Der in Berlin im Jahr 1898 geborene Dr. Gerd Lenhardt durchlief zunächst eine typische Juristenkarriere. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Referendardienst, Promotion, Gerichtsassessorenzeit wurde er 1932 zum Landgerichtsrat ernannt. 1935 kam er dann nach Koblenz und leitete die Strafkammer in brisanten Prozessen. 1938 wurde er Landgerichtsdirektor in Trier. Schließlich war er 1942 Hilfsrichter beim Volksgerichtshof und ab 1943 Zuarbeiter beim Oberreichsanwalt. Als solcher hatte er zahlreiche Todesurteile zu verantworten. Nach seiner Entnazifizierung als „Mitläufer“ wurde er Anfang der 1950er Jahre in der Justiz wiederverwendet. Bald war er Oberlandesgerichtsrat beim damaligen Oberlandesgericht in der Pfalz. 1960 ging er mit 62 Jahren in den Ruhestand und ließ sich dann als Rechtsanwalt in Neuwied nieder.
Joachim Hennig: Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933 – 1945
VHS-Wintersemester 2008/09
Drei Täter (Teil 3)
Dr. Gerd Lenhardt (geb. 1898)
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich begrüße Sie sehr herzlich zum dritten und letzten Vortrag in der diesjährigen Staffel über Widerstand und Verfolgung in Koblenz 1933 bis 1945. Nach dem Gauleiter des Gaues Rheinland und späteren Chef des Reichsarbeitsdienstes Robert Ley und nach dem Kriminalbeamten, Gestapo-Chef von Minsk und späteren Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz Georg Heuser porträtiere ich Ihnen heute den Richter Dr. Gerd Lenhardt.
Sicherlich sind Sie auch das letzte Mal wieder ins Grübeln gekommen, ob es den „typischen NS-Täter“ gibt. Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gefunden – vielleicht kann man ihn auch gar nicht finden. Es gibt wohl nicht „den“ typischen NS-Täter, sondern nur mehrere Tätertypen. Nach dem Massenmörder Heuser, der hunderte, vielleicht tausende unschuldiger Menschen mit eigener Hand umgebracht hat, präsentierte ich Ihnen heute diesen freundlichen Schleifenträger mit dem nachdenklichen Blick.
Geboren wurde Gerd Lenhardt am 17. Juni 1898 in Berlin als Sohn des Oberpostdirektionspräsidenten Karl Lenhardt und dessen Ehefrau Janny, geb. Petzold. Er stammte aus einer evangelischen Familie. Nach der dreijährigen Vorschule besuchte Lenhardt ein humanistisches Gymnasium in Berlin. Bereits nach 8 ¼ Jahren machte er das Abitur – es war das sog. Notabitur, weil er sich als Kriegsfreiwilliger für den Ersten Weltkrieg gemeldet hatte. Gerade einmal 18 Jahre alt geworden, zog er am 21. Juni 1916 in den Krieg. Lenhardt war Frontkämpfer in Frankreich und Belgien, wurde leicht verwundet und erlitt eine Gasvergiftung. Dafür wurde er mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse, dem Verwundetenabzeichen in schwarz und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet. So dekoriert schied er als Vizefeldwebel am 7. Januar 1919 aus dem Heer aus.
Sehr bald begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität in Frankfurt/Main. Er schloss es am 11. Mai 1921 mit der Note „ausreichend“ ab – also nicht so doll. Einen Monat später wurde er Gerichtsreferendar und promovierte ein Jahr später zum Dr. jur. Nach dreijähriger Referendarzeit legte er mit der – sehr ordentlichen – Note „vollbefriedigend“ das Zweite juristische Staatsexamen im Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main ab. Anschließend wurde er Gerichtsassessor und kam dann ganz schön herum: Er war Hilfsrichter und Hilfsstaatsanwalt bei Gerichten und Staatsanwaltschaften in Frankfurt/Main, Berlin, Frankfurt/Oder, Spremberg, Peitz, Limburg/Lahn, Neuwied und Stettin. Während er so im ganzen Deutschen Reich unterwegs war, heiratete Lenhardt im Oktober 1928 seine Frau Hildegard, geb. Fitting, die Tochter eines Hüttendirektors. Ein Jahr später kam in Neuwied das einzige Kind der beiden, ein Sohn, zur Welt.
Am 1. Juli 1932 wurde Lenhardt zum Land- und Amtsgerichtsrat in Neuwied ernannt. Kurze Zeit später versetzte man ihn in gleicher Funktion nach Siegen in Westfalen. Am 1. Januar 1935 schließlich wurde er zum Land- und Amtsgerichtsrat in Koblenz ernannt. Als er nach Koblenz kam, war Lenhardt bereits Mitglied der NSDAP (das war er seit dem 1. April 1933), weiter war er Mitglied des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes (NSRB) und Mitglied der SA-Reserve; in der NSDAP hatte er Blockhelferdienste versehen. Während seiner Koblenzer Zeit war Lenhardt kommissarischer Ortsgruppenführer des NSRB sowie SA-Scharführer; außerdem war er Mitglied in fünf angeschlossenen Verbänden bzw. betreuten Organisationen.
Im Koblenz jener Jahre gab es ja noch kein Oberlandesgericht (das wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg hier eingerichtet) und damals gab es auch noch kein Sondergericht Koblenz (das wurde erst Ende 1940 hier etabliert, bis dahin war das Sondergericht Köln für den Landgerichtsbezirk Koblenz – als Sondergericht – zuständig). An Strafjustiz gab es seinerzeit – wie schon seit mehr als 100 Jahren – die Strafkammer bzw. die Strafkammern beim Landgericht in Koblenz.
In dieser recht frühen Phase der Naziherrschaft war die Strafjustiz noch nicht so terroristisch wie wir sie aus der Phase des Zweiten Weltkrieges kennen und für die Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs und „Mörder in der roten Robe“, exemplarisch steht. Die Gerichte – auch der schon 1934 gegründete Volksgerichtshof - verbreiteten damals aber noch längst nicht diesen Terror, wie er uns so im Gedächtnis ist. Das lag vor allem daran, dass die Straftatbestände und die Strafdrohungen noch nicht so radikalisiert waren wie später in der Phase des Zweiten Weltkrieges. Wir werden darauf noch einmal zurückkommen.
Diese soeben gegebene Einschätzung galt auch für die damaligen „normalen“ Strafgerichte, die Strafkammern der Landgerichte. Bei ihnen waren nicht die politischen Strafsachen im engeren Sinne anhängig. Solche politischen Strafsachen, wie vor allem Hochverratsverfahren gegen Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten. wurden in minder schweren Fällen - nicht vor dem Reichsgericht bzw. ab 1934 vor dem Volksgerichtshof - sondern vielmehr vor den Strafsenaten der Oberlandesgerichte verhandelt – und eben nicht vor den Strafkammern der Landgerichte, die wir hier im Rahmen der Biografie von Dr. Gerd Lenhardt betrachten.
Anhand seiner Biografie kann man nun die wichtigsten damals in Koblenz verhandelten Strafprozesse Revue passieren lassen. Der erste wichtige Prozess, an dem Lenhardt als Beisitzer beteiligt war, war der im Oktober 1935 stattfindende sog. Unkeler Kirchenschändungs- und Landfriedensbruchprozess. Dem lag ein Sonntagsausflug der Belegschaft der AOK Köln im Sommer 1935 zugrunde. Unter Leitung des Gauamtsleiters und Trägers des goldenen Parteiabzeichens landete der Ausflugsdampfer in dem Städtchen Unkel. Dort trennte sich eine kleinere Gruppe von der bereits weinseligen Gesellschaft. Die Gruppe begab sich zur katholischen Kirche und störte dort die Maiandacht. Die Gruppe ging unter lauten und üblen Bemerkungen bis in die Höhe der Kanzel, dabei taten welche u.a. die Äußerung, man solle dem Pastor den Altar „bepinkeln oder bepissen“. Im katholischen Rheinland war das natürlich auch noch 1935 ein Riesenskandal. Es kam zur Anklage gegen die Randalierer. Für die NSDAP und die Parteigrößen in der Region war dieser Prozess natürlich recht fatal. Deshalb gab es auch Druck auf die Richter der Strafkammer. Ein Verteidiger der Angeklagten artikulierte das so: „Meine Herren, bedenken Sie, dass in der Hauptsache ‚Alte Kämpfer’ vor Ihnen stehen, die manche Saalschlacht mitgemacht haben.“ Dessen ungeachtet verurteilte die Strafkammer die Angeklagten zu recht hohen Freiheitsstrafen.
Die Besetzung der Strafkammer wechselte im folgenden Jahr. Lenhardt blieb aber ihr Beisitzer und wurde stellvertretender Vorsitzender. Den Vorsitz der Großen Strafkammer in Koblenz hatte dann der Landgerichtsdirektor Dr. Hans van Koolwijk inne. Beisitzer in der Kammer war – wie gesagt - Dr. Lenhardt, der zuweilen vertretungsweise auch den Vorsitz in der Kammer hatte.
In diesen und in anderen Fällen hatten auch die Strafkammern der Landgerichte eine wichtige und ebenfalls eine politische Funktion im NS-System. Es lag dann ein Stück weit an ihnen, wie sie die ihnen zugedachte politische Funktion wahrnahmen. Besonders deutlich wurde dies gegenüber den politischen Gegnern der Nazis. Die Funktion auch der Strafgerichte war es, den politischen Gegner der Nazis zu kriminalisieren, mundtot und lächerlich zu machen und hinter Gefängnismauern wegzusperren. Die Strafjustiz im Nationalsozialismus nahm diese Funktion in wachsendem Maße wahr. Dabei spielte sie bisweilen auch eine besondere Rolle in den Kriminalisierungskampagnen.
Eine solche groß angelegte Kampagne fand Mitte der 1930er Jahre gegen die katholische Kirche statt – also genau zu der Zeit, als die „Alten Kämpfer“ in der Unkeler Kirche randalierten. An diesen Prozessen war – als Mitglied der Großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz – auch der Landgerichtsrat Dr. Lenhardt beteiligt.
Ausgelöst wurde diese ganze Kampagne im April 1935 durch einen Zögling der von Waldbreitbacher Brüdern geführten Pflegeanstalt Ebernach bei Cochem. Dieser Zögling war nach einem Einbruch festgenommen worden und beschuldigte bei seiner Vernehmung mehrere Brüder der Anstalt gleichgeschlechtlicher Betätigungen. Bei den weiteren Ermittlungen wurden diese Vorwürfe bestätigt. Das war ein „gefundenes Fressen“ für die Gestapo. Mit einem großen Aufgebot von Beamten zog die Gestapo von Kloster zu Kloster und unterzog die Ordensleute, die Schüler und insbesondere kranke, schwachsinnige Pfleglinge eingehenden Verhören. „Mit Zuckerbrot und Peitsche“ und mit allerlei unzulässigen Vernehmungsmethoden, erreichte sie ihr Ziel: das Ordenswesen sollte getroffen und diskreditiert werden, um damit zugleich die katholische Kirche und ihre Priester zu treffen – denn eine scharfe Trennung zwischen Ordensbrüdern und Priestern machte man bewusst nicht.
Die meisten dieser Sittlichkeitsprozesse fanden vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz statt. Ende Mai 1936 begann die Prozessserie. Es folgten – durchschnittlich im Abstand von zwei Tagen – bis zum 17. Juli 1936 rund 35 Hauptverhandlungen. Auf Geheiß Hitlers durften – wie es hieß – aus „staatspolitischen Gründen“ in der Zeit vom 20. Juli bis 20. August 1936 keine Prozesse stattfinden. Dazu muss man wissen, dass in der ersten Hälfte des Monats August die Olympischen Spiele in Berlin abgehalten wurden. Die Strafverfahren wurden später im Jahr dann wieder aufgenommen. Im Juli 1937 verfügte Hitler schließlich, dass sie unbefristet auszusetzen seien; sie sind dann auch nicht mehr öffentlich wahrgenommen worden.
Von der Sache und der Tätigkeit der befassten Justizorgane gesehen, handelte es sich um „legale“ strafrechtliche Verfahren – es ging um „Unzucht mit Abhängigen“, wie man so sagt. Diese Verfahren wurden von den Nazis aber zu Propagandazwecken massiv missbraucht. Das fing schon damit an, dass die Gestapo im Vorverfahren nach eigenem Gutdünken „ermittelte“ und „aufklärte“. Das setzte sich im Zwischenverfahren fort. So lag die Bestimmung, ob und wann die Hauptverhandlung stattfinden sollte, nicht – wie es zu sein hat – beim Vorsitzenden der Strafkammer. Es war vielmehr Hitler selbst, der nach politischem Gutdünken und Opportunität diese Prozesse mit Blick auf die Olympischen Spiele 1936 und im innenpolitischen Machtkampf mit der katholischen Kirche einsetzte und auch aussetzte.
Die Atmosphäre bei Gericht geben heute noch Berichte des vom Trierer Bischof Bornewasser entsandten Sonderberichterstatters, des Domvikars Dr. Meid, wieder. Dieser bemerkte im August 1936, dass „die Richter die Verhandlungen sachlich und objektiv führen. Würde man das Gegenteil behaupten, so würde man ihnen Unrecht tun.“ Der Vorsitzende – so resümierte Meid – „zeigt in der Führung der Prozesse eine feine Art. Besonders mit den jungen Brüdern, die das Opfer von Verführern geworden sind, verfährt er milde, bisweilen geradezu väterlich. Den Verführern hält er in ernster und strenger Weise das Schändliche ihrer Taten vor.“ Dementsprechend berichtete Bischof Bornewasser dem Kardinalstaatssekretär Pacelli nach Rom, der Gerichtsvorsitzende sei „ein gerechter, korrekter und vornehm gesinnter Mann.“ In diesem Rahmen bewegte sich auch Lenhardt, der Beisitzer in der Strafkammer war und bisweilen – bei Verhinderung des Vorsitzenden – vertretungsweise den Vorsitz hatte.
Die Urteile stützten sich durchweg auf Geständnisse oder Teilgeständnisse der Angeklagten. Beschuldigungen geistesschwacher Zeugen reichten zu einer Verurteilung in der Regel nicht aus. Die Strafen bewegten sich zwischen fünf Monaten Gefängnis und acht Jahren Zuchthaus. Meist lagen sie zwischen einem und zwei Jahren Gefängnis. Der Beobachter Dr. Meid meinte dazu: „Wenn die Brüder gegenüber ihren Oberen stets so offen und geständig gewesen wären wie vor dem Staatsanwalt und vor dem Gericht, dann wäre es sicherlich nicht so weit gekommen.“ Auch gab es durchaus Freisprüche.
Einen besonderen Charakter erhielten diese Sittlichkeitsprozesse, weil die Nazis mit ihnen ganz massiv Politik und Propaganda betrieben. Zwar bemühte sich der Vorsitzende van Koolwijk, eine Politisierung zu vermeiden und ermahnte die Prozessvertreter, „jede propagandistische Auswertung der Dinge gegen Kirche und Orden zu unterlassen.“ Das half aber nicht viel. Diese Strafverfahren wurden geradezu zu Schauprozessen. Die Schlagzeilen der gleichgeschalteten Presse waren auch dementsprechend: „Die Orgien des Bruders Nikodemus“, „Pater Linus, ein Satan in der Mönchskutte“, „Der Liebesschlaf des Bruders Basilius“, „Die Kartoffelküche als Lasterhöhle“, „Feuchtfröhliche Orgien im Klosterkeller“.
Während das Gericht die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit zeitweise ausschloss, sorgte Reichspropagandaminister Goebbels dafür, dass Zuhörergruppen aus Partei, Eltern- und Lehrerschaft zu den Sittlichkeitsprozessen erschienen und dann auch Zutritt erhielten. Einen gewissen Höhepunkt erreichte die Propaganda, als Ende April 1937 der Reichssender Frankfurt auf Veranlassung des Reichspropagandaministeriums in dem Koblenzer Gerichtssaal Empfangsanlagen einbaute, um eine Reihe von Hauptverhandlungen auf Schallplatten aufzunehmen. Nach einigen Protesten und einigem Zögern erhielt der Sender dann vom Gericht auch die Erlaubnis zu diesen Schallplattenaufnahmen. - Diese Aufnahmen existieren übrigens heute noch.
Mit einem ebenfalls großen Propagandaaufwand fand von Dezember 1937 bis April 1938 vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz der sog. John-Prozess statt. In ihm ging es um Betrugs- und Bestechungsvorwürfe gegen den Stadtoberinspektor Friedrich John, einen Beamten der Stadt Koblenz. John war in den 1920er Jahren Leiter des städtischen Amtes für Besatzungsschäden gewesen. Ende der 1920er Jahre – also vor fast 10 Jahren vor Prozessbeginn – soll er von in Koblenz angesehenen Personen Geld angenommen und daraufhin diesen höhere Entschädigungen verschafft haben, als ihnen tatsächlich zustand. Diesen Prozess wird man wohl in die Kampagne der Nazis einzuordnen haben, mit der angesehene lokale und regional bekannte Persönlichkeiten kriminalisiert werden sollten. Eine dieser Persönlichkeiten war der frühere Verlagsleiter des Koblenzer General-Anzeigers Adolf Duckwitz. Es traf sich, dass Duckwitz seinerzeit auch Meister vom Stuhl der Koblenzer Freimaurerloge war (die die Nazis Mitte der 1930er Jahre, wie andere auch, bereits „liquidiert“ hatten). Also: Dieser Adolf Duckwitz mit „seinem“ Koblenzer General-Anzeiger sollte „mundtot“ gemacht werden. Hierüber gibt es einen Zeitzeugenbericht eines langjährigen Belegschaftsmitgliedes des Koblenzer General-Anzeigers, den ich hier auszugsweise zitieren möchte. Dieser Zeitzeuge berichtet davon, dass die Nazis seit 1933 versuchten, Duckwitz zu schikanieren. Zu 1936 heißt es dann:
Als letztes Mittel wurde deshalb die scheinbare Legalität mit Hilfe einer wohlfeilen Justiz gewählt: die strafrechtliche Verfolgung! Unter Benutzung nur zu williger Kräfte als Zeugen oder Gutachter wurde ein politischer Prozess konstruiert, dessen Fäden von der Gauleitung gesponnen und gehalten und der in Durchführung und Behandlung restlos vom Reichspropaganda-Amt gesteuert wurde. Bevor der Prozess überhaupt seinen Anfang nahm, wurden Pressekonferenzen vom Reichspropaganda-Amt veranstaltet, in denen der … (Pressereferent des Reichspropaganda-Amtes Rudolf) Schauff den „Fall Duckwitz und General-Anzeiger“ behandelte und seine pressemäßige „Ausschlachtung“ vorschrieb. Grundlage der nun offen und hemmungslos betriebenen Hetze bildete die Behauptung, Herr Duckwitz habe durch Bestechungen weit übertriebene Besatzungsschäden sich vom Reich bezahlen lassen, „ergaunert“ wie Schauff sich immer wieder ausdrückt, und sich und das von ihm geleitete Unternehmen „in gewissenlosester und schamlosester Weise“ bereichert. Verbalinjurien wie „Großgauner“ und „Großbetrüger“ waren nun an der Tagesordnung.
Herr Duckwitz selbst war inzwischen verhaftet, eine entsprechende Anklageschrift fertig gestellt und ein vernichtendes Gutachten, verfasst von dem Leiter eines am gleichen Ort ansässigen Konkurrenzunternehmens(!), beschafft worden, der große politische Schauprozess, dessen Urteil – wie in solchen Fällen üblich – bereits feststand, konnte beginnen. Im letzten Augenblick gab es durch eine plötzliche Erkrankung des Hauptangeklagten, Herrn Duckwitz, eine für die Nazis höchst unerwünschte Verschiebung, da eine Überführung aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus notwendig wurde. Der maßlosen Hetze der Nazis, systematisch und mit den Jahren sich immer mehr steigernd sowohl in der Gemeinheit wie in der Massivität, war aber selbst eine so starke Persönlichkeit wie Herr Duckwitz auf die Dauer nicht gewachsen. Ein Mann, ohne Fehl und Tadel, aus kleinsten Anfängen nur aufgrund seiner überragenden persönlichen Fähigkeiten zu einem der bedeutendsten Männer und Kenner Deutschlands in seinem Fachgebiet geworden, sah sich hilf- und rechtlos der Nazimeute und ihren Helfershelfern ausgeliefert, war sich klar bewusst, dass man ihn trotz allen noch so klaren Gegenbeweisen ins Zuchthaus schicken wollte, und wählte so, den Nazis den Rachetriumph aus den Händen schlagend, im Krankenhaus am 12. Oktober 1936, wenige Stunden, bevor man ihn wieder ins Gefängnis zurückschleppen wollte, den Freitod.
Ein gutes Jahr später, Mitte Dezember 1937, begann dann der Prozess gegen den Stadtoberinspektor John. Sinnigerweise berichtete auch der Koblenzer General-Anzeiger, dessen Verlagsleiter Duckwitz viele Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis war, reißerisch über diesen Prozessauftakt. Wie es der Zeitzeuge ansprach, stand das Ergebnis für diese „Presse“ schon fest: „John steckte 21.600 Mark Schmiergelder ein. Der große Betrugs- und Bestechungsskandal vor Gericht“. Angeklagt war neben John auch der frühere Syndikus des Rheinischen Hotelierverbandes, ein Dr. Hans Müller, und auch der Hotelier Ernst Meyer, Inhaber des Hotels Continental am Hauptbahnhof (heute: Hotel Höhmann). Er firmierte in der Presse nur als „Jude Meyer“, denn er war Jude.
Dieser bis dahin längste Prozess in der Geschichte des Landgerichts Koblenz endete nach viermonatiger Dauer Mitte April 1938 mit der Verurteilung Johns zu fünf Jahren Zuchthaus. Der frühere Syndikus Dr. Müller erhielt 3 ½ Jahre Gefängnis und – wie es hieß – der „Jude Meyer“ 2 ½ Jahre Gefängnis. Einige Angeklagte wurden auch freigesprochen. Selbst bei der Urteilsverkündung durch den Landgerichtsrat Dr. Lenhardt tauchte immer wieder der Name „Duckwitz“ auf.
Ich kann und will diesen Prozess nicht juristisch bewerten. Im Rahmen der Biografie über Lenhardt geht es mir nur darum aufzuzeigen, wie schon damals die „normale“ Strafjustiz in Koblenz jedenfalls durch die Berichterstattung für politische Zwecke der Nazis missbraucht wurde. Der guten Ordnung halber möchte ich Ihnen aber nicht verschweigen, was der bereits erwähnte Zeitzeuge in seinen Bericht dazu schrieb:
Aber selbst den Toten (gemeint ist: Duckwitz) ließ die Meute nicht in Frieden. Im folgenden Prozess gegen frühere Beamte des Besatzungsamtes Koblenz sorgte das Reichspropaganda-Amt als die federführende Nazibehörde dafür, dass der Tote und mit ihm seine Zeitung täglich im Gerichtssaal und in der Presse als die „Hauptschuldigen angeprangert“ wurden. Selbst in der Urteilsbegründung galt der Haupttenor der Begeiferung des Toten. Die Partei hatte den Prozess politisch vorbereitet, politisch durchführen und politisch enden lassen; für Kurzsichtige und Dumme hing sie sich ein mehr als dünnes Mäntelchen um und schob, um nach außen das „juristische Bild“ zu wahren, die Hauptursache auf den Gutachter, der ja als „Nichtnazi“ gesprochen und gehandelt habe.
Ein gewisses Resümee der Tätigkeit Lenhardts als Mitglied der Koblenzer Strafkammer hat einige Jahre später sein damaliger Vorsitzender Dr. van Koolwijk bei dessen dienstlicher Beurteilung gezogen und sich wie folgt geäußert:
Dr. Lenhardt war (…) als Landgerichtsrat lange Zeit Beisitzer in der von mir geleiteten Strafkammer, die damals zum wesentlichen Teile mit der Aburteilung der Strafsachen gegen die Angehörigen der katholischen Orden wegen Sittlichkeitsverbrechen usw. beschäftigt war. Hier hat er sich durch sicheres, gerechtes und großzügiges Urteil hervorragend bewährt. Wenn er auch in der Hauptsache Strafrichter ist, so besitzt er dessen ungeachtet ausreichende Kenntnisse auf allen Rechtsgebieten und namentlich auch auf dem Gebiete der Verwaltung.
Da auch die NSDAP Lenhardt politische Zuverlässigkeit bescheinigte, wurde er dann zum 1. Juni 1938 zum Landgerichtsdirektor beim Landgericht Trier befördert. Ab dem 1. Januar 1939 übernahm er dort den Vorsitz einer Großen Strafkammer.
Über die Dienstzeit Lenhardts als Landgerichtsdirektor beim Landgericht in Trier erstellte der Landgerichtspräsident dort Trier im Jahr 1943 folgende dienstliche Burteilung:
Dr. Lenhardt ist vielseitig und ganz erheblich über dem Durchschnitt begabt und kenntnisreich nicht nur in juristischen Dingen, interessiert auf allen Lebensgebieten, von großem, nie erlahmendem Fleiß, flotter Arbeiter, der rasch das Wesentliche eines Falles erkennt, gewandter, geschickter und tatkräftiger Verhandlungsleiter in Zivil- und Strafsachen, auch umfangreichen, lang dauernden Strafprozessen durchaus gewachsen. Von den unter seinem Vorsitz gefällten Entscheidungen unterlag nur ein sehr kleiner Hundertsatz der Aufhebung oder Abänderung durch das Reichsgericht. Auch in Verwaltungssachen ist er ein sehr geschickter und geschätzter Mitarbeiter. Auch als Schulungsleiter mit Erfolg tätig. Hilfsbereit, von Gemeinschaftsempfinden und angenehmen Umgangsformen. Führung tadellos, politisch zuverlässig. Für jede Beförderungsstelle geeignet.
Nach der Besetzung Luxemburgs durch Hitler-Deutschland wurde Lenhardt im Oktober 1940 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Sondergerichts in Luxemburg ernannt. In dieser Eigenschaft ist er selten, möglicherweise nur einmal, tätig geworden.
Nach dem späteren Urteil seiner früheren Kollegen muss Lenhardt sehr ehrgeizig gewesen sein und großen Wert auf eine günstige Statistik gelegt haben. Dieser Ehrgeiz hat ihn dann auch wohl bewogen, an den Volksgerichtshof zu streben.
Ab dem 30. September 1942 wurde Lenhardt – weiterhin mit seiner Amtsbezeichnung Landgerichtsdirektor – Hilfsrichter beim Volksgerichtshof in Berlin. Das Reichsjustizministerium hatte ihn dorthin auf sechs Monate zur Aufarbeitung von Rückständen abkommandiert. Er wurde dem 1. Senat zugeteilt, dessen Präsident damals Roland Freisler war. Außerdem gehörten diesem Senat noch mindestens drei stellvertretende Vorsitzende an sowie weitere richterliche Mitglieder und Laienrichter. Der Senat tagte dann entweder mit Freisler als Vorsitzendem und einem weiteren richterlichen Beisitzer und drei Laienrichtern oder aber anstelle von Freisler mit einem stellvertretenden Vorsitzenden sowie einem weiteren richterlichen Beisitzer und drei Laienrichtern. Lenhardt war jeweils der weitere richterliche Beisitzer. Später wurde Lenhardt dem 5. Senat des Volksgerichtshofs zugewiesen.
Aus dieser Spruchrichtertätigkeit sind bis zuletzt keine Entscheidungen, an denen Lenhardt mitgewirkt hatte, bekannt geworden. Zum ersten Mal überhaupt bin ich bei meiner Recherche für diesen Vortrag im Sommer dieses Jahres auf Urteile des Volksgerichtshofs mit Lenhardt als Beisitzer gestoßen. Und zwar habe ich sie im Bundesarchiv in Berlin sozusagen „ausgegraben“. Es sind insgesamt vier Urteile, zwei Urteile des 1. Senats und zwei Urteile des 5. Senats des Volksgerichtshofs, jeweils mit Dr. Lenhardt als berufsrichterlichem Beisitzer. Alle Urteile betreffen sog. Annexionsverfahren. Das waren Strafverfahren, in denen der Volksgerichtshof den Widerstand in den von Hitler-Deutschland annektierten Staaten und Gebieten aburteilte, besser gesagt liquidierte.
Sie erinnern sich sicherlich, dass Nazi-Deutschland im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges bzw. bei dessen Beginn zahlreiche Nachbarländer annektierte, sich mehr oder minder gewaltsam aneignete. Das waren Österreich, die Tschechei einschließlich des Sudetenlandes, die polnischen Westgebiete, Elsaß-Lothringen und Luxemburg. In diesen Gebieten regte sich naturgemäß Widerstand gegen die Beseitigung der Souveränität und gegen die fremde Besatzung. Dieser Widerstand und die Bestrebungen, die Souveränität wieder zu erlangen, wurde als Hochverrat (Gebietshochverrat) angesehen. Man tat also so, als handele es sich bei diesen annektierten Gebieten um originär deutsches Staatsgebiet. Täter solcher Handlungen konnten dabei auch Einwohner dieser Gebiete sein. Sie unterstanden dem deutschen Strafrecht, obwohl sie keine deutschen Staatsangehörigen waren. Zuständig zur Aburteilung dieser Ausländer, die in den annektierten Gebieten Widerstand gegen die deutsche Besatzung leisteten, war der Volksgerichtshof.
Tathandlung in diesen Annexionsverfahren war zumeist die Gründung oder Unterstützung von zivilen Widerstandsorganisationen. Motiv der Angeklagten zum Handeln in oft nur sehr bescheidenem Rahmen war grundsätzlich der Patriotismus. Entsprechend diesem Grundmotiv kamen die Angeklagten aus den verschiedensten Berufen und sozialen Schichten und auch aus unterschiedlichen politischen Lagern. Das Spektrum reichte vom konservativen Berufsoffizier bis zum kommunistischen Arbeiter.
Das erste von mir im Bundesarchiv gefundene Urteil des 1. Senats des Volksgerichtshofs vom 5. November 1942 betraf drei Tschechen aus der Nähe von Mährisch-Ostrau. Ihnen legte man hochverräterische Bestrebungen zur Last, weil sie in Eisenwerken in einem Ort bei Mährisch-Ostrau eine zivile Widerstandsorganisation unterstützt und gefördert haben sollen. Sie hatten angeblich dafür geworben, eine Selbstschutzorganisation im Betrieb aufzubauen. Diese sollte für den Fall, dass die deutsche Wehrmacht das Protektorat verließ, wichtige Betriebsanlagen schützen und damit verhindern, dass die Kommunisten ihre gewaltsamen Umsturzpläne durchführen und etwa die Anlagen zerstören könnten. Zwei der drei Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Gegen den dritten verhängte das Gericht eine Zuchthausstrafe von acht Jahren. Ihm hielt das Gericht zugute, dass er im Mai/Juni 1939 (also noch vor dem Zweiten Weltkrieg) lediglich sechs Wochen tätig, aber in diesem Sinne nicht besonders aktiv war und dann aus freien Stücken diese Tätigkeit aufgegeben hatte.
Nur einen Tag später, am 6. November 1942, standen vor demselben Senat des Volksgerichtshofs und mit Lenhardt als Beisitzer fünf Tschechen aus der Nähe von Mährisch-Ostrau. Ihnen legte man hochverräterische Bestrebungen zur Last, weil sie in einem Ort bei Mährisch-Ostrau eine zivile Widerstandsorganisation unterstützt und gefördert haben sollen. Da sie – wie es im Urteil hieß – ihrer Treuepflicht als Protektoratsangehörige gegenüber dem Großdeutschen Reich zuwider gehandelt hatten, wurde gegen drei Angeklagte die Todesstrafe verhängt, die beiden anderen Angeklagten erhielten 12 bzw. 10 Jahre Zuchthaus. Die drei zum Tode verurteilten Tschechen brachten noch Gnadengesuche an, sie wurden aber vom Reichsjustizminister abgelehnt. Die drei Tschechen wurden am 19. Februar 1943 hingerichtet. Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof sorgte noch dafür, dass zur Abschreckung diese Nachricht in Mährisch-Ostrau und Umgebung öffentlich bekannt gemacht wurde.
Drei Wochen nach diesen Hinrichtungen verhandelte der Volksgerichtshof die dritte von mir gefundene Strafsache. Diesmal fand die Verhandlung vor dem 5. Senat statt, Lenhardt war wiederum Beisitzer. Angeklagt war der Oberst a. D. des ehemaligen tschechoslowakischen Heeres und Oberdirektor a.D. im Ministerium für soziale Fürsorge Josef Srstka und drei weitere sog. Protektoratsangehörige. Sie wurden mit Urteil des Volksgerichtshofs vom 10. März 1943 allesamt wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt. Todeswürdig war, dass sie sich im Rahmen einer zivilen Widerstandsorganisation verschiedentlich getroffen und Gespräche geführt hatten; einem Angeklagten, einem früheren Unternehmer, warf man vor, Gelder gespendet zu haben, mit denen Familien tschechischer Widerstandskämpfer unterstützt wurden. Dies reichte aus, um alle vier hinzurichten. Dabei hatte der Senat allerdings noch zu bedenken, dass der Hauptangeklagte Srstka ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte und damit zur Strafverfolgung gegen die anderen noch mitgewirkt hatte. Aber auch dieses Problem löste der Senat. Dazu heißt es in dem Urteil:
Nach dem Gesetz (…) hat der Senat bezüglich sämtlicher Angeklagter bei der Strafzumessung nur die Wahl zwischen der Todesstrafe und lebenslangem Zuchthaus; denn dass die während des Krieges im Rahmen einer weit verzweigten Geheimorganisation entfaltete hochverräterische und feindbegünstigende Tätigkeit der Angeklagten keine schweren Folgen für das Reichswohl herbeigeführt hat und auch nicht herbeiführen konnte (…), kann nach Lage der Sache nicht festgestellt werden. Männer von der Bildung und der früheren militärischen bzw. wirtschaftlichen Stellung der Angeklagten, Männer, die innerhalb der (Geheimorganisation) an hervorragender Stelle sich betätigt haben, wie es die Angeklagten getan haben, müssen um der Sicherheit des Reiches willen wegen solcher Taten mit der strengsten Strafe bestraft werden. Gegen sämtliche Angeklagte hat daher der Volksgerichtshof auf die Todesstrafe erkannt, die auch gegenüber dem Angeklagten Srstka auszusprechen war, selbst wenn dieser Angeklagte, was der Senat nicht verkennt, durch sein Geständnis zur Aufklärung erheblich beigetragen hat. Dass die Angeklagten durch ihren Treubruch ihre bürgerlichen Ehrenrechte für immer verwirkt haben, hat der Senat gleichfalls festgestellt.
Eine weitere Woche später standen vier Tschechen vor dem 5. Senat des Volksgerichtshofs mit Lenhardt als Beisitzer. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, systematisch bestimmte Informationen (etwa über Truppenbewegungen) zu sammeln und Berichte und andere Mitteilungen an einen „Ausschuss“ in Prag erstellt bzw. zu übermittelt zu haben. Abschließend heißt es in dem Urteil:
Alle Angeklagten haben sich ausschließlich während des gegenwärtigen Krieges hoch- und landesverräterisch betätigt. Bei all ihren Tatbeiträgen ist deutlich erkennbar geworden das Bestreben, nach besten Kräften dem Deutschen Reiche zu schaden, insbesondere seine politische und militärische Widerstandskraft zu schwächen, weil die Niederlage des Reiches nach ihrer Vorstellung die notwendige Voraussetzung für die von ihnen ersehnte Erneuerung der tschechischen Republik war. Sämtliche Angeklagte haben somit während des Krieges durch ihre hoch- und landesverräterische Tätigkeit es unternommen, den feindlichen Staaten Vorschub zu leisten.
Ab dem 1. April 1943 war Dr. Lenhardt dann Hilfsarbeiter, also Zuarbeiter, beim Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof in Berlin. Dort hatte er Anklagen vorzubereiten und Anklagen der Reichsanwaltschaft vor den Senaten des Volksgerichtshofs zu vertreten. Bei meinen Recherchen im Bundesarchiv und auch anderswo bin ich noch auf acht Urteile des Volksgerichtshofs gestoßen, bei denen Lenhardt als Vertreter des Oberreichsanwalts in der Hauptverhandlung die Anklage vertreten hat. Auch hierbei handelte es sich um Annexionsverfahren.
Ein Verfahren richtete sich gegen den Wiener Versicherungsangestellten Anton Steffek. Man machte ihm wegen einer Äußerung in einer Gastwirtschaft den Prozess wegen Wehrkraftzersetzung und Volksverrat durch Lügenhetze. Er hatte in der Gaststätte laut behauptet, die Massenmorde an den polnischen Offizieren in Katyn seien nicht von den Sowjets, sondern von der Waffen-SS verübt worden, und was vom Propagandaministerium komme, glaubten die Wiener nicht, das fresse ja kein Hund. Deshalb verurteilte ihn der 5. Senat des Volksgerichtshofs zum Tode. Vertreter der Anklage war Dr. Lenhardt.
Ein anderes Verfahren betraf den österreichischen Landwirt Johann Mittendick, ihm legte die Anklage Vorbereitung zum Hochverrat zur Last. Er hatte, als er mit seinem Pferdefuhrwerk unterwegs war, mit einem ihm unbekannten Bauern ein Gespräch über das Sudetenland angefangen. Dabei fragte er, ob sich die Leute dort wohl fühlten, da sie nun zum Deutschen Reich gehörten. Als der Bauer das bejahte, sagte der Angeklagte:
Das ist nicht wahr. In drei Wochen ist der Otto (gemeint ist: Otto von Habsburg) da. Der Führer schaut schon schlecht aus, er wird die Juni-Offensive schon nicht mehr durchführen. In drei Wochen ist der Krieg verloren. Ich habe die letzte Rede von Otto im Schwarzsender gehört. Russland und Deutschland müssen sich verbluten. Es wird dann kein Deutsches Reich mehr geben, das alte Österreich wird wieder erstehen und Amerika wird alles beherrschen. Das Sudetenland und das heutige Protektorat werden wieder zu Österreich kommen.
Diese Äußerung war für den Volksgerichtshof hochverräterisch und wehrkraftzersetzend, deshalb verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum Tode.
Außer der Vorbereitung der Anklageschriften und der Vertretung des Oberreichsanwalts in den Hauptverhandlungen des Volksgerichtshofs oblag den Hilfsarbeitern wie Lenhardt auch die Teilnahme an Hinrichtungen. Von Lenhardt ist überliefert, dass er seinerzeit Kollegen in Trier kaltblütig erzählt habe, als Vertreter des Oberreichsanwalts habe er in einer Nacht 186 Personen, je 8 auf einmal, hängen lassen.
Nach dem Krieg kehrte Lenhardt nach Neuwied zurück. Im Juni 1945 kam er aber in Internierungshaft, in das Internierungslager Idar-Oberstein. Dort war auch ein gewisser Albert Zengerling. Er war der Auffassung, dass er nicht in dieses Lager gehörte und beantragte deshalb seine Entlassung. Daraufhin stellte die deutsche Lagerleitung ein aus ca. 10 Personen bestehendes „Gericht“ zusammen. Versammelt waren da ein Standartenführer, ein Ortsgruppenleiter, einige Leute von der Gestapo, ein Baron – und Dr. Gerd Lenhardt als Vorsitzender. Vor diesem Gericht musste Zengerlein dann erscheinen. Wie es ihm erging, schilderte er nach seiner Flucht aus dem Lager der französischen Militärpolizei wie folgt:
Vor dieser hier genannten Nazibande sollte ich mich nun ob meines Verbrechens, ein Entlassungsgesuch geschrieben zu haben, verantworten. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich hier kein Wort zu sprechen bekam, sondern diese Gerichtsverhandlung diente nur dem Zweck, mich über eine Stunde lang zu schmähen, zu beschimpfen und zu drangsalieren. (…) Einer der Schlimmsten hierbei war Landgerichtsdirektor Lenhardt. Dieses so genannte Gericht beschloss seine Sitzung mit dem Urteil, mir alle drei Monate die Haare kurz zu scheren und dem Lager frei zu geben, d. h. mich als Freiwild zu erklären. Hierauf fielen die Bestien über mich her, verprügelten mich und traten mich mit Füßen, wie man es keinem Tier zukommen lässt. Ich verlor bei dieser Prozedur die Besinnung, worauf sie mich nach ca. zwei Stunden an die Wasserleitung schleppten und solange den Wasserstrahl auf mich richteten, bis ich wieder zu mir kam. Tage darauf hat mir der Friseur X. aus Trier die Haare geschnitten bzw. ausgerissen und mit der Haarschneidemaschine auf den Kopf geschlagen, so dass ich aus tausend Wunden blutete. Auch dieser sagte hierbei des Öfteren: „Du Lump, man sollte dich kaputt schlagen, du bist genauso ein Separatisten- und Franzosenschwein wie dein Vater.
Nach der geschilderten mysteriösen Gerichtssitzung bekam ich dann 14 Tage lang fast gar nichts zu essen, wie ich auch für die Folge von der Gemeinschaftsverpflegung völlig ausgeschlossen wurde. Ich wäre tatsächlich in dem Lager umgekommen wie ein Hund auf der Straße, wenn nicht ein Kamerad ab und zu etwas gegeben hätte. (…) Den hier geschilderten Umständen zufolge, die vollauf der genauesten Wahrheit entsprechen, mir jedoch das Leben gänzlich unerträglich machten, entschloss ich mich, (…) aus dem Lager zu fliehen, denn nur durch die Flucht war es mir möglich, mein Leben zu retten, denn ich habe es gesehen und erfahren, dass Nazis nichts kennen als Brutalität.
Nach der Entlassung aus dem Internierungslager zog Lenhardt wieder nach Neuwied. Zunächst fiel es ihm schwer, beruflich Fuß zu fassen. Anfangs war er bei einer Handelsfirma beschäftigt. Ab Mai 1949 war er in einem Rechtsanwaltsbüro tätig, um in Verbindung mit seinem Beruf zu bleiben.
Unterdessen unterzog sich Dr. Lenhardt in Trier dem Entnazifizierungsverfahren. Es dauerte zwei Jahre – von 1947 bis 1949 – und war sehr wechselvoll. Der Öffentliche Ankläger wollte erreichen, dass Lenhardt in die Gruppe II der Belasteten eingereiht würde. Ausschlaggebend war für ihn neben dem frühen Eintritt Lenhardts in die NSDAP, die positiven Stellungnahmen über seine politische Zuverlässigkeit und seine Beförderung zum Landgerichtsdirektor im Jahre 1938 insbesondere seine mehrjährige Tätigkeit am Volksgerichtshof.
Zu seiner Verteidigung hatte Lenhardt ca. 30 Leumundszeugnisse aus dem In- und Ausland aufgeboten. Fürsprecher waren zum Beispiel der Domvikar Dr. Meid, der als Sonderbeauftragter des Trierer Bischofs Bornewasser die Sittlichkeitsprozesse beobachtet hatte, aber auch ein Luxemburger Rechtsanwalt sowie der Rechtsanwalt, der den Angeklagten John in dem Bestechungsprozess verteidigt hatte. Der letztgenannte Rechtsanwalt versicherte an Eidesstatt, dass Lenhardt in dem damaligen Strafverfahren gegen seinen Mandanten in keinem Stadium des Verfahrens die Gebote der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit außer Acht gelassen und der Wahrheit zum Siege verholfen habe und Versuchen, das Verfahren auch politisch auszuschlachten, entgegengetreten sei. Wörtlich sagte dieser Rechtsanwalt:
Dr. Lenhardt hat in diesem Verfahren die Idee des Rechtsstaates vertreten und sich niemals als Handlanger von Dienststellen der NSDAP gezeigt. (…) Er hat diesen Prozess als Richter alter Schule geleitet, frei von nazistischer Infizierung und nationalsozialistischer –aktivistischer Handlungsweise.
Das machte auf den Untersuchungsausschuss Eindruck und führte dazu, dass er vorschlug, Lenhardt in die Gruppe III der Minderbelasteten einzureihen. Damit waren aber beide, der Öffentliche Ankläger und auch Lenhardt, nicht einverstanden. Und so kam es dann am 25. Mai 1949 – zwei Tage nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes - zum Säuberungsspruch der Spruchskammer I in Trier. Damit wurde Lenhardt in die Gruppe IV der Mitläufer eingereiht. Außerdem wurde seine Beförderung zum Landgerichtsdirektor, die er im Jahre 1938 erfahren hatte, rückgängig gemacht. Ihm wurde ein Sühnebeitrag von 1.000 DM auferlegt, der aber durch die Internierungshaft als abgegolten angesehen wurde. Die Argumentation der Spruchkammer war im Wesentlichen wie folgt:
Es ist richtig, dass Lenhardt recht früh der NSDAP beigetreten und aus Eigennutz mit dem System beigetreten und sogar vorübergehend beim Volksgerichtshof in untergeordneter Stellung tätig war. Das war aber nur die formale Seite. Letztlich ist hier aber die Gesamtpersönlichkeit zu sehen und dies ergibt eine ganz andere Betrachtungsweise. Maßgeblich hierfür sind die 30 Leumundszeugnisse. Sie geben zahlreiche hervorragende Beweise für seine wirkliche Einstellung ab. Danach hat Lenhardt die Prozesse – vor allem in Koblenz – objektiv geführt, hat keine politischen Momente hervortreten lassen, und ist sehr höflich und zuvorkommend gewesen. Dieses Verhalten hat er als Landgerichtsdirektor in Trier fortgesetzt. Aus dieser Zeit sind sogar Verfahren gegen örtliche Nazigrößen bekannt, in denen er betont unabhängig auch gegenüber diesen entschieden hat. Es klingt durchaus plausibel, wenn Lenhardt das so darstellt, dass die Nazis in Trier ihn als missliebigen Richter loswerden wollten und ihn zum Volksgerichtshof „weggelobt“ haben. Auf alle Fälle war für seine Versetzung an den Volksgerichtshof nicht seine Parteinähe sondern seine berufliche Qualifikation ausschlaggebend. Vor dem Hintergrund dieses tadellosen Verhaltens während seiner Zeit als Richter an den Landgerichten Koblenz und Trier kann seine Tätigkeit als Hilfsrichter beim Volksgerichtshof und als Hilfsarbeiter beim Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof nicht so schlimm gewesen sein. Es spricht vielmehr eine Vermutung dafür, dass sich Lenhardt da treu geblieben ist. In diese Richtung gehen im Übrigen auch gewisse Informationen, dass er sich für den einen oder anderen Luxemburger u.a., dessen Fall privat an ihn herangetragen wurde, eingesetzt hat. Nach Überzeugung der Spruchkammer überragt die anständige Gesamthaltung Lenhardts dessen erhebliche Formalbelastung. Übrig bleiben nur das schlechte politische Vorbild, das Lenhardt für Untergebene u. a, gegeben hat und auch die Geschichte mit dem Gericht im Internierungslager. Aber bei letzterem glaubt die Spruchkammer Lenhardt, dass er da nur mitgemacht hat, um die notwendige Disziplin im Lager aufrecht zu erhalten.
Nach diesem für ihn sehr günstigen Spruch als Mitläufer, der dann auch rechtskräftig wurde, sah das für Lenhardt doch recht gut aus. Daraufhin meldete er sich aufgrund des Gesetzes über die Rechtsstellung früherer Angehöriger des öffentlichen Dienstes vom 23. März 1949 zur Wiederverwendung im öffentlichen Dienst.
Der zu dem Wiedereinstellungsgesuch Lenhardts befragte Landgerichtspräsident von Trier gab ein widersprüchliches Stimmungsbild unter den ehemaligen Kollegen wieder. Die Meinungen gingen auseinander. Während einerseits eine Wiederbeschäftigung wegen der Tüchtigkeit und flotten Arbeitsweise von Lenhardt begrüßt wurde und man ihm nichts Schlechtes nachsagen konnte und er sogar Urteile gegen Parteigrößen gefällt hatte, gab es aber auch Gegenstimmen. Man befürchtete, dass man Lenhardt vorhalten könne, dem Ruf an den Volksgerichtshof gefolgt zu sein. Außerdem machten Gegner seiner Verwendung als Richter geltend, dass er offenbar ein Mann ohne Herz sei. Sie verwiesen dabei auf die Geschichte mit den 186 Menschen, die Lenhardt in einer einzigen Nacht hängen ließ. Als ganz so schlimm sahen sie es aber nicht an, dass ihm offenbar das menschliche Gefühl fehle. Denn sie meinten, zum Oberstaatsanwalt sei er aber schon eher geeignet. Dieser Einschätzung schloss sich auch der Präsident des neu gegründeten Oberlandesgerichts Koblenz an. Er meinte, Lenhardt sei seinen Fähigkeiten entsprechend in erster Linie als Staatsanwalt bei einer Staatsanwaltschaft und zwar in einem anderen Bezirk zu beschäftigen, da ihm dies Lenhardts Wesensart am besten zu entsprechen scheine.
1951 und 1952 bewarb sich Lenhardt dann auf eine frei werdende Stelle eines Landgerichtsdirektors beim Landgericht in Koblenz und um eine solche beim Landgericht in Landau/Pfalz. Zu seiner Tätigkeit beim Volksgerichtshof meinte er dabei, diese könne einer Wiederverwendung nicht entgegenstehen, da ein früheres sogar planmäßiges Mitglied des Volksgerichtshofs inzwischen ein Richteramt im Land Rheinland-Pfalz bekleide. Im Übrigen hieß es in dem Bewerbungsschreiben: „Inzwischen sind 6 ¾ Jahre seit meiner letzten amtlichen Tätigkeit vergangen. Diese lange Zeit scheint mir eine ausreichende Sühne für meine Zugehörigkeit zu der NSDAP zu sein. Ich habe ohne die geringste Anfeindung gegen meine richterliche Tätigkeit (abgesehen von Angriffen seitens der NSDAP) diese zum Ruhme der Justiz ausgeübt und möchte diese als Richter in gleicher Weise fortsetzen.“
Wenn es zunächst auch nicht zur Rückkehr in den Beruf des Richters und in seiner alten Position als Landgerichtsdirektor gereicht hatte, so wurde Lenhardt doch mit Einverständnis des Ministerpräsidenten Peter Altmeier im höheren Justizdienst des Landes wieder verwendet und ab dem 16. Mai 1952 als Hilfsstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Zweibrücken bestellt.
Wenig später hatte sein Dienstvorgesetzter schon eine Meinung von ihm und stellte fest:
Dr. Lenhardt ist ein sehr gewandter und einsatzfähiger Beamter. Er ist sehr befähigt und zeigte einen unermüdlichen Arbeitseifer. Er verfügt über eine sehr gute Allgemeinbildung und ein umfassendes Fachwissen. Seine jahrelange Tätigkeit auf dem Gebiete des Strafrechts kam ihm bei der Einarbeitung bei der Staatsanwaltschaft sehr zustatten. Ein rasches und treffendes Auffassungsvermögen sowie ein klares Urteil und die entsprechende Spannkraft zeichnen ihn besonders aus. (…) Dr. Lenhardt ist ein voll leistungsfähiger Beamter, immer hilfsbereit und versah sein Dezernat vorbildlich, ohne irgendwelche Reste zu hinterlassen. Er ist eine Persönlichkeit von offenem Wesen, untadeliger Gesinnung und gediegener Lebensauffassung. Er verfügt über beste Umgangsformen. (…) Es wäre zu wünschen, dass Dr. Lenhardt, der auch über eine gute kriminalistische Begabung verfügt, der Strafrechtspflege, insbesondere dem Dienst bei der Staatsanwaltschaft, erhalten bliebe. Er hat es verdient, recht bald wieder in eine Planstelle eingewiesen zu werden. Eifer, Fleiß und Leistungen verdienen uneingeschränkt das Gesamturteil: „vollbefriedigend“ – obere Grenze -.
Seine Förderung wurde noch einige Monate zurückgestellt. Mit Wirkung vom 1. November 1953 wurde er aber planmäßig ernannt und zum Ersten Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern befördert. Schon ein halbes Jahr später gab es erneut eine dienstliche Beurteilung, wiederum mit der Note „vollbefriedigend“ – und das obwohl es grundsätzlich heißt: „Nach einer Beförderung eine Note runter.“ Weitere zwei Jahre später folgte die nächste dienstliche Beurteilung zum 1. August 1956. Sie lautete auf das Gesamturteil: „vollbefriedigend mit Neigung zu gut“. Am selben Tag wurde der Erste Staatsanwalt Dr. Lenhardt zum Oberlandesgerichtsrat befördert. Er war dann an dem Strafsenat des Oberlandesgerichts in Neustadt an der Weinstraße tätig (dem Vorgänger des heutigen Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken).
Auch da war man mit Lenhardt sehr zufrieden. In einer dienstlichen Beurteilung ein ¾ Jahr später hieß es:
Dr. Lenhardt ist ein geistig beweglicher, auch neu an ihn herantretenden Aufgaben gegenüber elastischer Jurist von überdurchschnittlichen Fähigkeiten und gediegenen Fachkenntnissen. Nach langer staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit ist es verständlich, wenn Dr. Lenhardt, in der Hauptsache auf das Praktische ausgerichtet und seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr geübt, Urteile schriftlich auszuarbeiten, einige Schwierigkeiten hat, den besonderen Anforderungen gerecht zu werden, die an einen Revisionsrichter herantreten. (…) Dr. Lenhardt ist eine musische, der heiteren Lebensfreude zugekehrte Persönlichkeit, offen in seinem Wesen, in Worten und Gesten auf das Verbindliche gestimmt.
Das Gesamturteil lautete auf „befriedigend“. Ein Jahr später sprach ihm Ministerpräsident Peter Altmeier im Namen des Landes Rheinland-Pfalz aus Anlass des 40-jährigern Dienstjubiläums für die der Allgemeinheit geleisteten treuen Dienste Dank und Anerkennung aus.
In dieser Zeit gab es bereits die sog. Braunbuch-Kampagne der sog. DDR. Diese begann damit, dass ein Ausschuss unter Leitung von Albert Norden eine Broschüre mit dem Titel: „Gestern Hitlers Blutrichter – heute Bonner Justizelite“ herausbrachte. Es enthielt Kurzporträts von 118 Richtern und Staatsanwälten in der Bundesrepublik unter Angaben ihrer Funktionen in der NS-Zeit. Wohl schon von Anfang an war Dr. Lenhardt im Visier der DDR. Bereits in der ersten Dokumentation vom 23. Mai 1957 wurde er erwähnt. Allerdings firmierte er als „Kammergerichtsrat“, aber immerhin war seine gegenwärtige Tätigkeit mit Erster Staatsanwalt in Kaiserslautern zutreffend umschrieben. Auch in den weiteren Fortschreibungen dieses Dossiers wurde Lenhardt erwähnt. Mir liegt eine Dokumentation vom 21. Oktober 1958 vor. Darin ist er wiederum aufgeführt. Darin heißt es, Lenhardt habe man inzwischen die Mitwirkung an 17 Todesurteilen des Volksgerichtshofs nachweisen können. Darin wird auch ein Todesurteil gegen einen Benediktinerpater aus Ungarn erwähnt, der wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt worden war. Der Pater hatte – wie es in dem Urteil hieß – einen Brief an den Erzabt der Benediktiner in Ungarn geschrieben, der die „schwersten Beschimpfungen unseres Führers und der NSDAP“ enthalten habe.
Das war für das rheinland-pfälzische Justizministerium natürlich recht unangenehm. Nicht nur hier sondern bundesweit versuchte man, diese Kampagne zu diffamieren, die Angaben als Lüge, die Dokumente als Fälschungen hinzustellen. Wenn es auch richtig war, dass dies eine gezielte Kampagne zur Diffamierung der Bundesrepublik war und auch schon einmal Namensverwechslungen und falsche Schreibweisen vorkamen, so änderte das doch nichts an der Tatsache, dass die Angaben aus der NS-Zeit ganz generell zutrafen. - Dem Justizministerium blieb dann nichts anderes übrig, als von Lenhardt eine dienstliche Stellungnahme einzuholen. In seiner Äußerung wandte er sich gegen diese kommunistischen Hetzschriften und machte geltend, es liege offensichtlich eine Personenverwechslung vor, die bezeichnend für die Beweiskraft dieser Dokumentation sei.
Aber das ganze kam nicht mehr zur Ruhe. Nur wenig später wurde dem Justizministerium ein Zeitungsartikel aus dem Neuen Deutschland vom 20. Juni 1957 zugespielt. Darin wird unter der Überschrift: „Dr. Lenhardt, erinnern Sie sich? Sie sind des Mordes an Henri Compain, Jean Bideguenberry und Pierre Dubouies schuldig!“ aus einem an Lenhardt gerichteten Brief zitiert, in dem es u.a. heißt:
Erinnern Sie sich des französischen Patrioten Jean Langlet? Er wurde von Ihnen im November 1944 zusammen mit vielen anderen französischen Patrioten in Linz verurteilt! Er lebt! Und er schreibt mir, Sie selbst betreffend: „Den möchte ich nur eine kleine Viertelstunde in meinen Händen haben…“
Am 1. Mai 1945 wurde er aus den Krallen von Nazis auf der Straße nach Ankam (Bayern) befreit. Sein Freund, Henry Compain, auch von Ihnen angeklagt und verurteilt, wurde auf einer Straße Bayerns ermordet. Zwei andere seiner Freunde: Jean Bideguenberry und Pierre Dubouies, gleichfalls von Ihnen zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt, wurden im Zuchthaus Straubing in Bayern durch eine tödliche Spritze ermordet.
Es überlebten und klagen Sie an: (es folgen dann 12 Namen)
Diesem Artikel beigefügt war im Neuen Deutschland dann ein Abdruck eines undatierten Schreibens dieses Jean Langlet an den Chefredakteur des Neuen Deutschland, das im Wesentlichen entsprechende Angaben enthielt.
Zur Stellungnahme aufgefordert, machte Lenhardt geltend, er könne an einem Urteil des Volksgerichtshofs im Jahre 1944 überhaupt nicht mitgewirkt haben, da er in jener Zeit an die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof abgeordnet gewesen sei. Im Übrigen habe er als Angehöriger der Reichsanwaltschaft die Anklagen weisungsgemäß zu vertreten. Schließlich gab er noch eine umfangreiche Stellungnahme ab. Darin äußerte er sich auch zu der Geschichte mit den 186 Hinrichtungen an einem Tag, und zwar wie folgt:
Ich erinnere mich daran, dass in einer Nacht 186 Personen hingerichtet wurden. Ich selbst hatte auf Weisung des Oberreichsanwalts einer Hinrichtung beizuwohnen. Ich erfuhr erst unmittelbar vor der Hinrichtung, dass es sich um 20 Hinzurichtende handelte. Wenn behauptet wird, dass ich der Hinrichtung von 186 Personen beigewohnt hätte, muss ich mit aller Entschiedenheit erklären, dass diese Angabe unrichtig ist. Dazu ist ein Mensch physisch gar nicht in der Lage. Ich selbst habe unter dem Eindruck der Hinrichtung einen solchen seelischen Schock bekommen, dass ich für einige Tage mit dem Dienst aussetzen musste. Gelegentlich einer Anwesenheit in Trier habe ich auf Befragen der Kollegen selbstverständlich über die Methoden des Volksgerichtshofs berichtet, und zwar beispielhaft, dass in einer Nacht 186 Personen hingerichtet worden seien. Nur ein böswilliger Zuhörer kann aus dieser Erzählung von mir den Schluss gezogen haben, dass ich selbst den 186 Hinrichtungen in einer Nacht beigewohnt habe. Ich vertraute selbstverständlich meinen Kollegen in Trier und wollte sozusagen meinem Herzen Luft machen und ihnen klar machen, was einem abgeordneten Richter bei der Reichsanwaltschaft des Volksgerichtshofs zugemutet wird.
Abschließend kam Lenhardt in seiner Stellungnahme zu dem Resümee, er sei im Allgemeinen ein milder Richter in Strafsachen gewesen. So habe sich auch kein Verurteilter nach Kriegsende gemeldet mit der Behauptung, er wäre zu Unrecht oder zu hart von ihm bestraft worden. Er habe nach bestem Wissen und Gewissen sein Richteramt beim Volksgerichtshof ausgeübt und sich auch als Anklagevertreter korrekt verhalten. Selbstvorwürfe habe er sich nicht zu machen. Er bedauere nur, dass übermächtige Gewalten ihn zur Ausübung dieser Ämter beim Volksgerichtshof geführt hätten. Seinem Wesen nach hätten ihm diese Richtertätigkeit und diese staatsanwaltschaftliche Funktion nicht gelegen. Er wäre nur gar zu gern Vorsitzender einer Strafkammer geblieben.
Aber es ging weiter. Es waren dann zwei Studenten, die diese Vorwürfe der DDR aufgriffen. Sie organisierten mit Unterstützung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Karlsruhe Ende November 1959 eine Ausstellung mit dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“. Wenig später erstatteten sie u.a. gegen Lenhardt bei der Staatsanwaltschaft Frankenthal Strafanzeige wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag. Zugrunde lagen der Anzeige vier Strafverfahren, in deren Hauptverhandlung Lenhardt als Vertreter des Oberreichsanwalts teilgenommen hatte.
Zum einen ging es um das Verfahren Robert Bayon und 18 weitere Angeklagte. Bayon und drei weitere Angeklagte wurden am 20./21. November 1944 zum Tode verurteilt, weil sie 1943 in Linz an der Donau französischen Kriegsgefangenen zur Flucht verholfen hatten.
In dem Verfahren Josef Jakobovits und sechs weiterer Angeklagte wurden Jakobovits und ein weiterer am 10. Dezember 1943 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt.
In dem dritten Verfahren gegen Paul Hilt und drei weitere Angeklagte wurde Hilt – ein Lothringer - am 11. November 1944 wegen Betätigung in der Widerstandsgruppe „Parti de Gaulle“ zum Tode verurteilt.
Und schließlich lag der Strafanzeige noch das Verfahren gegen den Benediktinerpater Josef Pontiller zugrunde. Pontiller wurde am 27. Oktober 1944 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt, weil er in Ungarn einen Brief mit Beschimpfungen Hitlers und der NSDAP an seinen Abt geschrieben hatte und ihm unterstellt wurde, er habe sich geschlechtlich an deutschen Jungen vergangen.
Nachdem dem Oberstaatsanwalt in Frankenthal vom Generalstaatsanwalt in Ost-Berlin Kopien von drei Todesurteilen übermittelt worden waren, an denen Lenhardt als Anklagevertreter beteiligt war, blieb dem Oberstaatsanwalt in Frankenthal nichts anderes übrig, als diese Vorgänge ernstlich zur Kenntnis und zum Anlass für ein Ermittlungsverfahren zu nehmen.
Unterdessen hatte Lenhardt am 28. Januar 1960 den Antrag, ihn zum 30. Juni 1960 – mit Vollendung des 62. Lebensjahres - in den Ruhestand zu versetzen, gestellt. Diesem gab Ministerpräsident Altmeier alsbald statt und sprach ihm für die in langjähriger treuer Pflichterfüllung geleisteten Dienste den Dank und die Anerkennung der Landesregierung aus.
Dann verliert sich die Spur von Dr. Gerd Lenhardt. Ich weiß nur noch, dass dieser „furchtbare Jurist“ sich nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst als Rechtsanwalt in Neuwied niedergelassen hat und dort noch länger tätig war.
Tja, meine Damen und Herren, das war das dritte Porträt eines NS-Täters aus Koblenz und Umgebung und für dieses Jahr auch das letzte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.