Der 27. Januar 2003
(Hinweis: Diese Webseite ist erst 2005 entstanden - Sie lesen hier über frühere Vereinstätigkeiten)
Unser Förderverein hatte schon sehr früh die Idee, eine Ausstellung zum Thema „Verfolgung und Widerstand in Koblenz (und Umgebung) 1933 – 1945“ zu initiieren. Nach Gesprächen mit Vertretern der drei in Koblenz ansässigen Archive (Stadtarchiv, Landeshauptarchiv und Bundesarchiv) mussten wir aber im Jahr 2000 ein solches Projekt aus Kostengründen aufgeben.
Ganz war die Idee aber nicht gestorben. Wachgehalten wurde sie durch die Beteiligung von Joachim Hennig an der Erarbeitung des regionalen Teils zur Wanderausstellung „Standhaft trotz Verfolgung. Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ im Mai 2001 und die Präsentation der Ausstellung der Stiftung Scheuern „… vergiss mich nicht und komm …“ über die Krankenmorde der NS-Euthanasie“ am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Scheuern zum Gedenktag am 27. Januar 2002.
Daraus entstand das Konzept, zum nächsten Gedenktag, dem 27. Januar 2003, eine Wanderausstellung in Koblenz zu präsentieren und sie durch einen regionalen Teil zu ergänzen. Gedacht, getan. Zum Gedenktag am 27. Januar 2003 zeigten wir die Wanderausstellung des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 1945 mit dem Thema „Frauen im Konzentrationslager 1933 – 1945. Moringen – Lichtenburg – Ravensbrück“. Zu der Ausstellung erarbeitete Joachim Hennig eine Koblenzer Ergänzung. In dieser porträtierte er 12 Frauen aus Koblenz und Umgebung, die ebenfalls in den Konzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück inhaftiert waren.
Diese Ausstellung verband unser Förderverein dann mit den bisherigen Veranstaltungen zum 27. Januar, mit der Statio am Mahnmal und der Gedenkstunde mit christlich-jüdischem Gebet in einer Innenstadtkirche, und einem Beiprogramm zu einer kleinen Veranstaltungsreihe.
Lesen Sie HIER die Ankündigung dazu in der Rhein-Zeitung vom 17. Januar 2003.
Der Gedenktag begann mit der Statio am Mahnmal. Dort standen die 12 Frauen im Vordergrund des Erinnerns, deren Porträts Joachim Hennig im regionalen Teil der Ausstellung erarbeitet hatte. Daran schloss sich die Gedenkstunde mit dem das christlich-jüdischen Gebet in der Liebfrauenkirche an.
Lesen Sie HIER den Bericht in der Rhein-Zeitung vom 28. Januar 2003.
Zum Abschluss des Gedenktages eröffnete unser Förderverein die Wanderausstellung des Studienkreises Deutscher Widerstand „Frauen im Konzentrationslager 1933 – 1945. Moringen – Lichtenburg – Ravensbrück“. In dieser werden auf ebenso vielen einzelnen Tafeln 51 Frauen aus Deutschland, Polen, Tschechien u.a. porträtiert, die in diesen Frauen-Konzentrationslagern inhaftiert waren. Dazu erarbeitete Joachim Hennig Porträts von insgesamt 12 Frauen aus Koblenz und Umgebung, die ebenfalls in den Frauen-Konzentrationslagern eingesperrt waren. Dabei lehnte er sich – natürlich mit Erlaubnis des Studienkreises Deutscher Widerstand – an das Layout der Wanderausstellung an. Dies machte es möglich, die 12 einzelnen Personentafeln von Frauen kostengünstig durch einen örtlichen Copyshop – und nicht durch ein Grafikbüro – herstellen zu lassen. Unter den 12 Biografien war auch die von Anna Speckhahn, der mutigen Frau aus dem Rauental, die für die Pfarrgemeinde St. Elisabeth der Anstoß zur Gründung unseres Fördervereins war.
Zur Eröffnung der Ausstellung im Haus Metternich in Koblenz hielt Joachim Hennig die nachfolgend dokumentierte Rede:
Einführung in die Ausstellung
„Frauen im Konzentrationslager 1933 – 1945 Moringen – Lichtenburg – Ravensbrück“
und ihre Koblenzer Ergänzung
am 27. Januar 2003 von Joachim Hennig
Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach der „Statio“ am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz und nach dem Gedenkgottesdienst in der Liebfrauenkirche kommen wir zum dritten Teil der heutigen Veranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus, der Ausstellung „Frauen im Konzentrationslager 1933 – 1945. Moringen – Lichtenburg – Ravensbrück“ und ihrer Koblenzer Ergänzung.
Die Namen Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück stehen beispielhaft für die Verfolgung von Frauen im Nationalsozialismus. Es sind die Namen von Frauen-Konzentrationslagern, die die Nationalsozialisten nacheinander einrichteten.
Das erste dieser speziellen Konzentrationslager für Frauen war das KZ Moringen bei Göttingen. Es entstand aus dem „Interesse“ der Nazis heraus, politische Gefangene längerfristig in „Schutzhaft“ zu halten. Die ersten Frauen trafen dort am 3. Juni 1933 ein – gerade vier Monate nach der sog. Machtergreifung, die sich in wenigen Tagen zum 70. Mal jährt. Es begann mit zwei Frauen, den Kommunistinnen Marie Peix und Hannah Vogt. In der Folgezeit wurde Moringen das zentrale KZ für Frauen in Preußen. Im November 1937 waren in Moringen schon 446 Frauen inhaftiert.
Bald darauf wurde ein neues Konzentrationslager eingerichtet, das Frauen-KZ Lichtenburg bei Prettin an der Elbe. Am 15. Dezember 1937 verschleppte man 200 Frauen aus Moringen nach Lichtenburg, am 21. Februar 1938 folgten 150 Frauen und am 21. März 1938 noch einmal 168. Das KZ Lichtenburg bestand dann bis Mai 1939. Bei dessen Auflösung waren etwa 1.000 weibliche Gefangene inhaftiert. Den größten Anteil bildeten die „Ernsten Bibelforscherinnen/-Zeuginnen Jehovas“ mit 386 Häftlingen. 240 Gefangene waren als sog. Asoziale und 119 als „Kriminelle“ stigmatisiert. 114 waren „politische Gefangene“ und 98 Frauen waren wegen „Rassenschande“ inhaftiert.
Viele der politischen Gefangenen hatten wegen ihrer Arbeit im Widerstand zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1939 bereits eine mehrjährige Strafe verbüßen müssen. Eine von ihnen war die Kommunistin Anneliese Hoevel. Sie war seit September 1933 bis auf eine Unterbrechung von einem halben Jahr in Haft. Zunächst war sie in „Schutzhaft“ in Moringen, dann drei Jahre im Zuchthaus. Von dort aus überführte man sie unmittelbar wieder ins KZ Moringen. Am 15. Dezember 1937 kam sie mit der ersten Gruppe von Frauen „auf Transport“ ins neu eingerichtete KZ Lichtenburg. Am 20. April 1939 (am sog. Geburtstag des „Führers“) wurde sie aus dem KZ entlassen. Sie ging dann zu ihrem Ehemann André nach Berlin und kurz darauf mit ihm nach Koblenz. Ende 1941 verhaftete die Gestapo beide hier in Koblenz. Sodann wurden sie wegen Abhörens ausländischer Sender und der Diskussion im kleinen Kreis über den Krieg zum Tode verurteilt und im Gefängnis Frankfurt/Main-Preungesheim hingerichtet. An beide Widerstandskämpfer erinnert heute hier in Koblenz die Hoevelstraße.
Während Anneliese Hoevel aus dem KZ Lichtenburg entlassen wurde, wurden einen Monat später 867 Häftlinge von dort nach Ravensbrück in die Nähe des mecklenburgischen Städtchens Fürstenberg transportiert, um das Frauen-KZ Ravensbrück aufzubauen.
Im Frühjahr 1939 wurde das KZ Ravensbrück mit etwa 1.000 Frauen „in Betrieb“ genommen. Bis zur Befreiung Ende April 1945 mussten dort ca. 130.000 Frauen zusammengepfercht und unter großen Leiden leben und viele von ihnen sterben. Es waren Frauen aus 23 Nationen, Frauen jüdischer Herkunft, Frauen aus dem Volk der Sinti und Roma, Frauen, die für eine politische Idee standen und für ihren Glauben eintraten, Frauen aus dem deutschen Widerstand, Frauen aus den von Nazi-Deutschland besetzten und unterworfenen Ländern. Alles in allem ca. 130.000 Frauen allein im KZ Ravensbrück – und angefangen hatte alles mit zwei Kommunistinnen Anfang Juni 1933 im KZ Moringen.
„Schwestern, vergesst uns nicht, vergesst nicht die Toten von Ravensbrück, damit die Tränen, die die Frauen geweint, die Qualen, die sie gelitten, ihre schreckliche Angst und ihr Sterben nicht umsonst waren.“ So beginnt das Vermächtnis der Frauen von Ravensbrück. Wir sind heute auf das Vermächtnis der Toten, auf die Erinnerung und Überlieferung der Überlebenden angewiesen. Nur so bleibt das Grauenvolle, das Menschen Verachtende des NS-Regimes lebendig. Doch viele Fragen bleiben ohne Antwort, werden immer ohne Antwort bleiben. Es ist und bleibt unvorstellbar, wie Frauen „durch Arbeit vernichtet“ wurden, wie sie für sinnlose medizinische Experimente missbraucht und getötet wurden, wie ihre Kinder, die in diese Hölle hineingeboren und noch kaum angefangen hatten zu leben, unschuldig zu Tode gequält wurden.
Erfahrbar wird das unendliche Leid der dort inhaftierten Frauen näherungsweise für uns heute allenfalls anhand von Lebensbeschreibungen, von Biografien verfolgter Frauen. Dieser Aufgabe hat sich die vom Studienkreis Deutscher Widerstand in Frankfurt am Main erarbeitete Ausstellung angenommen. Sie stellt insgesamt 51 Frauen dar, die aus unterschiedlichen Gründen und aus mehreren Ländern in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück inhaftiert waren. Eine dieser Frauen ist Anneliese Hoevel.
Neben diesen Ausstellungstafeln werden hier vom Studienkreis auch Handarbeiten und andere Gegenstände gezeigt, die von den Frauen im KZ unter schwierigsten Bedingungen angefertigt wurden. Sie finden diese in der Vitrine dort drüben. Außerdem liegen neun Lesemappen zu bestimmten Themen bereit, wie „Die Würde bewahren, Solidarität und Widerstand“, „Medizinische Experimente“, „Zwangsprostitution“ u.a.m.
Die Ausstellung des Studienkreises war für mich Anstoß, über im KZ verfolgte Frauen aus Koblenz und Umgebung einen regionalen Teil zu erarbeiten. Ich habe – zum Teil auch mit Hinweisen anderer mit dieser Thematik beschäftigter Personen - 12 Lebensbilder von Frauen aus Koblenz und Umgebung erstellt, die in Moringen und Lichtenburg vor allem aber in Ravensbrück inhaftiert waren. Diese Frauen, von denen einige auch hier in Koblenz lebten, wurden zum ganz überwiegenden Teil in Koblenz durch Gestapo und Gerichte verfolgt und von Koblenz aus in die Konzentrationslager verschleppt. Der Anlass für die Nazis, sie zu verfolgen, war vielfältig: Teils war es ihre politische Gesinnung oder ihr christlicher Glaube, teils ihre andere „Rasse“, manchmal ihre Nonkonformität, ihr widerständisches Verhalten, ihre Arbeitsverweigerung oder ganz generell ihr Anderssein. Die älteste dieser ins KZ verschleppten Frauen war 67 Jahre alt, die jüngste 19.
Biografiert werden die bereits bei der „Statio“ am Mahnmal genannten Frauen. Um diesen Frauen, die im KZ nur als Häftlingsnummer existierten, ihren Namen zurückzugeben, seien sie hier noch einmal genannt. Dabei freue ich mich, dass Angehörige dieser Frauen und ihrer Opfergruppe unter uns weilen. Ihnen allen gilt ein ganz spezielles „herzlich Willkommen“. Diese 12 Frauen sind:
- Die bereits erwähnte Kommunistin Anneliese Hoevel. Ein Neffe von Anneliese Hoevel, Herr Ernst Heep, ist mit seiner Familie unter uns.
- Die Schönstätterin Charlotte Holubars.
- Die weitere Schönstätterin Maria Hilfrich. Die Erinnerung an diese Schönstätterinnen wird von der Schönstatt-Bewegung seit vielen Jahren gepflegt. Unter uns hier erkenne ich auf Anhieb gleich mehrere Frauen von der Schönstatt-Bewegung.
- Die Zeugin Jehovas Auguste Schneider.
- Die weitere Zeugin Jehovas Johanna Müller. Auch die Zeugen Jehovas halten inzwischen die Erinnerung an ihre Glaubensschwestern wach. Wenn ich mich umsehe, erkenne ich ebenfalls einige Zeugen Jehovas unter uns.
- Die Jüdin Hilde Emmel.
- Die weitere Jüdin Selma Grünewald. Auch von Frau Grünewald weilt eine Verwandte unter uns.
- Die Pfarrerstochter Elisabeth Müller. Einen sehr viel weiteren Weg als die bisher erwähnten Gäste hatte die Nichte von Elisabeth Müller. Frau Margarete Müller, ist eigens zu der heutigen Veranstaltung aus Baden-Baden angereist. Begleitet wird sie von ihrer Tochter, Frau Veronique Henn.
- Julianna Salzmann, die Ehefrau eines kommunistischen Gewerkschafts-funktionärs.
- Die katholische Frau und Mutter Anna Speckhahn.
- Die angeblich schwachsinnige und sog. asoziale Maria K.
- Und schließlich die noch lebende Zeitzeugin Gertrud Roos. Frau Roos wäre trotz ihres Leidens sehr gern ebenfalls heute gekommen. Eine wichtige Familienfeier, die sie nicht absagen konnte, hat sie aber daran gehindert.
Diese 12 Frauen werden – abgesehen von Anneliese Hoevel – erstmals auf Ausstellungstafeln biografiert. Zudem habe ich für jede Frau eine Lesemappe erstellt, in der weitere Informationen zu den einzelnen Schicksalen enthalten sind.
Ergänzt wird dieser Koblenzer Teil durch einen Anhang zum Thema „Flußbach“. „Flußbach“ war ein Frauenstraflager in der Nähe von Wittlich. In ihm waren von 1942 bis 1944 etwa 2.000 Frauen inhaftiert. Viele von ihnen sind nach Ravensbrück verschleppt worden.
Diese regionale Ergänzung der Ausstellung konnte durch die finanzielle Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung und des Ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend Rheinland-Pfalz erarbeitet werden. Realisiert wurden die Tafeln wie auch die sie ergänzenden Lesemappen von der Firma Copy Print Service (CPS). All diesen und anderen ungenannt gebliebenen Personen und Institutionen danke ich namens des Fördervereins für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz sehr herzlich. Wir hoffen, dass wir Ihnen eine beeindruckende Ausstellung über „Frauen im Konzentrationslager“ einschließlich des regionalen Teils vorstellen können.
Wollen wir uns jetzt das Ergebnis gemeinsam ansehen! Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit."
Lesen Sie HIER den Bericht in der Rhein-Zeitung vom 28. Januar 2003 über die Ausstellungseröffnung.
Nach der Ausstellung wurde der Ausstellungsmacher Joachim Hennig vom (Koblenzer) Stadt-Anzeiger interviewt. Lesen Sie HIER das Interview im Stadt-Anzeiger vom 29. Januar 2003.
Begründung der Dauerausstellung unseres Fördervereins über NS-Opfer aus Koblenz und Umgebung.
Die als regionaler Teil zur Wanderausstellung „Frauen im Konzentrationslager 1933-1945“ erarbeiteten 12 Personentafeln mit Biografien von verfolgten Frauen aus Koblenz und Umgebung nahm unser Förderverein dann zum Anlass, unsre Dauerausstellung zu begründen. Um von vorn herein die Vielfalt und Breite der Verfolgung und des Widerstandes in Koblenz und Umgebung zu dokumentieren, erarbeitete Joachim Hennig noch fünf weitere Biografien mit Schicksalen von Männern und einer Familie.
Diese 17 Personentafeln wurden dann unsere Dauerausstellung von NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung. Die Schirmherrin der Dauerausstellung wurde Frau Gunhild Schulte-Wissermann, die Ehefrau des damaligen Oberbürgermeisters Dr. Eberhard Schulte-Wissermann. Frau Schulte-Wissermann war uns und dem Thema spätestens durch die Vorträge von Joachim Hennig bei der Volkshochschule Koblenz verbunden, die sie viele Jahre besuchte. Die Ausstellung eröffneten wir mit unserer Schirmherrin am 13. Mai 2003 im Medienladen im Kurt-Esser-Haus am Hauptbahnhof. Mit wechselnden Ausstellungsteilen konnten wir diese bis Ende 2015 dort präsentieren.
Lesen Sie dazu HIER den Bericht in „Der Weg“ vom 25. Mai 2005
und in der Rhein-Zeitung vom 17./18. Mai 2003
Die Familie Mohr aus Irlich als "Sippenhäftlinge"
Auch in diesem Jahr schrieb Joachim Hennig wieder einen Aufsatz für das Heimat-Jahrbuch des Landkreises Neuwied. Diesmal berichtete er über NS-Opfer, die nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler als „Sippenhäftlinge“ in das Fadenkreuz der Nazis kamen. Der Titel des Aufsatzes war: “’Sie kommen mit dem Schiff zurück.’ Die Familie Mohr aus Irlich als ‚Sippenhäftlinge’“.
Lesen Sie HIER die Textversion:
Sie kommen mit dem Schiff zurück!“ Die Familie Mohr aus Irlich als „Sippenhäftlinge“
von Joachim Hennig
„Sagen Sie bitte, Herr Mohr, wie war das damals, als die Gestapo zu Ihnen nach Irlich kam und ihre Angehörigen verhaftete?“ Nicht schlecht erstaunt war der heute in einem Dorf bei Meisenheim am Glan lebende Steuerbevollmächtigte Dr. Martin Mohr, als ihm diese Frage vor einigen Wochen gestellt wurde, lagen doch zwischen dieser und dem erfragten Ereignis inzwischen fast 60 Jahre – zwei Generationen und zudem wichtige, ja entscheidende Jahre deutscher Geschichte.
Für Martin Mohr sind die damaligen Ereignisse nicht Geschichte. Sie sind vergangen, aber auf Nachfrage erstaunlich schnell gegenwärtig. Sie sind ein Stück eigener Biografie. Martin Mohr ist ein Zeitzeuge, eine der wenigen noch lebenden Personen, die ein wichtiges Stück Geschichte hautnah erlebt haben und bereit sind, andere daran teilhaben zu lassen, damit sich das, was seine Familie und auch er erlebt und erlitten haben, nicht wiederholt. Der heute 72-Jährige in Irlich geborene Mohr öffnet dem Fragenden nicht nur sich selbst und sein Gedächtnis, sondern auch Schubladen und Mappen. Nur wenig später ist man durch seine Erzählung und seine Dokumente in diese Zeit zurückversetzt. Dies alles, und was man dazu sonst gelesen und gehört hat, fügt sich zu einer Heimatgeschichte ganz eigener Art zusammen:
Irlich, im Jahre 1944: Seit vielen Jahren lebt hier der Werkzeugmacher Josef („Sepp“) Mohr mit seiner Frau Katharina („Käthe“), geb. Schmaus, und ihrem 1929 geborenen Sohn Martin. Sepp Mohr stammt aus dem Fränkischen, aus Nürnberg, ist aber längst in Irlich heimisch geworden. Sie wohnen im Haus des Vaters bzw. Schwiegervaters Schmaus in der Flurstraße 12 (heute: Teutonenstraße). Der Vater Sepp ist bei der Firma Winkler & Dünnebier in Neuwied beschäftigt, die Mutter Käthe ist Hausfrau. Zum Haushalt gehört auch ihr Vater; der Sohn Martin geht zur Schule, so lange das unter den Kriegsverhältnissen möglich ist. Es sind auch die Kriegsverhältnisse, die den Haushalt der Mohrs um zwei weitere Personen, um Sepp Mohrs Schwester, Therese Kaiser, und deren Tochter Elisabeth, vermehren. Beide leben eigentlich in Köln-Klettenberg, aber seitdem die Bombenangriffe der Alliierten auf Köln immer schlimmer werden, ist Therese Kaiser zu Bruder und Schwägerin nach Irlich gezogen und auch ihre ältere Tochter Elisabeth ist häufiger in Irlich. Hier auf dem Land glauben sie sich sicherer. Für den kleinen Martin ist dies eine Bereicherung. Denn er schätzt seine Patentante Therese sehr. Wenn sie auch äußerlich bisweilen etwas streng wirkt, so ist sie doch sehr gütig und liebevoll. Und selbst die inzwischen erwachsene Cousine Elisabeth findet in diesem Frühjahr 1944 Gefallen an Irlich. In einem Brief vom 16. Mai 1944 schreibt sie: „Mutter geht es sehr gut in Irlich. Sie hat sich erholt, trotzdem sie natürlich Tante auch hilft. Zum Nähen hat sie ja dort auch Muße und Zeit. Überhaupt bin ich von Irlich regelrecht begeistert. Und früher bin ich nur mit Abneigung hingefahren. Ja, man ändert sich. Das heißt die Welt ändert sich und dadurch unsere Einstellung zu ihr. – Samstag haben wir den Gang zu dem alten Friedhof gemacht... Es war ein unglaublich schöner Weg, der uns dorthin führte. Der Rhein lag wie ein See in seine Berge gebettet. Ich meine, der Friedhof wäre noch schöner geworden. Nun ja, diesmal haben wir ja Mai. Wie der schönste Blumengarten mit den märchenhaftesten Farben breitete er sich um die alte Kirche. Jedes Grab sprach von liebevoller Pflege und Sorgfalt. Wir haben auch nicht ein einziges gefunden, das nicht ein Schmuck für den Friedhof war, der von Fliedersträuchen und alten Linden- und Eichenbäumen noch vervollkommnet war. Sonntag war das Wetter leider nicht besonders. Morgens bin ich mit Martin über die Höhen gestreift. Er hat viel Sinn für den Wald und hat mir manches nett erklärt, aber dann schlagen wieder seine Lausbubeneinfälle durch, so dass wir ordentlich ausgetollt und ausgelassen zum Mittagessen kamen.“ - Alles in allem fast ein Idyll in schwerer Zeit. Was ist es, so fragt man sich, was ihr Schicksal berichtenswert macht?
Es ist die Ehe Therese Kaisers mit ihren Folgen für sie und ihre Angehörigen in Irlich. Verheiratet ist sie – wenn sie auch seit längerem nicht mit ihrem Ehemann zusammen lebt – mit dem Gewerkschafter und Zentrumspolitiker Jakob Kaiser (1888 – 1961), der im Zuge der Ermittlungen gegen die „Verschwörer des 20. Juli 1944“ ins Fadenkreuz Hitlers und seiner zahlreichen Helfer gerät.
Seit 1906 war er – von Beruf Buchbinder – Mitglied der christlichen Gewerkschaften. Bald wurde er Mitglied der Zentrumspartei und hauptamtlich für die christlichen Gewerkschaften tätig. 1918 heiratete er dann seine Frau Therese. In der Weimarer Republik war er stellvertretender Vorsitzender der rheinischen Zentrumspartei und Mitglied des Reichsvorstands. Ab 1924 führte er die christlichen Gewerkschaften im Rheinland und in Westfalen. Er wohnte und arbeitete in Köln. Im März 1933 wurde er noch kurzzeitig Abgeordneter des Reichstages. Obwohl er mit der gesamten Zentrumsfraktion dem so genannten Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 zustimmte, widersetzte er sich doch Anfang Mai 1933 der Unterstellung der christlichen Gewerkschaften unter den Befehl Hitlers. Mehrere Haftbefehle ergingen gegen Kaiser, er konnte sich ihnen aber entziehen. Zunächst noch in Köln wohnend, entwickelte Kaiser zusammen mit dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer und Politiker Wilhelm Leuschner (1890 - 1944) und dem Deutschnationalen Max Habermann (1885 - 1944) in der NS-Zeit Pläne für eine zukünftige Einheitsgewerkschaft. Auch nach einer Schutz- und Untersuchungshaft in Düsseldorf von April bis Oktober 1938 wegen des Verdachts von Hoch- und Landesverrat blieb er im Widerstand und hatte später Kontakt zu Carl Goerdeler, dem „zivilen Kopf“ des Widerstands. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 konnte Kaiser - anders als Leuschner und Habermann - der Gestapo entkommen und in Berlin untertauchen.
Berlin/Irlich, Ende Juli/Anfang August 1944: Die Ereignisse überschlagen sich. Die Sekretärin Jakob Kaisers, Elfriede Nebgen, wird in Berlin wiederholt von Gestapobeamten verhört. Man will Näheres über Kaiser wissen, insbesondere, wo er sich zurzeit aufhält. Andeutungen, die Kaiser in Zusammenhang mit dem Attentat bringen, zeigen, wie brisant die Lage ist. Ohne dies zu wissen, fährt Jakob Kaiser am 1. August nach Westen, um seine Familie zu sehen. Die Tochter Elisabeth ist zur gleichen Zeit nach Berlin gereist. Sie verpassen sich, Elisabeth reist ihm aber hinterher. Beide treffen sich bei Freunden in Bonn und fahren zusammen nach Irlich. Das Wiedersehen mit Frau und Tochter ist kurz. Die Nachrichten aus Berlin, die er von Elisabeth erhält, machen ihn misstrauisch und voller Unruhe. Bereits am 3. August verlässt Kaiser Irlich. Seine Frau und Tochter begleiten ihn nachmittags noch nach Koblenz und nehmen von ihm auf dem Bahnsteig Abschied. Schon am nächsten Tag ist die Gestapo in Irlich und sucht nach Jakob Kaiser. Da man ihn nicht findet, nimmt man seine Frau und seine Tochter Elisabeth fest. Persönlich kann man den beiden nichts vorwerfen, selbst die Nazis finden keinen noch so fadenscheinigen Vorwand für ihre Inhaftierung. Deshalb kommen sie in „Sippenhaft“. „Sippenhaft“ ist ein Begriff aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Er bezeichnet die (strafrechtliche) Verantwortlichkeit, Einstandspflicht, „Haftung“ von Angehörigen eines „Täters“ für die ihm zur Last gelegten Taten. Es ist die Wahnidee der Nazis, die Widerständler des 20. Juli 1944 „bis ins letzte Glied“ zu verfolgen, sich an deren Familien zu „rächen“ und die Widerständler – sofern sie in Freiheit waren – dadurch zur Aufgabe zu zwingen.
Koblenz, Spätsommer 1944: Therese Kaiser und ihre Tochter Elisabeth kommen zunächst ins Gefängnis Neuwied. Dann werden sie nach Koblenz ins Stadtgefängnis verlegt. Dort sind sie drei Monate in der Karmeliterstraße („Karmelitergefängnis“) in Haft. Sie wissen nichts vom Schicksal ihres Mannes und Vaters und müssen selbst um ihr Leben fürchten. Die Schwägerin Käthe versorgt sie aber auch in dieser schweren Zeit. Zu Fuß legt sie den Weg von Irlich nach Koblenz zurück und bringt den beiden frische Wäsche ins Gefängnis. Gleichwohl empfindet Elisabeth - wie sie später berichtet - diese Zeit als außerordentlich schwer, was wohl damit zusammenhängt, dass sie in einer Gemeinschaftszelle mit anderen Frauen zusammenleben muss, die ganz anders sind als sie: „Am schwersten ... war für mich die Zeit in Koblenz. Wir hatten gutes Essen dort. Die Leitung des Hauses lag in katholischen Händen. Die Vorsteherinnen waren gut, aber entsetzlich ängstlich. Wir lebten mitten unter den Frauen, alles ganz junge, die man auf der Straße aufgelesen hatte. Für eine kurze Zeit ist es gewiss ganz interessant, einmal unter diesen Menschen als ihresgleichen zu leben... Aber besser ist es, allein in einer Zelle zu sein und Hunger zu haben, aber dafür dir selbst zu gehören.“
Koblenz, Anfang November 1944. Die alliierten Bombenangriffe auf Koblenz nehmen zu und zerstören das Stadtgefängnis. Dies und das sich daran anschließende Chaos nehmen Therese Kaiser und ihre Tochter Elisabeth zum Anlass zu fliehen. Sie kehren zu ihren Angehörigen nach Irlich zurück. Um aber nicht als Flüchtige zu erscheinen, melden sie sich der guten Ordnung halber polizeilich in Irlich an.
Irlich, 27. November 1944. Zu Mittag deckt Käthe Mohr den Tisch für fünf Personen: für ihre Schwägerin Therese Kaiser, ihre Nichte Elisabeth, für den Sohn Martin, für ihren Vater und für sich selbst. Martin schaut schon herein, er ist aber zu früh. Er geht noch – die Jagd ist seine Leidenschaft – Spatzen schießen. Als er wenig später zurück kommt, ist die scheinbare Idylle zerstört: Die Gestapo ist im Haus und begegnet ihm, der er ein Gewehr in der Hand hält, besonders misstrauisch. Die Gestapoleute nehmen ihm sogleich das Gewehr ab. Prekär ist die sich anschließende Hausdurchsuchung. Denn der handwerklich geschickte Vater hatte eine Ölpresse gebaut und diese darf nicht in die Hände der Gestapo fallen, sonst droht ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Kriegswirtschaftsgesetz. So schleppt der Junge mit seiner Mutter die schwere Presse von einem Raum in den anderen, ohne dass die Gestapobeamten sie entdecken.
Wenn sie der Gestapo wegen der Ölpresse auch ein „Schnippchen“ schlagen können, so trifft die Familie Mohr dann doch die Willkür der Nazis. Tante Therese, die Cousine Elisabeth und Mutter Käthe werden von den Gestapobeamten festgenommen. Verschont bleiben nur der 60 Jahre alte Großvater und der 15-Jährige Martin selbst. Sogar den Vater Sepp holt die Gestapo noch auf seiner Arbeitsstelle bei der Firma Winkler & Dünnebier ab. Alle vier Festgenommenen werden nach Altwied gebracht. Dort sind sie zusammen mit anderen Personen auf dem Hof der Burg in einer Baracke des Reichsarbeitsdienstes untergebracht. In den Verhören versuchen die aus Berlin angereisten Gestapobeamten Näheres über Jakob Kaiser und seinen Aufenthalt in Erfahrung zu bringen. Martin Mohr erinnert sich noch, wie er seine Angehörigen in Altwied Ende November besucht hat. Er hat ihnen Bonbons mitgebracht, die er von seinem Arbeitseinsatz hat abzweigen können.
Altwied, 2. Dezember 1944. Anfang Dezember erfährt die Familie, dass die Inhaftierten von der Gestapo nach Berlin verbracht werden. Dazu werden sie auf einen Lkw verfrachtet, den man vorher mit einem Ballen Stroh notdürftig hergerichtet hat. Drei Tage sind sie unterwegs und kommen völlig durchnässt in der Hauptstadt an. Die Frauen - Therese Kaiser, Tochter Elisabeth und Käthe Mohr - kommen in Einzelhaft ins Frauengefängnis nach Moabit, Sepp Mohr wird in das Gestapogefängnis in der Lehrter Straße gebracht. Es folgen pausenlose Verhöre, Schläge und Erniedrigungen. Die Gestapo will den Willen der Inhaftierten brechen und kündigt ihnen an: „Wir werden mit Ihnen Schlitten fahren und Sie sind die Kufen!“ - Den Willen brechen sie den Mohrs nicht. Sie verraten nichts, aber sie leiden sehr. Die Folge bei Frau Mohr ist eine vorübergehende Taubheit und eine Versteifung eines Rückenwirbels.
Berlin, Weihnachten 1944. Trotz aller widriger Umstände gelingt es den Eheleuten Mohr, jedem auf seine Art, dem Sohn Martin eine Nachricht zukommen zu lassen. Der Vater hat dem Brief ein selbst gezeichnetes Bild beigefügt, das über der Überschrift „Fröhliche Weihnachten“ ein vergittertes Zellenfenster darstellt. Überhaupt ist es das Bestreben der Mohrs, aktiv zu sein und die Zeit mit Beschäftigungen und Ablenkungen auszufüllen. Sepp Mohr etwa hat sich auf einem Stückchen Pappe einen Kalender aufgezeichnet, auf einem anderen Zettel hat er sich mit Bleistift ein Schachspiel gemalt. Käthe Mohr gelingt es, das Mitleid der Leiterin des Gefängnisses zu erwecken. Deshalb darf sie in der Gefängnisküche arbeiten, eine zudem noch nahrhafte Betätigung.
Berlin, 1. März 1945. Als sich die Russen in den letzten Kriegswochen immer mehr nähern, werden die Gefangenen aus ihren Zellen geholt. Die Anweisung lautet „Auf Transport“. Die vier Mohrs sehen sich nach Wochen der Einzelhaft endlich wieder. Mit auf Transport gehen Maria Freifrau von Hammerstein – die Ehefrau eines hohen Militärs, der inzwischen zum Gegner Hitlers geworden ist - mit Sohn und Tochter und ein Sohn Goerdelers. Sie werden mit Handfesseln durch Berlin zum Bahnhof getrieben. In Eisenbahnwaggons schickt man sie auf eine Fahrt mit unbekanntem Ziel. Damit beginnt für alle vier Mohrs eine wochenlange Odyssee.
Konzentrationslager Buchenwald, März 1945. Ihre erste Station ist das KZ Buchenwald bei Weimar. Einen Eindruck von dem, was ihnen widerfahren kann, erhalten sie gleich bei der Ankunft auf dem Bahnhof Buchenwald: Auf dem Nachbargleis kam zur gleichen Zeit ein Zug mit Gefangenen an. Als dessen Türen aufgerissen werden, fallen die ersten Toten heraus. Unterernährt und entkräftet haben sie den Transport in Viehwagen aus östlichen Konzentrationslagern nicht überlebt. Sogleich werden andere Häftlinge an den Zug befohlen, um die Leichname wegzuschaffen.
In Buchenwald stoßen sie zu den dort Internierten. Eine Anzahl Prominenter ist dort abseits des eigentlichen Lagers in einer Isolierbaracke tief im Wald versteckt. Sie war mit einer drei Meter hohen, unübersteigbaren und nicht überblickbaren Palisadenwand umgeben und von zwölf SS-Leuten bewacht. Die Mohrs treffen bei ihrer Ankunft Anfang März 1945 noch viele dieser Prominenten an: sechs Angehörige der gräflichen Familie von Stauffenberg, Mitglieder der Familie Goerdeler, den General von Falkenhausen, den Großindustriellen Fritz Thyssen mit seiner Frau, fünf Minister einer ungarischen Zwischenregierung, Angehörige des deutschen Botschafters von Hassell, Lina Lindemann, die Frau des nach dem 20. Juli 1944 tödlich verwundeten General der Artillerie Fritz Lindemann, den früheren französischen Ministerpräsidenten Léon Blum mit seiner Frau und andere mehr.
KZ Buchenwald, 1. April 1945. Als die Front immer näher rückt, verlassen die „Sippenhäftlinge“ auf Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler Buchenwald. Sie gehen unter grauenhaften Umständen weiter „auf Transport“ nach Süddeutschland. Stationen sind Regensburg und Schönberg im Bayerischen Wald. Die Häftlinge kommen in einer Schule unter und ihr Kontakt zur Bevölkerung hilft ihnen, nicht zu verhungern. Doch die Front kommt näher. Weiter geht der Transport der Häftlinge, weiter ins Ungewisse, denn die Begleitmannschaft sagt ihnen zu keiner Zeit, was mit ihnen wo geschehen soll. Schließlich erreichen sie das KZ Dachau.
KZ Dachau, 16. April 1945. Im KZ Dachau kommen sie Mitte April an. Die Verhältnisse sind niederschmetternd: Sie sehen die ausgemergelten Häftlinge des KZs, die Bluthunde und spüren die unheimliche und drückende Schwere, die von dem Konzentrationslager ausgeht. Dann werden Frauen und Männer getrennt, sie bleiben aber nur kurze Zeit im KZ. Inzwischen ist die Front der Amerikaner sehr nahe. Am 26. April 1945 verlassen die Sonderhäftlinge des „Reichsführers SS“ das KZ Dachau in Autobussen. Ihre „Fahrt ins Blaue“ – wie sie die weitere Verschleppung bitter nennen – wird fortgesetzt. Immerhin haben sie es besser als die Kolonnen von KZ-Häftlingen, die sie nachts auf der Straße überholen. Auch sie haben das KZ Dachau verlassen und schleppen sich völlig geschwächt vorwärts. Als es Tag wird, sind die Mohrs mit den anderen Sippenhäftlingen auf der Straße nach Innsbruck, der Weg führt sie in die „Alpenfestung“ der Nazis. Im Lager Innsbruck treffen sie wieder auf die Minister der ehemaligen ungarischen Regierung und außerdem auf eine Anzahl Männer, teils in KZ-Kleidung, teils in Uniform: auf den früheren österreichischen Bundeskanzler von Schuschnigg mit Frau und Kind, auf den Bürgermeister von Wien, Schmitz, auf griechische Generäle, Professoren, Minister, Schriftsteller aus Dänemark, Schweden, Lettland, Holland, der Slowakei, auf den Neffen des sowjetischen Außenministers Molotow, einige Engländer, den Bischof von Clermont, auf Generaloberst Halder, Reichsminister Schacht, Staatssekretär Pünder, auf den ..... von Schlabbrendorff, auf den Pastor der Bekennenden Kirche Niemöller u.a.m. Die Fahrt geht weiter über den Brenner. Dann sind sie in Südtirol, im Pustertal.
Pustertal, 27. April 1945: Die insgesamt 160 „Sippenhäftlinge“ und andere Geiseln erreichen mit den 60 Mann Bewachung Niederdorf. Ihre beabsichtigte Unterbringung im Hotel Prags am Wildsee verzögert sich. Die deutsche Wehrmacht sorgt aber wenig später für die Räumung des Hotels und nimmt sich der Häftlinge an. Sie ist es auch, die die Begleitmannschaft ohne Widerstand entwaffnet und abführt. Damit ist die prekäre Lage entspannt. Die Häftlinge können sich im Hotel frei bewegen, sie erhalten auch ausreichend Verpflegung. Endgültig frei sind sie, als die alliierten Truppen am 3. Mai 1945 bei ihnen eintreffen.
Hotel Prags am Wildsee, Anfang Mai 1945: Hier kommt die große Stunde der Eheleute Mohr. Sie beide organisieren die Versorgung und Verpflegung der Häftlinge im Hotel Prags am Wildsee. Das ist nach den Monaten der Haft, der erniedrigenden Behandlung und Ungewissheit eine schwere Aufgabe, die sie auf sich nehmen. Denn wie gelingt es, eine Hotelküche mit bescheidenen Vorräten so zu betreiben, dass die verbliebenen 136 Häftlingen nach all den Strapazen und Entbehrungen angemessen versorgt werden? Die Mohrs schaffen es. Von ihrem Tun kündet eine kleine Kladde, in die ihre Mithäftlinge und Gäste im Hotel ihren Dank hineingeschrieben haben. Es ist ein richtiges „Dankebüchlein“, in dem sich zu Ehren der Eheleute Mohr damals und zum Teil auch heute noch klangvolle Namen verewigt haben.
Es beginnt mit der Widmung von Pastor Martin Niemöller: „Herrn Josef Mohr und seiner verehrten Gattin sei dies stets eine Erinnerung an ihren Hauseltern- und Küchendienst zum Wohl von über 130 verschleppten Gestapohäftlingen im Hotel Wildsee-Prags/Südtirol.“- Und Käte Gudzent fährt fort: „Der Mohr und die Mohrin haben mehr, viel mehr als ihre Schuldigkeit getan! Tausend Dank!“ Und Eberhard von Hofacker: „Der ‚Küchenjunge’ dankt gehorsamst dem ‚Chefehepaar’ für seine große Mühe und aufopferungsvolle Hingabe im Dienst der Gemeinschaft.“ Auch der Oberst Markwart Graf Schenk von Stauffenberg dankt den Mohrs: „Zur Erinnerung an die gemeinsam erlebten schweren Zeiten in Buchenwald, Regensburg, Schönberg, Dachau und Südtirol und herzlichen Dank für die gute Betreuung.“ Und Frau von Hammerstein ergänzt: „Zum steten Andenken dem lieben Ehepaar Mohr an die schweren und dann so schönen Tage der Sippenhaft. Gott vergelts auch für die so gut geführte Küche.“ Der General der Infanterie von Falkenhausen fasst seinen Dank in den Reim: „Aus der Hölle in den Himmel! Dieses kommt mir komisch vor, doch wir danken es Herrn Mohr!“ Schließlich findet ein lettischer Professor die Dankesworte: „Die überaus freundliche Fürsorge der lieben Mithäftlinge ‚Ehepaar Mohr’ wird mir immer in schönster Erinnerung verbleiben – als hoffnungsvoller Anfang eines besseren freien Lebens.“
Italien, Mai 1945: Langsam löst sich die Schicksalsgemeinschaft weiter auf. Vor allem die Deutschen bleiben aber noch im Pustertal. Bald geht es für sie in einem gut organisierten Transport nach Verona. Dann fliegen sie nach Neapel und dann weiter mit dem Schiff auf die Insel Capri. Die Mohrs verleben – wie sie sagen - fünf traumhaft schöne Wochen auf dieser Märcheninsel im unglaublichen blauen Meer. Die Erinnerungen an das Schwere der Haftzeit und die Unruhe und Qual der letzten Monate fallen erst einmal von ihnen, sie atmen frei und leben, leben ganz stark in all der Schönheit.
Capri, Juni 1945. Eines Tages stehen Autos bereit, um sie zur Rückreise abzuholen. Von Capri aus geht es mit einem Kanonenboot nach Neapel. Nächstes Ziel der Reise ist Mailand. Von dort fliegen sie nach Paris, wo sie zwei Tage bleiben, gerade so lange, um etwas von der Atmosphäre dieser Stadt mitzubekommen. Schließlich werden sie mit dem Flugzeug nach Frankfurt/Main gebracht.
Frankfurt, 19. Juni 1945. Bei ihrer Landung in Frankfurt fallen sie im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Wolken. Das Wiedersehen mit Deutschland erschüttert sie. Ein Chaos umgibt sie, die Deutschen, die zu ihrer Betreuung da sind, können es für sie nicht beseitigen. Da erbarmen sich die Amerikaner ihrer noch einmal und bringen sie bis vor ihre Haustür. So kommen die vier Mohrs nach vielen Monaten der Verfolgung, der Ungewissheit und der Qualen wieder nach Hause nach Irlich.
Und was erwartet sie in Irlich? Der Sohn Martin ist unterdessen nicht untätig gewesen. Er hat von seinem Arbeitseinsatz am Westwall Urlaub genommen und ist danach in Irlich bei seinem Großvater geblieben. Dort hat er noch die letzten schweren Angriffe der Alliierten und die Befreiung durch die Amerikaner mit erlebt. Kaum ist der Krieg zu Ende, beginnt er mit der Instandsetzung des (groß-)elterlichen Hauses. Als die Mohrs Ende Juni 1945 nach Irlich zurückkehren, ist das Haus wieder ganz verglast und das Dach ist auch repariert.
Die Kontaktaufnahme zu Jakob Kaiser gestaltet sich in den Nachkriegswirren noch schwieriger. Bald wissen die Angehörigen, dass er die intensive Suche nach ihm in einem Versteck in Babelsberg bei Berlin hat überleben können. Für alle ist es eine große Freude, diese schwere Zeit überlebt zu haben.
Die Ereignisse jener Jahre hat die Familien Mohr und Kaiser aber stark geprägt.
Therese Kaiser hat Haft und Verfolgung nie ganz überwunden und erlag 1952 einem Herzleiden. Jakob Kaiser war Mitbegründer der CDU, parteiinterner Kritiker Adenauers und seiner Politik sowie später Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Er war ein unermüdlicher Kämpfer sowohl für einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ als auch für die deutsche Einheit. Berühmt wurde Kaisers „Brückenkonzeption“, wonach ein vereintes Deutschland zwischen Ost und West eine Mittler- und Brückenfunktion zu erfüllen und deshalb eine blockfreie Politik zu betreiben hätte. Damit hat sich Jakob Kaiser nicht durchsetzen können. Er starb 1961. Sepp Mohr ist 1976 in Irlich verstorben. Dort ist er auch beerdigt. Seine Frau Käte ist im hohen Alter Ende 2001 gestorben. Elisabeth Kaiser ist dem politischen Spektrum treu geblieben, für das ihr Vater stand. Sie hat den späteren Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse, stellvertretenden Vorsitzenden der CDU und Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Hans Katzer, geheiratet. Sie lebt heute zurückgezogen in Köln. - Und Martin Mohr, dem die Wahrsagerin prophezeit hatte, seine Angehörigen kämen mit dem Schiff zurück? Er genießt seinen Ruhestand und lebt für seine Leidenschaften: die Natur, den Wald, die Jagd. Eins hat das Lebensschicksal ihn aber gelehrt und dafür setzt er sich mit seiner ganzen Person ein: Eine Diktatur wie die Naziherrschaft darf es nicht noch einmal geben."