Die "Aktion Reinhard(t)" stellte das bei weitem "effektivste" Tötungssystem der Nazis dar
Begriffserklärung: Die Bezeichnung "Aktion Reinhard(t)" ist ein von der SS später gebrauchter Tarnname für den systematischen Massenmord an den europäischen Juden in der Phase von März 1942 bis Frühjahr 1943 auf dem Territorium des von Hitler-Deutschland besetzten Polen des "Generalgouvernements". Erst danach erlangte Auschwitz die Bedeutung, die dem Lager heute zugeschrieben wird. Die "Aktion Reinhard(t)" hat ihren Namen sehr warscheinlich von dem im Mai 1942 nach einem Attentat verstorbenen Organisator der "Endlösung der Judenfrage" Reinhard Heydrich. Die Bezeichnung "Reinhardt" wird erstmalig in einem Dokument vom 18. Juli 1942 erwähnt. Die Aktion hat eine Vorgeschichte und Geschichte:
21. Juli 1941: Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler beauftragt den SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des "Generalgouvernements" (Odilo Globocnik) mit Vorbereitungen für SS-Siedlungsstützpunkte in Polen und in der Sowjetunion für sowie für den Aufbau eines großen Konzentrationslagers ("Programm Heinrich").
31. Juli 1941: Göring schreibt an Heydrich: "Beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa."
13. Oktober 1941: Himmler, Globocnik und dessen Vorgesetzter, der Höhere SS- und Polizeiführer Krüger, treffen sich in Berlin. Himmler gibt die Anweisung, die Region Lublin für die "Germanisierung" vorzubereiten. Um die Juden aus diesem Gebiet zu entfernen, wird Globocnik vermutlich mit der Errichtung von Vernichtungszentren beauftragt.
1. November 1941: Der Aufbau des Vernichtungslagers Belzec in Ostpolen wird begonnen.
20. Januar 1942: Auf Einladung von Heydrich findet die sog. Wannsee-Konferenz in Berlin statt. 15 hohe Behördenvertreter u.a. besprechen die Zusammenarbeit bei der bevorstehenden Deportation aller europäischen Juden in die eroberten Gebiete in Ost-Europa. Der Vertreter des "Generalgouvernements" ist mit den Mordplänen einverstanden und erklärt, "dass das Generalgouvernement es begrüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spielt und arbeitseinsatzmäßige Gründe den Lauf dieser Aktion nicht behindern würden. Juden müssten so schnell wie möglich aus dem Gebiet des Generalgouvernements entfernt werden."
17. März 1942: Der Bau des ersten Vernichtungslagers in Belzec ist weitgehend abgeschlossen. Es treffen die ersten Transporte mit einheimischen Juden aus den Ghettos von Lemberg und Lublin ein.
24. März 1942: Nach einer Razzia werden die einheimische Juden aus dem Ghetto Izbica in das Vernichtungslager Belzec transportiert. Sie machen den Juden Platz, die in den nächsten Tagen aus dem Westen nach Izbica verschleppt werden.
26./27. März 1942: Der erste Deportationszug mit 338 Juden aus Koblenz und Umgebung trifft in Izbica ein. Man zwängt die Menschen in die teilweise frei gemachten Wohnungen und Häuser.
27. März 1942: Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schreibt in sein Tagebuch: "Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig."
Anfang Mai 1942: In Sobibor nimmt das zweite Vernichtungslager seine Arbeit auf. In der ersten Phase der fabrikmäßigen Tötung werden dort bis Juni 1942 u.a. mindestens 10.000 deutsche und österreichische Juden ermordet.
15. Juni 1942: Die 3. Deportation von Juden aus dem Koblenzer Raum geht nicht mehr in ein Durchgangsghetto im Raum Lublin, sondern in das Vernichtungslager Sobibor unmittelbar. Die dort ankommenden Menschen, vor allem die Patienten der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn, werden noch am selben Tag mit Motorabgasen ermordet.
Mitte Juli 1942: Auch das dritte Vernichtungslager, Treblinka, ist fertig gestellt.
Ablauf der Tötungen: Der Ablauf ist in allen Vernichtungslagern im Wesentlichen gleich: Die Menschen kommen meist in Deportationszügen an. An der Rampe im Lager werden sie unter Schlägen "ausgeladen". Die Toten und die Transportunfähigen werden gesammelt. Letztere werden in einer abgegrenzten Exekutionsstätte ("Lazarett") erschossen und dann in ein Massengrab geworfen. Die anderen Ankömmlinge erhalten eine "beruhigende" Ansprache, müssen ihr Gepäck ablegen, sich entkleiden, ihre Wertsachen und Geld abliefern, den Frauen wird das Haar geschoren. Die Männer werden einen engen Gang ("Schlauch") hoch vor das Tötungsgebäude mit den Gaskammern getrieben, dort hineingepfercht und mit Kohlenmonoxyd aus einem Dieselmotor ermordet. Anschließend schleppen "Arbeitsjuden" die Leichen in Massengräber, zuvor haben sie die Körperöffnungen nach versteckten Wertsachen untersucht und die Goldzähne herausgebrochen. Dann folgen die Gruppen der Frauen und Kinder.
19. Juli 1942: Himmler erlässt den zentralen Befehl der "Aktion Reinhardt": "Ich ordne an, dass die Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis 31. Dezember 1942 durchgeführt und beendet ist. Diese Maßnahmen sind zu der im Sinne der Neuordnung Europas notwendigen ethnischen Scheidung von Rassen und Völkern sowie im Interesse der Sicherheit und Sauberkeit des Deutschen Reiches und seiner Interessengebiete erforderlich."
Juli/September 1942: Die Morde in den drei Vernichtungslagern erreichen ihren Höhepunkt. In weniger als sieben Wochen werden im August/September 1942 allein in Treblinka etwa 300.000 Menschen ermordet.
Zahlen: Nach internen Zahlen der deutschen Besatzer werden im Rahmen der "Aktion Reinhard(t)" bis Ende 1942 1.274.166 Menschen ermordet. Bis zum Herbst 1943 sterben in Belzec zwischen 440.000 und 453.000, in Sobibor etwa 180.000 und in Treblinka zwischen 800.000 und 900.000 Menschen, zum weit überwiegenden Teil polnische Juden, aber auch Juden aus dem Deutschen Reich, aus den Niederlanden, Frankreich und aus anderen von Hitler-Deutschland besetzten Ländern.
4. Oktober 1943: Himmler hält auf einer Tagung führender SS-Leute in Posen eine Rede und sagt zu der von ihm so genannten Judenevakuierung: "Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. (
) Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."
Und heute? Was denken und fühlen wir heute? Und wie handeln wir?