleich welcher Art – konnten nach der Nachkriegsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber nicht ohne weiteres begehen. Das konnte jeder andere tun – aber nicht ein Richter. Für die Richter galt ein Sonderrecht. Sie konnten nur wegen eines solchen Delikts verurteilt werden, wenn sie mit der Tathandlung zugleich auch eine Rechtsbeugung begangen hatten. Sie wissen sicherlich: Es gibt für Amtspersonen besondere Straftatbestände. Der Jurist nennt das Amtsdelikte. Beispiel: Wenn Sie als angestellter Kassierer einer Sparkasse Gelder für sich abzweigen, dann ist das eine Unterschlagung. Wenn sie als beamteter Kassierer der Finanzkasse Gelder für sich abzweigen, dann ist das eine Amtsunterschlagung. Oder auch: Bestechen im strafrechtlichen Sinne können Sie nur einen Beamten, keinen Angestellten, denn können sie nur „schmieren“. So ähnlich ist es bei den Richtern. Für sie gibt es ein Sonderdelikt, das der Rechtsbeugung. Rechtsbeugung kann nur ein Richter begehen.
Die damalige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs machte sich dies zu nutze und schuf ein Sonderrecht für Richter. Sie bestimmte, dass ein Richter nur dann wegen einer Straftat bestraft werden konnte, wenn er sich zugleich auch einer Rechtsbeugung schuldig gemacht hatte. Die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung war also das Nadelöhr durch das man gelangen musste, um einem Richter ein Tötungsdelikt vorwerfen zu können. Die festzustellende Rechtsbeugung war also vorgeschaltet.
Eine solche Rechtsbeugung setzte voraus, dass der Richter vorsätzlich eine Strafe verhängt hat, die unter Berücksichtigung aller von der Rechtsordnung zu billigenden Gesichtspunkten nach Art und Höhe in einem unerträglichen Missverhältnis zu der Schwere der Tat und der Schuld des Täters stand.
Kommen wir zu unserem Fall Thein zurück. In objektiver Hinsicht war das im Fall Thein sicherlich eine solche Rechtsbeugung, denn für die Todesstrafe fehlte einfach die rechtliche Grundlage. Das war hier aber – wie auch in vielen Fällen von NS-Richtern – nicht das entscheidende Problem.
Problematisch war vielmehr hier und in anderen Fällen die subjektive Seite des zum Tode verurteilenden Richters, d.h. dessen Bewusstsein, eine Strafe auszusprechen, die in einem solchen unerträglichen Missverhältnis zur Schwere der Tat und der Schuld des Täters stand.
Damit haben sich sehr viele Richter herausgeredet. Sie haben geltend gemacht, die von ihnen verhängte Strafe sei zwar hart, aber unter dem Umständen des Krieges pp. „nötig“ gewesen. Diese Richter handelten dann in „Rechtsblindheit“. Denen war zwar die Härte der Strafe bewusst, aber sie meinten, das sei schon nötig und in Ordnung gewesen – sie hatten nicht das Bewusstsein, ein Fehlurteil zu sprechen.
Damit haben sich viele Richter später herausgeredet. Bei Kohlstadt war das eher anders. Kohlstadts Einlassungen gingen demgegenüber eher in eine andere Richtung. Er hatte wiederholt angegeben, solche überharten Strafen durchaus als solche erkannt und diese zu vermeiden versucht zu haben. Also war ihm das Problem durchaus geläufig. Er war nicht „rechtsblind“.
Von daher war es für die Staatsanwaltschaft Koblenz schwieriger, ihm „goldene Brücken“ zu bauen. Es gelang ihr aber trotzdem.
So hat sie aus der Einlassung Kohlstadts, er habe solche überharten Strafen nicht befürwortet und „in einem Strafverfahren gegen einen Juden wegen Fälschung eines Legitimationspapiers die Todesstrafe für übersetzt gehalten, dass er aber wegen des Beratungsgeheimnisses nicht mehr sagen könne, geschlussfolgert, er habe in der Urteilsberatung gegen die Verhängung der Todesstrafe gestimmt.
Diese Betrachtungsweise ist mehr als wohlwollend. Dabei muss man zunächst sehen, dass Kohlstadt in seinen Berichten Ende 1958/Anfang 1959 an den Oberlandesgerichtspräsidenten überhaupt keine Erinnerung mehr an einzelne Fälle hatte haben wollen. Vielmehr hat er über das Erinnerungsvermögen im Allgemeinen und im Besonderen lange Ausführungen gemacht. – Sie erinnern sich sicherlich noch an diese langatmigen Erklärungen. Danach konnte alles weitere schon nicht mehr so richtig geraten. Was aus der Erinnerung weg ist, kann nicht mehr so ohne weiteres wieder erinnert werden. Später hat Kohlstadt dann aber doch – ohne das zu erklären – auf einmal doch wieder eine gewisse Erinnerung an den Fall Thein gehabt. Bei einer seiner Vernehmungen hatte Kohlstadt gesagt:
(Betreffend) eine Strafsache gegen einen Juden, der ins Ausland fliehen wollte und einen Pass oder Legitimationspapiere fälschte. Nach meiner Erinnerung spielte auch eine Nachrichtenübermittlung hierbei eine Rolle (Spionage?). Ich war nicht der Berichterstatter. Ich kann nur sagen, dass ich die Todesstrafe für „übersetzt“ hielt. Mehr kann ich hierzu im Hinblick auf das Beratungsgeheimnis nicht sagen.
Das war für die Staatsanwaltschaft Koblenz der entscheidende Punkt – tatsächlich war es aber nichts. Kohlstadt hatte selbst nur eine vage Erinnerung an einen Fall – wobei man gar nicht wusste, ob er den Fall Thein meinte. Diese Vermutung war auch durch nichts belegt. Die Staatsanwaltschaft sagte selbst, dass das eine verschwommene Einlassung Kohlstadts sei. Aber sie deutete sie dahin, dass er behaupten wolle, in der Urteilsberatung gegen die Verhängung der Todesstrafe gestimmt zu haben. – Das ist nicht nur eine reine Vermutung, sondern auch sehr, sehr kühn. Diese Annahme steht vor allem auch im Widerspruch zu der Darstellung Kohlstadts, gerade das Urteil Thein sei in der Anfangszeit seiner Tätigkeit beim Sondergericht in Prag gefällt worden (was stimmt) – und in dieser frühen Zeit habe er noch nicht die Verhältnisse beim Sondergericht in Prag gekannt. Wenn er die Verhältnisse nicht gekannt hatte, dann hat er sich sicherlich nicht gegen die Gebräuche dort aufgelehnt, sondern hat sich – (noch) ohne eigene Meinung diesen Gebräuchen angeschlossen – und damit ebenfalls für die Todesstrafe im Fall Thein gestimmt. Das heißt: Die Argumentation der Staatsanwaltschaft Koblenz ist keineswegs überzeugend. Aus der Einlassung Kohlstadts kann man schlussfolgern, für die Todesstrafe gestimmt! Zumindest ist das Ganze mehr als fragwürdig!
Doch damit nicht genug. Die Staatsanwaltschaft Koblenz findet noch ein weiteres Argument, weshalb Kohlstadt nicht das Verbotene seines Handelns erkannt haben konnte. Dabei stellt man zunächst fest, dass das Todesurteil gegen Thein deshalb so ausgefallen sei, weil er Jude war. Das bedeute – so die Staatsanwaltschaft Koblenz -, dass die Richter sich in dem Urteil möglicherweise „zum Werkzeug der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegen die Juden (hätten) machen wollen“. Das wäre aber Mord gewesen – Tötung aus niedrigen Beweggründen.
Man sieht also schon förmlich den Abgrund. Anstatt nun in diesem Sinne fort zu fahren, zeigt man nur den Abgrund – und reißt das Steuer dann herum! Und jetzt geht es im Originalton der Staatsanwaltschaft Koblenz weiter – wobei ich mir erlaubt habe, den Ton in Umgangssprache zu übersetzen. Nein: So etwas Verwerfliches wird man doch bei Kohlstadt nicht annehmen können. Das ist doch abwegig. Wer als Richter die „nationalsozialistische Ausrottungspolitik gegen die Juden“ mit betrieben habe, muss böswillig und irregeleitet gewesen sein. Das kann man doch bei Kohlstadt nicht annehmen. So ein politischer Scharfmacher war er doch nicht. Das, was er gemacht hat – Blockleiter und Hauptstellenleiter des Personal- und des Schulungsamtes“, war doch mehr oder minder normal in der NS-Zeit. Auch steht nicht fest, dass Kohlstadt der Verfasser des Urteils war. Deshalb kann man ihm die einzelnen Formulierungen nicht so anlasten. Im Übrigen war die Rechtsprechung im Protektorat halt mal generell so streng. Dabei darf man nicht übersehen, dass man mit dieser Rechtsprechung offenbar Schlimmeres habe verhüten wollen. Denn nach dem tödlichen Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich Ende Mai 1942 wurde der Ausnahmezustand verhängt. Deshalb ging es darum, dass dieser wieder aufgehoben und die Standgerichtsbarkeit nicht eingeführt werde. Da musste man mit der Rechtsprechung des Sondergerichts schon Härte zeigen. Nicht zuletzt muss man auch sehen, dass damals eine intensive Propaganda gegen die Juden betrieben wurde. Bei einer solchen Propaganda konnte man schon durchaus meinen, dass im Einzelfall ein angeklagter Jude eine harte und abschreckende Ahndung verdiene.
Soweit die Argumentation der Staatsanwaltschaft Koblenz. Eine Frage dazu: Finden Sie diese Argumente nicht auch schlimm? Sind diese nicht geradezu dazu angetan, die Besatzungspolitik und den Terror der Nazis in den okkupierten Gebieten zu rechtfertigen? Ist das nicht die „zweite Schuld“ etwa an dem tschechischen Widerstand und an dem Juden Thein, der „nur“ sein nacktes Leben durch die Flucht nach Ungarn retten wollte – und damit nicht – wie geplant – in den Vernichtungslagern des Ostens mit Zyklon B ermordet wurde sondern per Todesurteil des Sondergerichts Prags mit dem Fallbeil?!
Wie dem auch sei. Mit diesen sehr zweifelhaften Argumenten stellte die Staatsanwaltschaft Koblenz unter dem 9. November 1962 das Ermittlungsverfahren gegen Kohlstadt ein.
Diese Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Kohlstadt am 9. November 1962 wird man sicherlich nicht losgelöst von dessen zwei Wochen vorher gestellten Antrag auf Versetzung in den Ruhestand vom 23. Oktober 1962 sehen können. Noch im Juni 1962 hatte man ihm nahe gelegt, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen, da sein weiteres Verbleiben in der Justiz eine Belastung darstelle. Inzwischen hatte im gleichen Jahr – 1962 - auch eine internationale Juristenkommission in ihrem Bericht von 952 NS-belasteten Richtern und Staatsanwälten gesprochen, die „immer noch (…) in der Justiz der Bundesrepublik tätig sind“. All das hat Kohlstatt noch nicht angefochten. Noch im Juni 1962 lehnte er eine Versetzung in den Ruhestand kategorisch mit dem Hinwies ab, dass er sich keiner Schuld bewusst sei. Im Übrigen verwies er darauf, dass er noch unversorgte Kinder habe und deshalb darauf angewiesen sei, bis zur Erreichen der Altersgrenze im Dienst zu bleiben.
Drei Monate später und zwei Wochen vor Einstellung des Ermittlungsverfahrens stellte er dann doch den Antrag auf vorzeitige Versetzung in den Ruhestand - wegen Überschreitens der Altersgrenze, die damals bei 62 Jahren lag.
In dem gegenüber dem Justizministerium und dem Oberlandesgerichtspräsidenten abgegebenen Antrag hieß es:
Mit Rücksicht auf die entsprechenden Hinweise der vorgesetzten Behörden weiche ich dem Druck der Verhältnisse, um dem Land gewisse politische Schwierigkeiten in dieser Richtung und mir weitere Unbill zu ersparen.
Daher stelle ich den Antrag auf Versetzung in den Ruhestand gemäß § 59 des Beamtengesetzes für Rheinland-Pfalz, weil ich das 62. Lebensjahr bereits überschritten habe.
Die Geltendmachung etwaiger, aus dieser vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand entstehenden Ansprüche behalte ich mir vor.
Einen einzigen Tag später, mit Urkunde vom 24. Oktober 1962, versetzte Ministerpräsident Peter Altmeier Kohlstadt in den Ruhestand. Der Urkunde fehlte wenigstens der ansonsten übliche Zusatz, dass ihm für die langjährigen treuen Dienste Dank und Anerkennung ausgesprochen werde.
So kam es, dass Kohlstadt die Einstellungsverfügung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn bereits als Richter im Ruhestand erhielt.
Schließlich folgte dann noch eine kurze Episode. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens erhielt die Staatsanwaltschaft Koblenz dann noch die Fotokopie des Urteils in dem Strafverfahren gegen den tschechischen Arbeiter Ferdinand Broz, der vom Sondergericht Prag unter Mitwirkung von Kohlstadt am 14. Dezember 1944 nach der berüchtigten „Volksschädlingsverordnung“ zum Tode verurteilt wurde. Aber auch dies gab der Staatsanwaltschaft keine Veranlassung, weitere Ermittlungen anzustellen. Es wurde im Jahr 1966 erneut eingestellt.