Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

008 Das Arbeitslager Friedrichssegen

In Friedrichssegen bei Lahnstein gab es eine alte, abgeschiedene Bergarbeiter- siedlung „Tagschacht“. Sie bestand aus vier Reihen- häusern links und rechts einer kleinen Straße.
Da der Bergbau unrentabel geworden war, waren dort anstelle der Bergarbeiter- familien sozial schwachen Familien einquartiert. Die Lebensverhältnisse waren primitiv: kein fließendes Wasser, Toiletten und Brunnen waren draußen. 1938 bestand dann Einsturzgefahr für die Häuser. Daraufhin verließen die sozial schwache Familien Tagschacht. Im Sommer 1941 wurden die Juden der Umgebung dorthin gebracht. Unter ganz schlechten Lebensbedingungen waren sie dienstverpflichtet und im „Tonwerk“ (auch Klinkerwerke genannt) mussten sie Ziegel herstellen.

Die meisten von ihnen wurden in zwei Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt. Der erste Transport von Friedrichssegen aus fand am 10. Juni und der zweite am 28. August 1942 statt.
Vor allem die zweite Deportation am 28. August 1942 mit 24 ins KZ Theresienstadt Verschleppten ist historisch gut belegt. Eindrucksvoll ist vor allem der Beri
cht eines Jungen, der damals mit seiner Familie in der Nähe des Bahnhofs von Friedrichssegen gewohnt hat. Er berichtete wie folgt darüber:

Es war an einem Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr, denn ich war schon aus der Schule nach Hause zurückgekehrt und musste anschließend meine Hausaufgaben anfertigen.
Ich sah den
Trauerzug der jüdischen Menschen sich dem Bahnsteig nähern, abgemagerte und verängstigte Gestalten waren es. Sie hatten keinerlei Hoffnung und auch keinerlei Chance, sich irgendwie wehren zu können. Einheimische waren zur Bewachung eingeteilt worden, fremde SS-Leute überwachten streng den Zug.
Etwa eine halbe Stunde mussten diese bemitleidenswerten Menschen auf dem Bahnsteig warten. Sie waren vorwiegend alte Menschen. Sie trugen nur armselige kleine Koffer und Taschen. Mir fielen ein Mädchen mit schweren langen Zöpfen (Hilde oder Ruth Grünebaum) und ein Junge mit Pudelmütze auf. Insgesamt herrschte eine lähmende Stille auf dem Platze.
Als endlich der Zug einlief, wurden die Menschen mit Faust- und Gewehrkolbenschlägen in die Abteile der Personenwagen gestoßen. Es tat weh, die Brutalität
der Wachmannschaft mit ansehen zu müssen. Eine solche Eile war eigentlich nicht angebracht gewesnen, denn der Zug stand noch einige Zeit auf dem Bahnsteig.
Laut ging es jetzt zu: Die Bevölkerung stand herum, meist Frauen und Kinder. Einige klatschten vor Freude in die Hände und schrieen „bravo“.
Eine besondere Szene fällt mir noch ein. Beim hastigen Einsteigen in einen Wagen sprang einer älteren Jüdin der Koffer auf, und sein Inhalt fiel auf den Bahnsteig. Sie wollte eilig den Koffer wieder füllen, aber ein SS-Mann hinderte sie daran. Sie konnte nur ein wenig ihrer Habseligkeiten ergreifen; dann wurde sie roh hineingestoßen. Der kleine Koffer mit den meisten Dingen blieb draußen auf dem Bahnsteig liegen.


Heute erinnert ein Mahnmal an das Arbeitslager Friedrichssegen. Es befindet sich rechts neben der evangelischen Kirche in der Erzbachstraße.


 

Weiterführende Literatur

Elmar Ries:

  • Friedrichssegen/Lahn: Ein Jahr Zwangsarbeit für jüdische Menschen vor ihrer Deportation im Jahre 1942, in:
    Sachor, Heft 1/97, Nr. 13, S. 26 – 33,

Elmar Ries:

  • Von der Klassenlektüre zum Mahnmal. Aktionen von Schülerinnen und Schülern der Realschule Oberlahnstein in vier Jahren, in: S
    Sachor, Heft 1/97, Nr. 13, S. 34 – 42,

Walter Rummel:

  • Ein Ghetto für die Juden im Tal der Verbannten, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 2004, Seite 419-507.