Deportationen von Juden aus Koblenz und Umgebung
Einleitung
Die Judenfeindlichkeit ist seit dem Mittelalter auch in Deutschland ein aus mancherlei Quellen gespeistes Phänomen. Ziemlich genau im Jahr 1878 entwickelte sich daraus der Antisemitismus. In diesem Jahr gründete der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker die „Christlich-soziale Arbeiterpartei“. Schon bald griff er die „Judenfrage“ auf und schürte antijüdische Stimmungen. Und es wurde ein neuer Begriff für Judenfeindlichkeit geprägt: Antisemitismus. Das war eine diffuse Protestbewegung. Sie war eine Reaktion auf den siegreichen Liberalismus, der die Judenemanzipation durchgesetzt hat. Diese Bewegung war eingebettet in einen größeren Zusammenhang von Anti-Haltungen: Sie war antiliberal, antisozialistisch, antikapitalistisch, antiemanzipatorisch und antimodern. Man muss ihr Aufkommen auch im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise sehen, die mit dem so genannten Gründerkrach 1873 begonnen hatte, und Ende der 1870er Jahre ihrem Höhepunkt zustrebte. Bezeichnend war der Slogan: „Die soziale Frage ist wesentlich Judenfrage.“
Neu war an dem Antisemitismus der 1870er Jahre, dass er gegen das emanzipierte und assimilierte Judentum Front machte, während sich die ältere Judenfeindschaft gegen nicht integrierte und assimilierte Juden wandte. Neu war auch, dass die ethnische Zugehörigkeit, die „Abstammung“, jetzt wichtiger als die Religionszugehörigkeit erschien. Die „Judenfrage“ wurde als „Rassenfrage“ definiert. Der einzelne Jude konnte diese Probleme für sich nicht mehr mit der Taufe lösen oder umgehen. Schließlich entwickelte sich eine antisemitische „Weltanschauung“. Sie meinte in den Juden den Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung allgemeiner gesellschaftlicher Probleme gefunden zu haben.
Diesen Antisemitismus griff die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) schon sehr früh auf. In ihrem Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 hieß es:
4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen.
6. Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen. Daher fordern wir, dass jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich ob im Reich, Land oder Gemeinde, nur durch Staatsbürger bekleidet werden darf.
(….)
8. Jede weitere Einwanderung Nichtdeutscher ist zu verhindern. Wir fordern, dass alle Nichtdeutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden.
Als Hitler dann am 30. Januar 1933 an die Macht kam, setzte er mit seinen Helfern diesen kruden Antisemitismus in die Tat um. Mit vielen Gesetzen und Verordnungen, mit Boykotten, Übergriffen, sozialer Isolation und dann mit den Novemberpogromen am 9./10. November 1938 („Reichskristallnacht“) diskriminierten, entrechteten und verfolgten die Nazis die Menschen jüdischer Herkunft. Die Juden sollten aus dem Wirtschaftsleben gedrängt und zur Auswanderung veranlasst werden.
Diese menschenrechtswidrige Politik hatte „Erfolg“. 1938 lebten von den 515.000 Juden im Jahr 1933 schätzungsweise nur noch 350.000 in Deutschland. Die allermeisten von ihnen waren in diesen fünf Jahren ausgewandert. Das reichte den Nazis aber noch immer nicht. Nazi-Deutschland sollte „judenrein“ sein. Deshalb begannen sie mit Deportationen und den Plänen zu Zwangsumsiedlungen.
Die allererste Deportation fand Ende Oktober 1938 statt. Damals hatte Hitler-Deutschland die Idee, Juden mit polnischem Pass wieder nach Polen zurückzuführen. Als die Republik Polen davon erfuhr, erließ sie eine Verordnung, die polnischen Staatsangehörigen die Rückkehr nach dem 29. Oktober 1938 verwehren sollte. Das war wiederum für das deutsche Außenministerium Anlass, in einer Blitzaktion am 27. und 28. Oktober 1938 etwa 17.000 Juden verhaften und in Sonderzügen an die deutsch-polnische Grenze verbringen zu lassen. Dort wurden die Menschen ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen abgeschoben.
Nur ein Jahr später, nach dem Überfall auf Polen, planten die Nazis ein „Judenreservat“ an der Ostgrenze des besetzten „Generalgouvernements“ in Nisko am Fluss San. In der zweiten Oktoberhälfte 1939 verschleppte man Juden u.a. aus Wien und Kattowitz nach Nisko, sie sollten dort Barackenlager errichten. Dieser Nisko-Plan ließ sich aber aus verschiedenen Gründen nicht umsetzen und wurde im April 1940 endgültig aufgegeben.
Zur gleichen Zeit kam der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler auf einen alten Plan zurück – den sog. Madagaskar-Plan. Schon Ende des 19. Jahrhunderts und dann immer wieder einmal hatten deutsche Antisemiten die Idee formuliert, Juden in die französische Kolonie Madagaskar, einer großen Insel östlich von Afrika, zu deportieren. Ende Mai 1940 stimmte Hitler diesem Plan Himmlers zu – auch vor dem Hintergrund, dass Deutschland nach dem begonnenen „Westfeldzug“ und dem Sieg über Frankreich auf Madagaskar zugreifen könne. Für Himmler war das – wie er damals noch sagte - der mildeste und beste Weg, da man „die bolschewistische Methode der physischen Ausrottung eines Volkes aus innerer Überzeugung als ungermanisch und unmöglich“ ablehne. Aber auch dieser Plan erwies sich aus mehreren Gründen als undurchführbar. Anfang 1942 stellte Hitler endgültig fest, "dass die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden sollen. Madagaskar brauche mithin nicht mehr für die Endlösung vorgesehen werden."
Zu diesem Zeitpunkt war den Juden schon längst (im Oktober 1941) offiziell die Auswanderung für die Dauer des Krieges verboten worden und es hatten bereits die ersten großen Deportationen „nach dem Osten“ begonnen.
Diese Deportationen begannen mit den Transporten von Mitte Oktober bis Anfang November 1941 in das Ghetto von Lodz/Litzmannstadt. Betroffen waren mehr als 20.000 Menschen, u.a. aus Luxemburg, Trier und Umgebung, Frankfurt am Main und Berlin. Mit der zweiten Deportationswelle verschleppten die Nazis und ihre vielen, viel zu vielen Helfer im November/Dezember 1941 25.000 bis 30.000 jüdische Menschen aus dem „Altreich“, u.a. auch 1.000 aus Köln und Umgebung, nach Riga, Kowno und Minsk. Viele dieser Menschen wurden kurz nach der Ankunft ermordet. Die Arbeitskraft anderer wurde zunächst ausgebeutet, um sie dann später zu töten.
Inzwischen war der Befehl zur Ermordung von 11 Millionen Juden in Europa - zur „Endlösung der Judenfrage“ - ergangen. Ein solcher, der nur von Hitler selbst erteilt worden sein konnte, wurde nie aufgefunden, er war aber die Grundlage zum Völkermord an den Juden, dem Holocaust, der Shoa. Organisiert wurde dieses Menschheitsverbrechen auf der Wannsee-Konferenz, einer Besprechung von 15 hohen Behördenvertretern und hohen SS-Leuten am 20. Januar 1942 in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin. Bei ihr ging es um die technische Realisierung des Völkermords. In dem vom „Judenreferenten“ des Reichssicherheitshauptamtes Adolf Eichmann erstatteten Protokoll heißt es u.a.:
„Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.
Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind.
Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Juden kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht. (…)
Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden Straßen bauend in diese Gebiete (die besetzten Ostgebiete) geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei der Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)
Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchkämmt. (…)
Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in so genannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort weiter nach dem Osten transportiert zu werden. (…)
Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto – vorgesehen ist Theresienstadt – zu überstellen.
Neben diesen Altersklassen (…) finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die schwer kriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (EK I) Aufnahme. Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlage die vielen Interventionen ausgeschaltet.“
Dann kam es zur dritten Deportationswelle. Sie begann mit einem von Adolf Eichmann unterzeichneten „Schnellbrief“ des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) vom 31. Januar 1942 an alle Staatspolizei(leit)stellen. Mit den einleitenden Worten: „Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Evakuierung von Juden nach dem Osten stellen den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar.“ ging es in ihm um die „genaue Planung und Vorbereitung“ der weiteren Verbrechen. Dazu wurden die Gestapostellen aufgefordert, die im Reichsgebiet noch lebenden Juden festzustellen und deren Zahl dem RSHA zu melden. Zugleich erließ das RSHA „Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden in das Generalgouvernement“.
Eingehend und sehr bürokratisch wurde darin die Deportation zehntausender Menschen jüdischer Herkunft geregelt. Die Richtlinien verpflichteten die Gestapostellen – auch die Gestapo in Koblenz – die Juden zu erfassen, zu konzentrieren und dann für deren Abtransport zu sorgen – einschließlich der „Regelung der vermögensrechtlichen Angelegenheiten“, d.h. der Wegnahme der letzten ihren noch verbliebenen Vermögenswerte.
Nach den Richtlinien war die jüdische Gemeinde über den bevorstehenden Transport zu informieren und – ggf. mit der Bezirksstelle Rheinland der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland – in die Vorbereitungen einzubeziehen. Die Jüdische Kultusgemeinde musste eine Liste mit zu Deportierenden erstellen, aus denen die Gestapo dann eine Auswahl traf. Außerdem hatte sie aus dem Kreis der zur Deportation vorgesehenen Menschen Ordner auszuwählen, für jeden Waggon einen, er trug eine weiße Armbinde. Schließlich musste die Gemeinde – nach Weisung der Gestapo – ihre Mitglieder über den Ablauf der Deportation und die damit verbundenen Bestimmungen informieren. Das waren detaillierte Vorschriften über die mitzunehmenden 50 Reichsmark, das Gepäck (Koffer oder Rucksack), Bekleidung, Bettzeug, Verpflegung und Essgeschirr.
Dazu gehörten auch Regelungen, was mitzunehmen verboten war: Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher usw., Wertsachen jeder Art (mit Ausnahme des Eherings) und Lebensmittelkarten. Diese waren vorher abzuliefern. Die Juden hatten ein 16-seitiges Vermögensverzeichnis auszufüllen – wobei das ihnen verbliebene Vermögen rückwirkend zum 1. März 1942 zugunsten des Deutschen Reiches beschlagnahmt war. Sämtliche „das Vermögen verkörpernde Urkunden (z.B. Wertpapiere)“ u.a. waren der Erklärung beizufügen.
Diese Erklärungen, wie auch Versicherungskarten, Lohnsteuerkarten, Bezugsscheine, Personaldokumente und auch die Wohnungsschlüssel mussten die Juden abgeben, wahrscheinlich schon vor Ort. Denn die Menschen wurden generell nicht von der Polizei abgeholt, sondern mussten selbständig zum Sammelpunkt kommen. Allenfalls wurden sie von der örtlichen Polizei dorthin geleitet.
Von Koblenz aus gab es insgesamt sieben Deportationen – beginnend mit dem 22. März 1942 und endend Mitte Februar 1945. Insgesamt wurden aus aus der Stadt und dem damaligen Landkreis Koblenz insgesamt 888 Menschen jüdischer Herkunft „nach dem Osten“ deportiert. Zu dieser Zahl muss man dann noch weitere Koblenzer Juden hinzurechnen, die zunächst in andere Orte des Deutschen Reiches oder auch in das Ausland ausgewichen waren und dann von dort aus „nach dem Osten“ deportiert wurden.
Weiterführender Hinweise:
Zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema können empfohlen werden (diese wurden auch für die vorstehende Zusammenstellung maßgeblich benutzt):
Joseph Walk (Hg): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der amtlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, 2. Aufl., Heidelberg 1996,
Bruno Blau (Bearb.): Das Ausnahmerecht für die Juden in den europäischen Ländern 1933 – 1945, I. Teil Deutschland, New York 1952,
Helmut Eschwege (Hg.): Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933 – 1945. Berlin (Ost) 1981 (mit einer Chronik der Judenverfolgung) und
Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933. herausgegeben vom Comité des Délégations Juives, Paris 1934, wiederaufgelegt 1983 bei Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983