Darf ein NS-Kriegsverbrecher weiter einer Straße den Namen geben?
Die Diskussion über die Umbenennung der Friedrich Syrup-Straße in Koblenz-Rauental kommt langsam in Bewegung. Wie zu erwarten war, hat der Stadtrat von Koblenz in seiner Sitzung vom 6. April 2017 den Antrag der GRÜNEN auf Umbenennung der Straße in den Arbeitskreis Straßenbenennung verwiesen. Zuvor hatte die Stadtverwaltung wieder auf den weiten Gestaltungsspielraum bei einer solchen Umbenennung hingewiesen.
Einige Tage später berichtete die Rhein-Zeitung über den Antrag auf Umbenennung der Friedrich Syrup-Straße.
Lesen Sie dazu HIER den Artikel in der Rhein-Zeitung vom 12. April 2017
Dieser Artikel war dann Anlass für mehrere Leserbriefe. Zwei von ihnen druckte die Rhein-Zeitung in Ihrer Ausgabe vom 19. April 2017 an. Sie sind HIER zu lesen.
Zu dem bisherigen Geschehen und seinen Begleitumständen hat sich auch unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig geäußert. Seine Stellungnahme wird nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben. Diese Stellungnahme ist - in leicht abgewandelter Form - auch in "Blick aktuell" - Ausgabe Koblenz - vom 20. April 2017 erschienen. Den Beitrag in "Blick aktuell" können Sie HIER nachlesen
Darf ein NS-Kriegsverbrecher weiter einer Straße den Namen geben?
von Joachim Hennig
In Blick aktuell Ausgabe 14/2017 vom 6. April 2017 hat sich der Verfasser dieser Zeilen unter „Top-Thema im Blick“ zu einem Antrag der GRÜNEN Ratsfraktion in Koblenz betreffend die Umbenennung der Friedrich Syrup-Straße im Rauental geäußert. Unter der Überschrift „Ehrung eines Nazitäters?“ hat er Leben und Wirken des mit einer Straßenbenennung geehrten Friedrich Syrup eingehend und deutlich geschildert. Blick aktuell hat im Anschluss daran den Antrag, den die Fraktion der GRÜNEN in der Stadtratssitzung am 6. April 2017 gestellt hat, nebst der Presseerklärung dazu abgedruckt. Das Thema hat einige Wellen geschlagen: Der SWR – Studio Koblenz – hat in seinem Rundfunkprogramm darüber berichtet, die Landesschau aktuell brachte einen Filmbericht darüber. In beiden Beiträgen wurde die Rolle Syrups im Nationalsozialismus und die Namensgebung für die Straße im Jahr 1952 kritisch angesprochen. Soweit die Reaktion landesweit.
In Koblenz selbst war die Resonanz sehr verhalten. Der Stadtrat diskutierte kurz über den Antrag und verwies ihn in den Arbeitskreis Straßenbenennung. Zuvor hatte sich Oberbürgermeister Prof. Dr. Hofmann-Göttig auf die Frage eines Koblenzer Bürgers zu der Straßenbenennung überhaupt nicht zu der Ehrung als solcher geäußert und die Angelegenheit gleich weitergereicht: „Es ist Sache des Arbeitskreises Straßenbenennungen, sich mit den Straßennamen auseinander zu setzen.“ Und fügte hinzu: „Umbenennungen sind besonders schwierig, weil sie für die Anwohnerschaft mit hohem Aufwand verbunden sind.“ und verwies auf die (vermeintliche?) Volkes Stimme: „Ich glaube nicht, dass sich die Bürgerschaft wünscht, diese Diskussionen und vor allem die damit verbunden(en) Aufwände nunmehr, Jahrzehnte nach dem Krieg, wieder neu zu entfachen.“ Neben dem angeblich hohen Aufwand war das dann wieder die „Schlussstrich-Mentalität“.
Die Rhein-Zeitung ging in ihrer Ausgabe vom 12. April 2017 unter der Überschrift „Dürfen Straßen Namen von Nazis tragen?“ auf das Thema ein. Im Untertitel sprach sie von einer „Debatte“ und dass „bei einer Umbenennung (..) auch der Aufwand für die Anwohner bedacht werden (müsse)“. In dem Artikel ist von einer Debatte keine Rede und zu Friedrich Syrup gibt es einen ganzen Halbsatz („der 1938 den Arbeitseinsatz aller erwerbslosen und sozialunterstützten Juden im Reichsgebiet angeordnet hatte und 1942 in die Planungen für die Zeit nach den ‚Endsieg’ eingebunden war, sagen die Grünen“). Der Artikel beschäftigt sich mit dem „hohen Aufwand“ („Ganz so einfach ist eine Umbenennung allerdings nicht, erklärt die Stadt“), um dann u.a. auf die zu ändernden Visitenkarten der Anwohner zu kommen und mit dem Ausblick zu enden, dass „sich nun der städtische Arbeitskreis für Straßenbenennung mit dem Thema beschäftigen (wird)“.
Wie schon früher hat man sich mit dem Namensgeber, seinem Leben und Wirken nicht näher beschäftigt. Typisch dafür ist der Titel der Berichterstattung „Dürfen Straßen Namen von Nazis tragen?“ Bei der Friedrich-Syrup-Straße geht es nicht um den Namen eines Nazis. Syrup war als „alter“ preußischer Spitzenbeamter nach dem Aufnahmestopp in die NSDAP ab Mai 1933 „erst“ im Jahr 1937 Parteimitglied geworden. Wenn man allen NSDAP-Mitgliedern eine solche Ehrung aberkennen wollte, hätte man auch in Koblenz wohl viel zu tun. Denn reichsweit gab es ca. 7,7 Millionen Mitglieder der NSDAP. Entscheidend ist vielmehr, dass Friedrich Syrup ein Kriegsverbrecher war. Seit 1936 war er in kleinen Gremien aktiv, die den Zweiten Weltkrieg und den Vernichtungskrieg im Osten planten und organisierten. Den Vorsitz in diesen Gremien hatte der Beauftragte für den Vierjahresplan, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Hermann Göring. Nachfolger in dieser von Syrup wahrgenommenen Funktion war ab 1942 Fritz Sauckel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz. Hermann Göring und Fritz Sauckel waren nach der Befreiung vom Nationalsozialismus Angeklagte im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Beide sind als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt worden. Göring hat sich der Hinrichtung durch eine Giftampulle entzogen, Sauckel wurde am 16. Oktober 1946 in Nürnberg hingerichtet. Und Syrup – nur ein Nazi von ca. 7,7 Millionen?
Diese Geschichte und anderes mehr ist bisher – bis auf den Artikel in Blick aktuell – nicht zur Sprache gekommen.. Stattdessen geht es um den angeblich hohen Aufwand, den eine solche Straßenumbenennung – und gerade diese(?) - mit sich bringt. Man fragt sich: Wie war das eigentlich nach der Wende 1990 in der ehemaligen DDR? Da wurden ganze Städte umbenannt. Ob man da die Visitenkarten der Anwohner zum Maßstab gemacht und danach gehandelt hat? Bei den von der DDR Geehrten war das dann wohl auch etwas anderes, das waren ja keine Kriegsverbrecher... Zur Erinnerung – wenn es auch schon „Jahrzehnte nach dem Krieg“ her ist: Hitler-Deutschlands Angriffskrieg hat mehr als 55 Millionen Menschen das Leben gekostet. Das waren allein die Kriegstoten, von den anderen Opfern des Nationalsozialismus im engeren Sinne (11 Millionen) ganz zu schweigen.
Zu Recht verweist die Stadt darauf, dass die Umbenennung eine Ermessensentscheidung ist. „Ermessen“ ist ein juristischer Begriff. Er stellt die Verwaltung von der strikten Gesetzesbindung frei und verweist auf die Lösung, die angesichts der besonderen Umstände des Falles nach Abwägung allen Für und Wider „dem Zweck der Ermächtigung am besten gerecht wird.“ Die Ermessensentscheidung setzt also eine sehr sorgfältige Ermittlung der besonderen Umstände des Einzelfalls und des entscheidungserheblichen Sachverhalts voraus. Erst wenn man diese ermittelt hat, kann man das Für und Wider sachgerecht abwägen. Alles andere ist nur ein Schnellschuss, bei dem ein Fehler bei der Ermessensbetätigung vorprogrammiert ist. Die Herausstellung des angeblich „hohen Aufwandes“ für eine Umbenennung ist von daher sehr problematisch.
Aber – so soll man sich beruhigen – es sei ja nicht das letzte Wort gesprochen. Schließlich werde sich der städtische Arbeitskreis für Straßenbenennung mit dem Thema beschäftigen. Nun gut. Wenn man sich auf der Homepage der Stadt über diesen Arbeitskreis, seine Zusammensetzung, seine Aufgabenstellung und sein Leitbild informieren will, findet man gerade diese Information: „Der Arbeitskreis für Straßenbenennung, mit dem Stitzungsdienst (gemeint ist wohl: Sitzungsdienst, Anm. d. Verf.) beim Vermessungsamt, schlägt dem Stadtrat die neuen Straßennamen zur Entscheidung vor.“ Das ist nicht viel, was der Arbeitskreis da an Informationen über sich und seine Jahrzehnte lange Arbeit preisgibt. Da nimmt es auch nicht wunder, dass der Arbeitskreis nichtöffentlich tagt. Eine Transparenz bei der Vergabe von Ehrungen durch Straßenbenennungen bzw. bei der Aberkennung davon sieht anders aus. Er ist wohl auch die „richtige“ Stelle für die schadlose Entsorgung kritischer Fragen zur Stadtgeschichte.
So ist es schon wiederholt dem einen oder anderen engagierten Bürger von Koblenz passiert. Auch der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich, dass er schon einmal – im Jahr 2001 – die Straßenbenennungen in Koblenz kritisch hinterfragt hatte. Damals hatte er einen dreiseitigen Brief an alle im Stadtrat vertretenen Parteien zur Straßenbenennung gerichtet. Antwort erhalten hat er seinerzeit nur von der CDU- und von der FDP-Fraktion im Stadtrat. Erwähnenswert ist lediglich die Antwort der Fraktionsvorsitzenden der FDP. Frau Ursula Schwerin schrieb: „Ich gehe davon aus, dass der Inhalt Ihres Schreibens alle derzeit und zukünftig Verantwortlichen in Bezug auf Straßenbenennungen nachdenklich stimmen wird. Vielleicht haben wir es uns etwas zu leicht (zu bequem) gemacht und einfach akzeptiert, was uns der ‚Arbeitskreis Straßenbenennungen’ als Vorschläge im Haupt- und Finanzausschuss sowie im Stadtrat weitergab? Ihren dreiseitigen Brief hebe ich mir gut auf.“ – Soweit Frau Schwerin im Jahr 2001. Man darf gespannt sein, wie es mit der beantragten Umbenennung der Straße nach dem Kriegsverbrecher Friedrich Syrup 17 Jahre später weitergeht. Ob man/frau in Koblenz inzwischen sensibler mit dem Thema umgeht und das pflichtgemäße Ermessen in diesem und in anderen Fällen sachgerecht betätigt? Bis jetzt sieht es nicht danach aus.
70 Jahre Land Rheinland-Pfalz
In diesen Tagen feiert das Land Rheinland-Pfalz seinen 70. „Geburtstag“. Mit einer Festveranstaltung am 18. Mai 2017 zum 70. Jahrestag der Annahme der Verfassung blicken der Landtag und die Landesregierung und mit ihnen ganz Rheinland-Pfalz auf die Gründungsgeschichte unseres Bundeslandes zurück. Vor 70 Jahren, am 18. Mai 1947, ging der knapp neunmonatige Gründungsprozess des neuen Landes zu Ende. Begonnen hatte er mit der Verordnung Nr. 57 des französischen Oberbefehlshabers von Deutschland, Armeegeneral Pierre-Marie Koenig, vom 30. August 1946. Damit begann ein kurzer, aber schwieriger Weg zur Staatswerdung, der am 18. Mai 1947 mit den Volksabstimmungen über die Verfassung und die Wahl zum 1. Landtag von Rheinland-Pfalz endete.
Diese Entwicklung hat der stellvertretende Vorsitzende unseres Fördervereins, Joachim Hennig, in mehreren Beiträgen in der Heimatzeitung „Blick aktuell“ – Ausgabe Koblenz – dargestellt. Diese Artikel sind in den Informationen zuvor auch auf dieser Homepage abrufbar.
Jetzt – wenige Tage vor dem „runden Geburtstag“ – veröffentlichen wir hier einen weiteren kleinen Aufsatz von Joachim Hennig, der sich aus Anlass des Landesjubiläums mit dem Beitrag von NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung beim Neuanfang von Rheinland-Pfalz beschäftigt.
70 Jahre Land Rheinland-Pfalz – NS-Opfer aus Koblenz und Umgebung und Neuanfang nach dem Nationalsozialismus
von Joachim Hennig
Vor 70 Jahren entstand unser heutiges Land Rheinland-Pfalz. Es war – wie andere „Bindestrich-Länder“ – ein Produkt der Zonengeografie nach dem Zweiten Weltkrieg - ein „Land aus der Retorte“. In mehrfacher Hinsicht hatte es einen sehr schweren Start. Die Besatzungsmächte, zunächst waren es die Amerikaner und dann Franzosen, fanden ein ruiniertes Land und ein geschlagenes und scheinbar unbelehrbares Volk vor. In den deutschen Städten war weit mehr als die Hälfte des Wohnraums durch den Bombenkrieg zerstört, in Koblenz über 60 Prozent. Brücken und Straßen waren oft unpassierbar, vielen Familien fehlte der Ernährer, Kriegsversehrte waren ein gewohnter Anblick. Schwer zu ertragende Schicksale gab es überall. Und überall fehlte es an Lebensmitteln. Der Hunger war ein großes Problem.
Das größte Problem war der Strom der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, der sich aus den abgetrennten deutschen Ostgebieten und aus Ost-Mitteleuropa in das verkleinerte und vierfach geteilte Deutschland ergoss. Ende Oktober 1946 wurden 9,6 Millionen Heimatvertriebene gezählt. Die Rheinländer nahmen von ihnen aber nur wenige und die widerwillig auf; sie fürchteten eine „Überfremdung“ der katholischen Bevölkerung durch vor allem evangelische Flüchtlinge.
Dann gab es noch die ca. sieben Millionen Mitglieder der NSDAP und nach neuesten Forschungen schätzungsweise 200.000 bis 250.000 NS-Täter. Die Stimmung im Volk spiegelte dies wider: Im April 1946 erklärten in einer Meinungsumfrage über die Hälfte der Interviewten, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee – nur schlecht ausgeführt. Noch 1948 ergab eine Umfrage, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung unverändert antisemitisch oder rassistisch dachte.
Das waren schlechte Voraussetzungen für einen neuen, demokratischen Anfang. Es kam hinzu, dass die Franzosen durch die deutsche Besatzung ihres Heimatlandes während des Zweiten Weltkrieges traumatisiert und ökonomisch recht schwach waren. Ihr Motto lautete: „Sécurité et Charbon“ – „Sicherheit und Kohle“. Nur relativ spät und nach und nach gingen sie an die Gründung des Landes und an die Herausbildung demokratischer politischer und gesellschaftlicher Strukturen.
Den Anfang machte der Militärgouverneur der Französischen Besatzungszone General Pierre-Marie Koenig. Mit seiner „Erklärung bezüglich der Schaffung eines rhein-pfälzischen Landes“ sowie der Ordonnance No. 57 (VO Nr. 57). In dieser Gründungs- bzw. Geburtsurkunde von Rheinland-Pfalz wurde die Einrichtung eines neuen Landes, bestehend aus den Regionen Pfalz, Trier, Koblenz, Mainz und Montabaur, angeordnet. Festgelegt war auch das Verfahren über das Zustandekommen der Verfassung. Die Hauptstadt des künftigen Landes sollte Mainz sein. In der Erklärung hieß es, damit solle dem neuen Land und seiner Bevölkerung ermöglicht werden, „dieses Land auf demokratischer Grundlage (…) zu organisieren.“
Wenn auch deutsche Politiker an der Landesgründung nicht beteiligt waren, so engagierten sich an dem folgenden Aufbau des Landes auch Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und NS-Opfer. Triebfeder für viele von ihnen war, was die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald kurz nach der Befreiung auf dem Appellplatz schworen:
„Wir führten in vielen Sprachen den gleichen harten, erbarmungslosen, opferreichen Kampf, und dieser Kampf ist noch nicht zu Ende. Noch wehen Hitlerfahnen! Noch leben die Mörder unserer Kameraden! Noch laufen unsere sadistischen Peiniger frei herum!
Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens:
Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. –
Und 21.000 Männer streckten die Hand zum Himmel und sprachen: ‚Wir schwören!’“
Für die NS-Opfer war es schwer, dem so gestellten Anspruch gerecht zu werden. Die jahrelange Folter, Erniedrigung, der Hunger, die Verzweiflung und Todesangst hatten bei ihnen tiefe Spuren hinterlassen. Schon das Zurückfinden in das „normale“ Leben - also außerhalb der Konzentrationslager, der Zuchthäuser, nach ihrer Rückkehr aus der Emigration oder der Illegalität – war nicht leicht. Die Umgebung machte es ihnen nicht leichter. Sie kamen zurück in eine zerstörte Stadt, waren vielfach schwer krank, ihre Familien waren zerstreut, ihre Arbeitsstellen verloren, Lebensmittel Mangelware. Nicht selten mussten sie zudem auch noch gegen Vorurteile kämpfen (nach dem Motto: „Es wird schon etwas dran gewesen sein, wenn man im Zuchthaus war.“). Bisweilen sah man sie auch als „Störenfriede“ an – vor allem ganz konkret dann, wenn sie ihr Hab und Gut zurückhaben wollten.
Viele ließen sich aber nicht unterkriegen, fanden den Mut und die Kraft, ein neues Leben zu beginnen oder da anzuknüpfen, wo sie aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus notgedrungen hatten aufhören müssen. Dazu gehörte auch ihre Beteiligung am Neuaufbau bzw. Wiederaufbau.
Die Gewerkschafter unter ihnen wurden schon sehr bald beim demokratischen Aufbau von unten nach oben („grassroot-democracy“ – „Graswurzeldemokratie“) aktiv, die Politiker der unterschiedlichen Grundhaltungen und Strömungen folgten dann, hatte sich die französische Besatzungsmacht doch erst recht schwer mit der Zulassung politischer Parteien getan.
Als wenige Tage nach der Proklamation des „rhein-pfälzischen“ Landes am 30. August 1946 die „Gemischte Kommission“ zusammentrat und diese einen sechsköpfigen Unterausschuss für Verfassungsfragen bildete, waren mehrere seiner Mitglieder Opfer des Nationalsozialismus. Einer von ihnen war der in Niederlahnstein geborene Dr. Ernst Biesten (1884 - 1953, CDP später CDU). Der Jurist war jahrelang Dezernent der Stadt Koblenz und dann erster Polizeipräsident von Koblenz. Als entschiedener Gegner des aufkommenden Nationalsozialismus wurde er sofort nach der Machtübernahme der Nazis aus seinem Amt entfernt. Die Nazis vor Ort bis hin zum Gauleiter Gustav Simon sorgten dafür, dass er keine Anstellung im Staatsdienst und auch keine Zulassung als Rechtsanwalt erhielt.
Bei den ersten freien Wahlen nach der zwölfjährigen Hitler-Diktatur – bei den Wahlen zu den Gemeinde- und Stadtvertretungen Mitte September 1946 und vier Wochen später bei den Wahlen zu den Kreistagen – stellten sich zahlreiche NS-Opfer zur Wahl. In Bad Kreuznach war es der Gewerkschafter und Kommunist Hugo Salzmann (1903 – 1979). Er hatte mit seiner Familie vor den Nazis nach Frankreich fliehen müssen, wurde bei Beginn des Zweiten Weltkrieges im südfranzösischen Konzentrationslager Le Vernet inhaftiert, an die Gestapo ausgeliefert und nach einer einjährigen Haft im Gefängnis in Koblenz vom Volksgerichtshof in Berlin wegen Hochverrats zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine ebenfalls in Frankreich an die Gestapo übergebene und dann nach Koblenz überführte Ehefrau Julianna kam im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück um.
Eine ganz besondere Bedeutung hatten diese Wahlen auch für Johann Dötsch (1890 - 1946). Als Gewerkschafter und Sozialdemokraten hatten ihn die Nazis schon früh wiederholt in „Schutzhaft“ genommen. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Er überlebte den „Todesmarsch“ Richtung Ostsee und kam schwerkrank nach Koblenz zurück. Hier wurde er noch Präsidialdirektor („kleiner Minister“) der Provinz Rheinland-Hessen-Nassau. Sein großer Wunsch ging in Erfüllung, als er an den Gemeindewahlen teilnehmen konnte. Dazu wurde er auf einer Bahre in das Wahllokal getragen. Drei Wochen später starb Johann Dötsch an den Folgen der KZ-Haft.
Die aus den Wahlen hervorgegangenen Mandatsträger wählten ihrerseits die 127 Mitglieder der Beratenden Landesversammlung. Deren vornehmliche Aufgabe war es, den vom Verfassungsausschuss vorbereiteten Verfassungsentwurf endgültig für die Volksabstimmung hierüber auszuarbeiten.
Diesem Gremium, das sich im Koblenzer Stadttheater am 22. November 1946 konstituierte, gehörten auch einige NS-Opfer an. Ein exponiertes Mitglied war der Kommunist Ernst Buschmann (1914 – 1996). Vor der drohenden Verhaftung durch die Gestapo floh er erst nach Holland, kam dann über mehrere Stationen nach Spanien. Dort nahm er auf der Seite der Internationalen Brigaden am Bürgerkrieg gegen Franco und seine Faschisten teil. Nach der Niederlage der Republikaner war er in südfranzösischen Lagern interniert. Vor der drohenden Auslieferung an die Gestapo konnte er fliehen und schloss sich der Résistance an. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er in Koblenz am Aufbau der Einheitsgewerkschaft und der KPD maßgeblich beteiligt. Zwei weitere Koblenzer Mitglieder der Beratenden Landesversammlung waren Maria Detzel (1892 – 1965, SPD) und Helene Rothländer (1890 – 1976, CDP, später CDU). Beide gerieten nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 als ehemalige Mandatsträgerinnen für die SPD bzw. das Zentrum in das Fadenkreuz der Nazis. Im Rahmen der „Aktion Gewitter“ wurden sie mehrere Wochen im Koblenzer Gefängnis inhaftiert.
In die zum 1. Dezember 1946 gebildete Vorläufige Landesregierung schaffte es kein Koblenzer NS-Opfer. Einer, der den „Schwur von Buchenwald“ abgelegt hatte, war aber Stellvertreter des Regierungspräsidenten des damaligen Regierungsbezirks Montabaur, Alfred Knieper (1909 – 1973). Der Höhr-Grenzhausener Kommunist Knieper war nach der Machtübernahme der Nazis wiederholt und zuletzt 11/2 Jahre im Konzentrationslager Esterwegen inhaftiert. Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nach seiner Befreiung dort begann er eine Karriere als höherer Verwaltungsbeamter und war aktiv am Aufbau der KPD und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) beteiligt.
Am 18. Mai 1947 fand die Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf der Beratenden Landesversammlung statt. Gleichzeitig wählten die Rheinland-Pfälzer ihr erstes Parlament. Die rund 1,6 Millionen Wahlberechtigten bestimmten – nach einer Nachwahl - 101 Abgeordnete. Es entfielen auf die CDU 48, auf die SPD 34, auf die KPD 8, auf die Liberaldemokratische Partei (LP) 7 und auf den Sozialen Volksbund (SV) 4 Mandate. Der Landtag konstituierte sich am 4. Juni 1947 im großen Saal des Rathauses in Koblenz. Nachdem der zunächst gewählte Ministerpräsident Dr. Boden (CDU) dem Parlament kein mehrheitsfähiges Kabinett präsentieren konnte und zurücktrat, wurde der Koblenzer Peter Altmeier (CDU) zum Ministerpräsidenten gewählt. Er bildete zunächst eine Allparteien-Regierung. Mit dem 18. Mai 1947 ging der knapp neunmonatige – von der Verkündung der Verordnung Nr. 57 vom 30. August 1946 gerechnet - Gründungsprozess des Landes Rheinland-Pfalz zu Ende. Die Geschichte von Rheinland-Pfalz hatte begonnen.
Für die Widerstandskämpfer und andere NS-Opfer war diese Geschichte unter den Bedingungen des Kalten Krieges aber vielfach enttäuschend. Vor allem die Kommunisten wurden systematisch aus dem Neu- und Wiederaufbau ausgeschlossen. Schon im Jahr 1950 wurden sie mit dem „Adenauer-Erlass“ mit etwa 10.000 Berufsverboten aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Das ein Jahr später erlassene politische Strafrecht führte zu 125.000 Ermittlungsverfahren gegen und über 7.000 Verurteilungen von Kommunisten und Mitgliedern der Friedensbewegung. Die letzten Kommunisten wurden durch das Verbotsverfahren gegen die KPD und das 1956 verhängte Verbot mundtot gemacht. Im Zuge des Adenauer-Erlasses musste Alfred Knieper den Landesvorsitz in der VVN niederlegen und aus der KPD austreten; nur mit großer Mühe gelang es ihm, Beamter zu bleiben. Gegen Hugo Salzmanns Sohn lief ein Ermittlungsverfahren nach dem politischen Strafrecht und seine Lehre bei der Stadtverwaltung war gefährdet. Hugo Salzmann verlor nach dem KPD-Urteil sein Stadtratsmandat und ihm drohte die Aberkennung von Entschädigungsleistungen für die erlittene Verfolgung. Gerade die Kommunisten mussten ihrer Gesinnung abschwören oder sie verbergen, für die sie jahrelang in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern eingekerkert und schon damals mundtot gemacht wurden.
Demgegenüber eröffnete das 1951 zu Artikel 131 des Grundgesetzes erlassene 131er-Gesetz ehemaligen Beamten und Richtern, die „infolge der Kriegseinwirkungen beschäftigungslos“ geworden waren, einen Wiedereinstellungsanspruch. Danach konnten auch die durch die Entnazifizierung aus ihren Ämtern entlassenen ehemaligen NS-Beamten und NS-Richter – sofern sie nicht als „Hauptschuldige“ oder „Schuldige“ eingestuft wurden - auf ihre Posten zurückkehren und weiter Karriere machen. Kritiker kommentierten das damals mit den Worten: „Die 131er überrunden die 45er.“
Die vergangenen 70 Jahre sind nach dem schwierigen Anfang dann zu einer Erfolgsgeschichte unseres Landes geworden, die wir am Verfassungstag – dem 18. Mai – dieses Jahr mit dem 70. Geburtstag zu recht in einem großen Rahmen feiern.
Update 19. Mai 2017:
Lesen Sie HIER noch den Artikel von Joachim Hennig über "Die Arbeit und Abstimmung der Beratenden Landesversammluing" in: Blick aktuell - Ausgabe Koblenz - Nr. 19 vom 11. Mai 2017, Seite 46
sowie HIER den abschließenden Artikel desselben Autors "Volksabstimmungen und Wahl zum 1. Landtag" in: Blick aktuell - Ausgabe Koblenz - Nr. 20 vom 18. Mai 2017, Seite 10