Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

  

Marianne ist die jüngere Tochter von Ernst Brasch und seiner Ehefrau Else, geb. Seligsohn. Beide sind liberale Juden. Ihr Vater stammt aus einer Koblenzer Juristenfamilie, ihr Großvater ist Rechtsanwalt mit dem Ehrentitel „Justizrat“. Nach Studium, Referendariat und Heirat wird ihr Vater Beamter. 1920 kommt die ältere Tochter Dorothea, 1924 Marianne zur Welt. Marianne hat eine schöne und behütete Kindheit. Die Familie lebt in Frankfurt am Main.
Dort geht sie zur Schule. Ihr Vater ist Regierungsrat beim Finanzamt.

Anfang 1933 Über die Familie bricht die Katastrophe des Nationalsozialismus herein. Von seinem Chef wegen seiner jüdischen Herkunft tief gekränkt, scheidet ihr Vater aus dem Staatsdienst aus.

7. April 1933 Der Vater kann jetzt aufgrund des „Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“, das als erstes NS-Gesetz einen „Arierparagraphen“ enthält, nicht mehr Rechtsanwalt werden.
Daraufhin nimmt sich die Großmutter mütterlicherseits am folgenden Tag das Leben.

Juli 1933 Aufgrund des „Arierparagrafen“ des neuen Gesetzes verliert Mariannes Onkel Dr. Walter Brasch seine Zulassung als Rechtsanwalt in Koblenz.

1935 Zwei Tage vor Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ resigniert Mariannes Großvater Dr. Isidor Brasch und gibt seine Zulassung als Rechtsanwalt zurück. Im Zuge der „Nürnberger Gesetze“ erhält ihr Onkel Walter ein völliges Berufsverbot. Er emigriert mit seiner Frau Irma und Sohn Peter zunächst ins Elsass, dann nach Amsterdam/Holland.

31. Juli 1936 Mariannes Großvater Isidor stirbt. Ihre Großmutter bleibt allein in Koblenz zurück.

Marianne besucht das jüdische Gymnasium „Philantropin“ in Frankfurt am Main.

10. November 1938 Am Morgen, vor Beginn des Unterrichts, werden die jüdischen Lehrer von Mariannes Gymnasium vor den Augen der Schüler verhaftet. Die Schüler werden nach Hause geschickt. Das ist Mariannes letzter Schultag überhaupt. Auf dem Nachhauseweg sieht sie die Synagogen brennen. Ihr Vater versucht, sich das Leben zu nehmen. Mariannes Mutter und Schwester können ihn noch retten. Die Gestapo führt ihn ab. Der Vater wird mit vielen anderen Juden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Später erfährt sie, dass ihre Großmutter in Koblenz von SA-Leuten drangsaliert und die Wohnung verwüstet wurde.

Anfang 1939 Mariannes Vater kommt aus dem KZ frei. Ihre Mutter will, dass die Familie auswandert. Ihr Vater kann sich dazu aber nicht entschließen.

April 1939 Marianne gelangt mit einem Kindertransport nach England.

Auch ihre Mutter kann einige Monate später dorthin emigrieren. Schwester Dorothea reist noch später zu ihrem zuvor in die USA ausgewanderten Ehemann aus.

21. Oktober 1941 Der allein in Frankfurt zurückgebliebene Vater entscheidet sich angesichts der drohenden Deportation „in den Osten“ für den Freitod.

19. August 1942 Mariannes Großmutter Emma wird in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, von dort in das Vernichtungslager Treblinka transportiert und bei der Ankunft ermordet.

Februar 1943 Mariannes Onkel Walter und seine beiden Kinder werden aus dem holländischen KZ Westerbork nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort getötet.

Januar 1944 Auch seine Frau, Mariannes Tante Irma, wird nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet.

Marianne und ihre Mutter überleben in England. Marianne heiratet und hat zwei Töchter. Die Familie zieht in die DDR. Dort ist ihr Mann ein hoher FDJ-Funktionär. 1950 kommt er bei einem Autounfall ums Leben. Marianne studiert in Berlin, wird promoviert und Lehrerin. Bald kehrt sie an die Universität zurück und ist Dozentin in der Lehrerbildung. Sie heiratet ein zweites Mal und hat einen Sohn. Dr. Marianne Pincus lebt in Ostberlin.