Vortrag über Verfolgung und Widerstand im nördlichen Rheinland-Pfalz in Plaidt.
Unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig hielt am 20. März 2015 auf Einladung des Plaidter Geschichtsvereins in der Hummerichhalle in Plaidt einen Vortrag zum Thema: "Verfolgung und Widerstand 1933 - 1945 im heutigen Rheinland-Pfalz" gehalten. Der Vortrag fand sehr reges Interesse, zumal der Referent auch gerade auf Verfolgte und Widerständler aus der Pellenz einging.
Joachim Hennig beim Vortrag in Plaidt (Foto: Dr. Heinrich Kraemer)
Lesen Sie nachfolgend den Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig:
Verfolgung und Widerstand im heutigen nördlichen Rheinland-Pfalz 1933 - 1945
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
haben Sie vielen Dank für die freundliche Begrüßung, die einführenden Worte und Ihnen allen für Ihr Kommen.
Ich möchte mich noch kurz bei Ihnen vorstellen. Von Beruf bin ich Richter, ich bin seit 1 1/2 Jahren im Ruhestand. Ansonsten bin ich seit vielen Jahren in der Gedenkarbeit in und um Koblenz aktiv. Ich bin Gründungsmitglied und heute stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz, stellvertretender Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit im heutigen Rheinland-Pfalz sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Fachbeirats zur Gedenkarbeit bei der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. Ansonsten bin ich Autor, Ausstellungs- und Filmemacher, Referent, Tagungsleiter zum Thema juristische Zeitgeschichte und vor allem zur Gedenkarbeit im nördlichen Rheinland-Pfalz. Da passt es natürlich sehr gut, dass ich heute bei Ihnen bin und Ihnen einiges zur Verfolgung und Widerstand im heutigen Rheinland-Pfalz 1933 – 1945 erzähle.
Wir wollen uns jetzt nicht weiter bei der Vorrede aufhalten. Wir haben heute Abend ein dichtes Programm. Das Thema ist sehr komplex, da gibt es viel zu erzählen und mit der Powerpoint-Präsentation zu zeigen. Ich werde versuchen, das Thema komprimiert auf 1 ½ Stunden zusammenzufassen. Danach gibt es dann noch Gelegenheit zur Diskussion.
In meinem Vortrag werden Sie sicherlich einiges über das heute nördliche Rheinland-Pfalz und seine Bürger erfahren, was Ihnen noch nicht so bekannt war. Manches werden Sie auch wiedererkennen, denn Sie kennen es aus der deutschen Geschichte. Das braucht Sie nicht zu wundern. Vieles, was anderenorts geschah, geschah auch hier im nördlichen Rheinland-Pfalz und auch in der Pellenz. Diese Region und seine Bürger waren damals nicht ungewöhnlich – nicht besonders „stramm“ „Nazi“ und auch nicht besonders „Anti-Nazi“. Das nördliche Rheinland-Pfalz war während des Nationalsozialismus, also in der gesamten Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945, eine „normale“ Region. Koblenz war zwar „Gauhauptstadt“, Hauptstadt des NS-Gaues Koblenz-Trier (später: Gau Moselland), aber ansonsten eine Stadt und auch eine Region wie jede andere auch, mit Opfern und mit Tätern, und natürlich auch mit vielen, viel zu vielen Zuschauern. Das nördliche Rheinland-Pfalz war während der NS-Zeit so „Durchschnitt“, so „normal“, dass man an seiner Geschichte im Großen und Ganzen die Geschichte der Verfolgung und des Widerstandes im „Dritten Reich“ regionalgeschichtlich wieder findet - sofern man nur lang und intensiv genug den Spuren der Täter und der Opfer nachgeht.
Die Verfolgung in Koblenz und Umgebung begann schon wenige Tage nach der sog. Machtergreifung am 30. Januar 1933 mit dem Erscheinungsverbot für Zeitungen, mit der Verhinderung von Demonstrationen und der Entfernung von Demokraten aus Schlüsselstellungen in den Verwaltungen. Eines der ersten Opfer war der Polizeipräsident von Koblenz, Dr. Ernst Biesten. Getreu seinem Wahlspruch „Tue recht und scheue niemand!“ war er seit Jahren ein entschiedener Gegner der Nazis gewesen. Immer wieder trat Biesten mit seiner Koblenzer Polizei ihnen entschieden entgegen und ließ nach dem sog. Schwarzen Sonntag von Nastätten 69 NS-Rabauken zusammen mit dem damaligen NS-Gauleiter Robert Ley festnehmen und für einige Tage im Koblenzer Gefängnis in Haft halten. Was sie jahrelang nicht schafften, gelang den Nazis dann aber schon zwei Wochen nach der „Machtergreifung“. Sie setzten Biesten als Polizeipräsidenten von Koblenz ab. Am Tag darauf, am 14. Februar 1933, brachte das Nazi-Organ „Koblenzer Nationalblatt“ voller Häme und Genugtuung mit einer zynischen Karikatur Biestens die Meldung des Tages.
Zu einem Strafverfahren gegen Biesten kam es zwar nicht, aber die Nazis sorgten dafür, dass er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ während der ganzen Naziherrschaft kein öffentliches Amt mehr bekleiden konnte. Auch Rechtsanwalt durfte er nicht werden. Er überlebte die Diktatur, war Mitbegründer der CDU in Koblenz, einer der Väter rheinland-pfälzischen Verfassung und schließlich erster Präsident des Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs von Rheinland-Pfalz.
Die Kommunisten waren als erste im Fadenkreuz der Nazis. Zwar gab es Aufrufe von ihnen zu einem Generalstreik – mehr aber auch nicht. Stattdessen gab Hitler für die Wahlen im März 1933 die Parole aus: „Kampf gegen den Marxismus!“ Da war der Brand des Reichstags am Abend des 27. Februar 1933, den die Nazis den Kommunisten in die Schuhe schoben, für sie ein „gefundenes Fressen“. Später erinnerte sich der in St. Sebastian geborene und später in Metternich lebende Kommunist Jakob Newinger u.a. daran, dass er am 28. Februar 1933 als erster verhaftet wurde und sich die Menschenmenge auf der Straße – es war gerade Karneval - für ihn einsetzte. Das alles half aber nichts. Als die Ansammlung immer größer wurde, rief der Naziwirt das Überfallkommando an, was auch bald erschien und mich unter Protest der Massen in das Auto zerrte und ins Polizeigefängnis brachte. Andern Tags kamen noch mehr Kommunisten ins Gefängnis.
Newinger und die anderen Kommunisten kamen in sog. Schutz-haft. Diese sollte hinfort das Mittel der Nazis und ihrer vielen Helfer sein, die politischen Gegner oder die, die sie dafür hielten, wegzusperren und zu schikanieren. Festgehalten wurden sie in Koblenz vornehmlich in dem Gerichtsgefängnis in der Karmeliterstraße. Das steht heute nicht mehr. Es stand da, wo sich jetzt der rückwärtige Teil des BWB („Koblenzer Hof“) befindet und das Gedenkrelief für Pater Josef Kentenich angebracht ist – direkt neben dem Landeshauptarchiv Koblenz.
Es folgten die ersten Drangsalierungen der Juden, indem man sie aus der Richterschaft, der Staatsanwaltschaft, der Rechtsanwalt-schaft sowie aus dem juristischen Vorbereitungsdienst entfernte, ihre Geschäfte boykottierte und sie wegen vermeintlicher Straftaten stigmatisierte.
Zum 1. Mai 1933 organisierten die Nazis einen großen Bluff, dem auch die Gewerkschaften erlagen: Sie veranstalteten den traditionellen Kampftag der Arbeiterbewegung, den 1. Mai, mit Demonstrationen und Aufmärschen in ihrem Sinne und erklärte ihn erstmals in der deutschen Geschichte zum Feiertag, zum „Feiertag der nationalen Arbeit“. Ziel der Nazis war es, die Gewerkschaften in Sicherheit zu wiegen und den Arbeiter für sich und die deutsche „Volksgemeinschaft“ zu gewinnen.
Auch in Koblenz und Umgebung wurde der 1. Mai nach Art der Nazis gefeiert. Die nachfolgenden Schlagzeilen aus dem „Koblenzer Nationalblatt“ vermitteln einen gewissen Eindruck:
Die Schlagzeile vom 2. Mai lautete:
Der Tag des deutschen Sozialismus – Gewaltige Massenkundgebungen im Südrheinland.
Und im regionalen Teil von Koblenz hieß es:
Koblenz feiert den 1. Mai – und Feuer grüßen über den Rhein – Gewaltiger Lichterzug zum Oberehrenbreitstein – Der Gruß der 10.000 an den Führer.
Das war das Vorspiel nur und am folgenden Tag kam das, was die Nazis schon längst geplant hatten: die Zerschlagung der Gewerkschaften. Überall im Deutschen Reich stürmte die SA die Gewerkschaftsbüros, verhaftete Funktionäre und beschlagnahmte das Eigentum. Die Regierung erklärte die Freien Gewerkschaften für aufgelöst und bildete die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley als Zwangsvereinigung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften und vor allem dem Verbot der SPD am 22. Juni 1933 als „staats- und volksfeindlich“ setzte sich die Verfolgung des politischen Gegners fort. Die anderen Parteien – wie etwa die katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei – wurden übrigens nicht verboten. Sie kamen dem drohenden Verbot zuvor, indem sie sich selbst auflösten. Anfang Juli 1933 gab es im Deutschen Reich nur noch eine Partei: die NSDAP.
Jetzt wurden außer den Kommunisten verstärkt auch Sozial-demokraten, Gewerkschafter und oppositionelle Bürgerliche in „Schutzhaft“ genommen. Viele von ihnen kamen in die auf dem Clemensplatz in Koblenz stehende SS-Kaserne. Einer der Misshandelten verdeutlichte die Schwere der Misshandlungen damit, dass er miterlebte, wie zwei Putzfrauen aus dem Dachfenster des daneben liegenden Oberpräsidiums auf die Straße riefen: „Hilfe, hier werden Leute misshandelt!“ Daraufhin – so die Aussage – ergriff ein SS-Posten das Gewehr und rief zurück: „Wenn ihr nicht mit euren Köpfen verschwindet, schieße ich euch die Köpfe ab!“ Sodann fanden die Vernehmungen in der Autohalle im Hof des Oberpräsidiums statt.
Die ersten Koblenzer, es waren ca. 40 Schutzhäftlinge, kamen in das neu errichtete Konzentrationslager Esterwegen im Emsland. In diesem Emslandlager – in denen übrigens das heute noch bekannte antifaschistische Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ entstand - wurden sie u.a. von dem bereits erwähnten Koblenzer SS-Mann Emil Faust gequält. Faust wurde dann schon sehr bald Kommandant des Konzentrationslagers Neusustrum im Emsland. Er quälte die Häftlinge so sehr, dass es sogar der politischen Polizei zu viel wurde. Faust wurde als Lagerkommandant abberufen und einige Zeit später Hausmeister in der Neuendorfer Volksschule – der heutigen Willi Graf-Schule. Das war dann wohl der „richtige Wirkungskreis“ für ihn.
Drangsaliert - wenn auch in deutlich geringerem Maße - wurden auch die Mitglieder des Zentrum. Ihre Abgeordneten verloren ihre Mandate und waren Diffamierungen ausgesetzt. Mit Sparkassen- und Devisenverfahren wollte man sie kriminalisieren. Diese Strafprozesse endeten aber mit Freispruch. Der Name des früheren Reichstagsabgeordneten Eduard Verhülsdonk aus Neuwied, der ebenfalls in „Schutzhaft“ genommen dann aber freigesprochen wurde, steht für diese Opfergruppe.
Härter ging die Justiz mit den Kommunisten um. Anlass für Strafverfahren gegen sie waren etwa illegaler Waffenbesitz, die Herstellung oder Verteilung von Flugschriften der KPD, die Zahlung von Beiträgen an die inzwischen illegale Parteikasse o. ä. Solche Aktivitäten galten als Vorbereitung zum Hochverrat und führten auch bei Koblenzern zu Strafverfahren. So wurden beispielsweise in einem Massenverfahren 21 Koblenzer Kommunisten wegen Verteilung von Flugschriften und Zeitungen sowie sonstiger Betätigung für die inzwischen illegale KPD mit bis zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Die Justiz ließ sich schon sehr früh und auch in anderen Bereichen für das Unrechtsregime missbrauchen. Dies geschah beispielsweise bereits ab 1934 in den Erbgesundheitsgerichten, die aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nach-wuchses“ sog. Rassenhygiene betrieben. Auch das in Koblenz ansässige Erbgesundheitsgericht ordnete Zwangssterilisationen an. Allein 1934 waren es 530 und 1935 920 Anordnungen. Die allermeisten Unfruchtbarmachungen erfolgten zwangsweise. Viele wurden im Koblenzer Krankenhaus Kemperhof durchgeführt.
Eine andere Form des Rassismus der Nazis war es, „fremde Rassen“ als genetisch „minderwertig“ zu stigmatisieren, wie es etwa durch die sog. Nürnberger Gesetze und ihre Folgeerscheinungen geschah. In Verfolg dessen gab es in Koblenz kurz nach Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ die „Judenliste von Koblenz“. Mit ihr wurde unter Namensnennung im Einzelnen zum Boykott gegen jüdische Geschäfte, Rechtsanwälte, Ärzte u.a. aufgerufen wurde. Nach dem „Blutschutzgesetz“, einem Nürnberger Gesetz, waren außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen Juden und „Ariern“ verboten. Schon ein Kuss war versuchte „Rassenschande“. Der 57jährige Jude Max Kaufmann aus Koblenz wurde wegen eines solchen Kusses vom Landgericht Koblenz zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Diese Strafe büßte er vollständig und wurde als Jude alsbald in den Osten deportiert.
Zentrum dieses sich immer mehr steigernden Terrors war die Leitstelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo-Leitstelle) in der Straße „Im Vogelsang“. Das Gebäude existiert heute nicht mehr, wohl aber die Straße „Im Vogelsang“. Es ist eine kleine Straße neben dem heutigen Landeshauptarchiv und sie führt - heute wie früher - auf den Haupteingang des Gebäudes des Landgerichts. Erst um 1936 hatte die Gestapo das Gebäude bezogen. Es war viele Jahre lang von der Reichsbank genutzt worden. Als diese dann in die Neustadt am Schloss zog in das Gebäude, in dem sich heute die Filiale der Deutschen Bundesbank befindet, wurde dieses alte Reichsbankgebäude frei. In das zog wie gesagt die Gestapo. Sie können sich vorstellen, was sich dort jahrelang in den im Keller gelegenen Tresorräumen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgespielt hat. Dort war das „Hausgefängnis“ der Gestapo(leit)stelle Koblenz. Dorthin wurden Mitbürger gebracht, vor allem um sie zu verhören und dabei zu quälen und zu foltern.
Im katholischen Rheinland blieb es nicht aus, dass der politische Katholizismus, die katholische Kirche und der katholische niedere Klerus ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten gerieten. Die Nazis wollten letztlich die gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen, Traditionen und den Einfluss des Katholizismus zurückdrängen. Dabei rückten die katholischen Priester immer mehr in das Blickfeld. Auf ihrem Rücken trugen die Nazis - auch hier - ihren „Weltanschauungskampf“ gegen die katholische Kirche aus. Das sah dann beispielsweise so aus, dass schon die Nichtbeflaggung des Kirchturms Anlass für eine vorüber-gehende „Schutzhaft“ und/oder eine mehrmonatige Gefängnis-strafe war.
Auch evangelische Pfarrer blieben von den Nazis nicht verschont. Einer der bekanntesten ist der Dickenschieder Pfarrer Paul Schneider, der wiederholt in Koblenz in „Schutzhaft“ inhaftiert war. Teils hielt man ihn in dem bereits erwähnten Gefängnis im Gestapo-Gebäude im „Vogelsang“ fest, teils auch im Polizeigefängnis (heute „Neubau“ der Kreisverwaltung Mayen-Koblenz am Friedrich-Ebert-Ring). Aus diesem Polizeigefängnis heraus wurde Pfarrer Paul Schneider ins KZ Buchenwald deportiert. Wegen seines unbeugsamen Widerstehens aus christlicher Überzeugung erhielt er später den Ehrennamen „Prediger von Buchenwald“. Er ist wohl das erste Koblenzer Opfer des nationalsozialistischen Regimes, das in einem Konzentrationslager umgebracht wurde.
Ähnlich aufrecht waren die Zeugen Jehovas bzw. die Ernsten Bibelforscher wie sie damals hießen. Zunächst überzog man sie wegen ihres Glaubens mit Strafverfahren und sperrte sie in Gefängnisse. Später nahm man einige von ihnen auch in Neuwied in „Schutzhaft“ und verschleppte sie in Konzentrationslager. Zwei von ihnen waren die Eheleute Michaelis aus Neuwied. Sie wurden vom Sondergericht Köln, das in Koblenz tagte, zu einem Jahr und vier Monaten bzw. zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Fritz Michaelis kam nach Verbüßung der Gefängnisstrafe nicht frei, sondern wurde in Koblenz in „Schutzhaft“ genommen und dann ins KZ Dachau verschleppt. Ein Jahr später kam er dort um. Seine Frau Liesbeth zog nach der Entlassung aus der Haft nach Berlin. Auch dort blieb sie ihrem Glauben treu, schloss sich einer widerständigen Organisation an und versteckte fahnenflüchtige Glaubensbrüder. Als dies entdeckt wurde, nahm man sie in Haft und verurteilte sie wegen „Wehrkraftzersetzung“ zu fünf Jahren Zuchthaus.
Das Jahr 1938 kündigte einen Wendepunkt der Verfolgung im Nationalsozialismus an. Der Vorbote dieses Wendepunkts war die sog. Reichspogromnacht am 9./10. November 1938. Sie und ihre Folgen machten den jüdischen Mitbürgern deutlich, dass für sie die bürgerlichen Rechte und Gesetze in einem totalen und existentiellen Sinne nicht mehr galten. In Koblenz wurden von Trupps der SA, SS und Gestapo 19 Geschäfte und 41 Wohnungen demoliert und die jüdischen Mitbürger misshandelt. Eine von vielen war Emma Brasch, die Witwe des zwei Jahre zuvor gestorbenen Rechtsanwalts und Justizrats Dr. Isidor Brasch. Die Eheleute und ihre beiden Söhne hatten zunächst in Mayen gewohnt, später hat Dr. Isidor Brasch seine Rechtsanwaltskanzlei nach Koblenz verlegt. Nach dem Tod ihres Mannes und der Auswanderung ihres jüngeren Sohnes Dr. Walter Brasch und seiner Familie war Emma Brasch in Koblenz wohnen geblieben. Am frühen Morgen des 10. November 1938 fiel eine ganze Horde Nazis in das Haus ein und demolierte es. Bereits im Eingangsbereich rissen die Männer die Kacheln von den Wänden und beschädigten das Treppenhaus. Ihre Verwüstung setzten sie in der Wohnung fort, in der sie die 71-jährige Emma Brasch allein antrafen. Die Nazis zerhackten einen großen Teil der Möbel, und plünderten den Inhalt von Schränken. Die entsetzte alte Dame zerrten sie aus der Wohnung, schleppten sie in den Garten, sperrten sie dort ein und machten von ihr, im Nachthemd, ein Foto – um es später in dem Hetzblatt „Der Stürmer“ zu veröffentlichen und damit die Juden insgesamt lächerlich zu machen.
Die Koblenzer Synagoge am Florinsmarkt, in dem „Bürresheimer Hof“, wurde zerstört – nicht wie anderorts in Brand gesetzt, weil sonst die umliegenden Häuser in Mitleidenschaft gezogen worden wären, der Friedhof in der Schwerzstraße geschändet und die Leichenhalle verwüstet.
Die endgültige Wende brachte der vom Hitler am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen entfesselte Zweite Weltkrieg. Auf diese Situation hatten die Nazis nicht nur längere Zeit militärisch und außenpolitisch hingearbeitet, sondern sich auch innenpolitisch vorbereitet. Dazu hatten sie eine Kartei mit SPD-Parteifunktionären und mit Gewerkschaftern angelegt. Am 1. September 1939 verschleppten sie entsprechend dieser sog. A-Kartei-Aktion etwa 850 Personen in Konzentrationslager. Einer von ihnen war der Metternicher SPD-Funktionär Johann Dötsch. Er blieb fast sechs Jahr im KZ Sachsenhausen. Ende April 1945 kam Dötsch von Sachsenhausen aus noch auf den Todesmarsch in Richtung Ostsee. Er überlebte, wurde Anfang Mai befreit. Nach seiner Rückkehr nach Koblenz war er Wiederbegründer der SPD in Koblenz und Präsidialdirektor in der Provinz Rheinland/ Hessen-Nassau. Kaum ein Jahr später starb er an den Folgen der im KZ erlittenen Misshandlungen. Drei Wochen vor seinem Tod ging für ihn noch ein großer Wunsch in Erfüllung: Auf der Bahre wurde er ins Wahllokal getragen und er konnte an den ersten freien Wahlen seit 1933 teilnehmen. Tja, so ändern sich die Zeiten. Wenn heute Wahl ist, gehen viele nicht hin – auch nicht ohne Bahre.
Im Zuge der Kriegsvorbereitungen schufen die Nazis die Grundlagen für die Verfolgung im künftigen Krieg, der dann Verfolgungen in einem ganz anderen Maße auslöste bzw. ermöglichte. Mit Kriegsbeginn holte man die in der Schublade verwahrten Gesetze und Verordnungen hervor und setzte sie in Kraft: die Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz vom 17. August 1938(!), die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939, die Kriegswirtschafts-Verordnung vom 4. September 1939 und die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939. Allein schon die Wortwahl „Volksschädling“ macht deutlich, was damit bezweckt war: die „Schädlingsbekämpfung“, die Vernichtung von Menschen.
Diese Rechtsvorschriften lieferten die scheinlegale Grundlage für die Bestrafung u.a. von Eides- und Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und Saboteuren, und das bedeutete oft - wie es damals hieß - ihre „Ausmerze“. Auch Koblenzer bzw. Personen aus dem Umland wurden Opfer dieser „Blutjustiz“. Einer dieser Eides- und Kriegsdienstverweigerer war der Pallotiner-Pater Franz Reinisch. Er wurde wegen seiner Gewissensentscheidung, den Treueid als wehrpflichtiger Soldat auf Hitler persönlich nicht leisten zu können, vom Reichskriegsgericht in Berlin wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil hingerichtet.
Zur Aburteilung solcher Wehrdienstentziehungen waren auch die zivilen Gerichte zuständig. Solche Straftaten kamen aber nun nicht vor die „normalen“ zivilen Gerichte. Vielmehr hatten die Nazis schon frühzeitig Sondergerichte geschaffen. Ein solches Sondergericht war etwa der Volksgerichtshof in Berlin. Daneben gab es aber solche auch „vor Ort“. Sie hießen auch so - nämlich Sondergerichte - und waren bei den Landgerichten angesiedelt. Zunächst existierte beim Landgericht in Koblenz noch kein derartiges Sondergericht, es wurde dann aber im Jahre 1940 eingerichtet - wegen des starken Geschäftsanfalls wie es hieß. Von da ab spielte in diesem Bereich auch das Sondergericht Koblenz eine schlimme Rolle. Vom Sondergericht in Koblenz sind allein 15 Todesurteile bekannt.
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges markierte in vielem eine schwerwiegende Verschärfung der innen- und außenpolitischen Verhältnisse und eine weitere Radikalisierung der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer. Damit änderten sich die Repressalien der Nazis reichsweit und in dem von ihnen angegriffenen und besetzten Europa, aber auch konkret in unserer Region. Es änderte sich nicht die Richtung der Verfolgung, wohl aber deren Schwere und die Zahl der Opfer. Waren bisher - bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges - die Toten die Ausnahme, so war es für die Zeit danach eher umgekehrt: Die Ausnahme waren die Überlebenden.
Auf den 1. September 1939 datierte auch der sog. Ermächtigungserlass Hitlers, der die pseudo-rechtliche Grundlage für den als „Euthanasie“ genannten Massenmord an mehreren hunderttausend Menschen bildete. Für die Krankenmorde, die Nazis nannten das Tötung „lebensunwerten Lebens“, steht in unserer Region der Name der Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Die Anstalt in Andernach war eine von zahlreichen „Zwischenanstalten“ im Rahmen des „Euthanasie“-Programms der Nazis. Auch von Andernach aus wurden psychisch kranke und andere Menschen in den Tod geschickt. Der Ablauf der Morde war überall der gleiche. Zunächst, bis zum 25. Juli 1941, wurden die „Ursprungskranken“ aus der Anstalt entfernt. Es gab insgesamt sieben Transporte mit ca. 470 Patienten. Bis auf drei Patienten wurden alle in der Gaskammer der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Daraufhin kamen zwischen dem 9. Mai und dem 11. Juli 1941 aus anderen Anstalten insgesamt 517 Menschen nach Andernach – es war ja durch den Abtransport der „Ursprungskranken“ Platz geschaffen worden. 449 von ihnen – einige wurden entlassen oder verstarben – verschleppte man zwischen dem 18. Juni und dem 15. August 1941 in fünf Transporten nach Hadamar. Dort wurden sie unmittelbar nach der Ankunft in der Gaskammer im Keller ermordet und dann verbrannt. Ein einziger Patient entging der Tötung: Seine Mutter hatte darauf hingewiesen, dass ihr Sohn ein „glühender Antisemit“ sei. Nach dem Stopp der Anstaltsmorde im August 1941 setzte man auch hier nach einiger Zeit die Tötungen fort (das war die Zeit der sog. wilden Euthanasie). Die Tötungen erfolgten durch eine systematische Überdosierung von Medikamenten und durch Verhungern lassen. Diese Morde sind im Einzelnen als solche natürlich schwer nachweisbar. Teilweise anders war es mit den „Ostverlegungen“, eine Eigentümlichkeit der Andernacher Anstalt: Mit insgesamt 18 Transporten in den Jahren 1943 und 1944 wurden etwa 600 Patienten in den Osten, etwa nach Tworki bei Warschau, nach Lüben in Schlesien und nach Meseritz/-Obrawalde, verschleppt. Unter den katastrophalen Verhältnissen dort hat kaum einer überlebt. Insgesamt ist davon auszugehen, dass mindestens 1.500 Menschen in der oder über die Anstalt in Andernach im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet wurden.
Mit dem Krieg verstärkte sich auch die Verfolgung der Sinti und Roma. Hatte man sie zunächst schikaniert, dann registriert und die in der Umgebung von Koblenz lebenden Sinti konzentriert, so wurden sie alsbald deportiert. Im Zusammenhang mit dem sog. Westfeldzug wurden im Mai 1940 zehn in Koblenz lebende Sinti-Familien (insgesamt 77 oder 78 Personen) aus ihren Wohnungen herausgeholt und nach Köln und dann zusammen mit insgesamt 2.500 Sinti und Roma aus den westlichen und nordwestlichen Teilen des Reiches in das besetzte Polen, in das sog. Generalgouvernement, verschleppt. Um dort überhaupt überleben zu können, mussten sie - selbst 10-jährige Kinder - in Steinbrüchen u.ä. sehr hart arbeiten.
In Deutschland gab es auch in jenen Jahren trotz jahrelanger Verfolgung und Gleichschaltung durch die Nazis noch Widerstand oder widerständisches Verhalten. Obwohl die Kommunisten von Anfang an ganz massiv von den National-sozialisten verfolgt worden waren, gelang es ihnen, über die Jahre hinweg in traditioneller Form vielfältigen Widerstand zu leisten. In kleinen Zirkeln hielten sie Kontakt untereinander und bestärkten sich und andere in ihrer Gegnerschaft gegen den Hitler-Faschismus. Ein solcher Kreis von Vertrauten und Gleichgesinnten hatte sich um 1940 auch in Koblenz-Metternich gebildet. Kopf und Herz dieser Gruppe waren die Eheleute André und Anneliese Hoevel, nach denen die Hoevelstraße in Koblenz benannt ist. Sie stammten nicht aus Koblenz, sondern waren nach vielen Jahren der Verfolgung, die sie als Kommunisten zu erdulden hatten, nach Koblenz gekommen. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass sie denunziert wurden, weil sie ausländische Sender gehört und sich über das Gehörte untereinander und mit Angehörigen der Wehrmacht ausgetauscht hatten. Darin sah man ein todeswürdiges Rundfunkverbrechen. Aufgrund eines Urteils wurden beide innerhalb von fünf Minuten im Gefängnis von Frankfurt/Main-Preungesheim mit dem Fallbeil hingerichtet. Zu diesem Kreis um das Ehepaar Hoevel gehörte auch der in St. Sebastian geborene und in Metternich lebende Jakob Newinger – ich hatte ihn anfangs schon erwähnt. Newinger wurde zu „nur“ 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Unterdessen verfolgte der Nationalsozialismus schon längst nicht mehr nur seine traditionellen Gegner. Als totale Weltanschauung und als totaler Staat ließ man in letzter Konsequenz keine autonomen Instanzen oder Organisationen neben sich zu. Deshalb duldete man im Bereich der Jugend auch keine autonomen Erziehungsträger und keine autonomen Gruppen und selbst kein nonkonformes Verhalten einzelner. Diesen Totalitätsanspruch setzten die Nazis auch im Bereich der Jugend immer mehr durch, indem man bald außer der Hitler-Jugend keine Jugendverbände mehr duldete.
Anders als die Jugendverbände selbst konnten die Nazis aber Lebensweisen, Haltungen und Gedankengut einzelner Jugendlicher nicht verbieten. Ein Beispiel für solches nonkonformes, widerständisches Verhalten zeigte etwa der aus Andernach stammende Edgar Lohner. Erst in Andernach, dann – nach dem Umzug der Familie - in Bonn besuchte er die Schule und war Mitglied des katholischen Bundes „Neudeutschland“. Lohner unternahm mit Freunden Fahrten innerhalb Deutschlands und dann auch zur Weltausstellung nach Paris. Dort lernte er zwei jüdische Mädchen und durch sie den nach Paris emigrierten früheren Führer der Bündischen Jugend und „Nationalbolschewisten“ Karl Otto Paetel kennen. Er freundete sich mit ihnen an, fuhr noch zweimal nach Paris und nahm mit seinen Freunden auch in unserer Region an Fahrten und Lagern nach „bündischer Art“ teil. Ende 1939 wurden Edgar Lohner und seine Gruppe entdeckt und sie kamen in Untersuchungshaft. Lohner wurde vom Landgericht Koblenz wegen angeblichen Geschlechtsverkehrs mit dem einen jüdischen Mädchen in Paris wegen „Rassenschande“ zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Weiterhin wurde er wegen des Kontaktes zu K.O. Paetel und seinem Kreis in Paris wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie Strafe verbüßte Edgar Lohner zunächst im Zuchthaus Siegburg und wurde dann zur Wehrmacht eingezogen und dem Bewährungsbataillon 999 überstellt. In Nordafrika geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung studierte er an der Universität Bonn Sprachen und Philosophie und wurde promoviert. Er wanderte in die USA aus, lehrte dort an verschiedenen Universitäten und wurde 1973 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität in Mainz. Edgar Lohner starb im Jahr 1975.
Nach wie vor wurden die katholischen Priester und Patres verfolgt. Eine größere Anzahl von ihnen wurde allein wegen der Verteidigung ihres religiös-seelsorgerischen Bereichs, ihrer kulturellen Autonomie und ihrer ethischen Maximen schikaniert und festgenommen und dann in Koblenz in Gestapohaft gehalten. Besonders unerbittlich gingen die Nazis und ihre Helfer gegen die in Schönstatt bei Vallendar beheimatete Schönstatt-Bewegung vor. Mehrere Patres von ihnen saßen in Koblenz im Karmelitergefängnis in „Schutzhaft“. Nur einige von ihnen - wie der Gründer der Schönstatt-Bewegung Pater Josef Kentenich - überlebten diese - wie man es nannte - „Hölle ohne Gott“. Auch drei Marienschwestern von „Schönstatt“ - zum Teil nach vorheriger „Schutzhaft“ in Koblenz - ins KZ, und zwar ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.
Typisch, aber auch ganz untypisch war das Schicksal zweier Pfarrer hier ganz aus der Nähe, aus Wassenach und aus Nickenich. Der ältere von beiden, der 1872 geborene Josef Zilliken, stammte aus Mayen, der jüngere, Johannes Schulz, aus dem Saarland. Beide waren Priester im Bistum Trier und nach ihrer Priesterweihe zunächst Pfarrer in verschiedenen Gemeinden im Saarland. 1922 übernahm Zilliken die Pfarrei in Prüm und wurde Dechant des dortigen Dekanats. Zilliken war ein streitbarer Mann und geriet schon bald in die Konfrontation mit den örtlichen NS-Oberen. Wegen einer Predigt gegen das Neuheidentum und insbesondere den „Mythus des 20. Jahrhunderts“ von Rosenberg wurde er zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Um es nicht zur Eskalation kommen zu lassen, bat er um seine Versetzung. Zilliken kam nach Wassenach, wo er sein Amt Anfang 1938 antrat. Bereits im Jahr 1935 – nach der Rückgliederung des Saarlandes in das Deutsche Reich - war Pfarrer Schulz als Pfarrer in die Nachbargemeinde Nickenich versetzt worden. Auch dort setzten sich die Auseinandersetzungen mit den Nazis seiner alten Gemeinde fort. Sie, die Nazis, warfen ihm vor, sein Züchtigungsrecht bei den Kommunionkindern überzogen zu haben. Die Angelegenheit verlief im Sande, machte aber die Gestapo hier auf ihn aufmerksam. In der Folgezeit fiel Schulz der Gestapo wiederholt auf, u.a. wegen seines Eintretens für die katholische Bekenntnisschule, die die Nationalsozialisten abschaffen wollten und dann auch abschufen.
Schulz und Zilliken waren freundschaftlich verbunden und der Gestapo sowie den örtlichen Nazigrößen als Verfechter kirchlicher Positionen und als – sagen wir – Störfaktor bekannt.
Die Katastrophe brach über díe beiden Pfarrer am 27. Mai 1940 herein. Und dabei hatte der Nachmittag mit einem schönen gemeinsamen Spaziergang der beiden begonnen. Diesen ließen die beiden Geistlichen mit der Einkehr in das Ausflugslokal „Waldfrieden“ in der Nähe des Laacher Sees ausklingen. Sie saßen auf der Terrasse des Gasthauses – als unvermutet eine Jagdgesellschaft erschien und ebenfalls auf der Terrasse Platz nahm. Angeführt war die Gruppe von dem Generalfeldmarschall Hermann Göring, der wegen seiner Leidenschaft für die Jagd damals auch den Spitznamen „Reichsjägermeister“ hatte. Alle Gäste erwiesen Göring und seiner Gesellschaft die Ehre und grüßten mit „Heil Hitler“ – alle mit Ausnahme der beiden Pfarrer Zilliken und Schulz. Sie grüßten nicht und verhielten sich ganz teilnahmslos.
Die Rache des kirchen- und klerusfeindlichen Regimes war fürchterlich. Sofort nach Verlassen des Lokals meldete Göring den Vorfall der Koblenzer Gestapo. Diese verhaftete die beiden Geistlichen noch am späten Abend und verhörte sie stundenlang im Andernacher Gefängnis. Weitere Verhöre folgten und dann die Verschleppung in mehrere Konzentrationslager. Im Dezember 1940 kamen beide in das Konzentrationslager Dachau. Beide überlebten nicht die „Hölle ohne Gott“. Johannes Schulz starb am 19. August 1942, Dechant Josef Zilliken am 3. Oktober 1942.
Es war gerade das Schicksal dieser beiden, das katholische Jugendliche aus der hiesigen Gegend aufrüttelte und widerständisch und gar ungewöhnlich militant werden ließ. Die Anführer dieser Gruppe waren Willi Lohner aus Niedermendig und sein Freund Hans-Clemens Weiler aus Kruft. Beide waren zunächst vom Nationalsozialismus ein bisschen – sagen wir – begeistert, brachte er doch Schwung, schmissige Musik und auch Aufbruchstimmung mit. Schon bald vollzog sich bei den beiden aber ein Bewusstseinswandel. Sie erschreckte der Kirchenkampf des NS-Regimes und sie erlebten in ihrer unmittelbaren Umgebung, wie gerade die Pfarrer Schulz und Zilliken wegen ihres Glaubens mundtot und ins KZ verschleppt wurden. Da gründeten sie – gerade einmal 16 bzw. 15 Jahre alt - im November 1942 eine Organisation, die sie Michaeltruppe nannten.
Diese Gruppe ging vorsichtig vor, trotzdem entdeckte sie die Gestapo im August 1943. Willi Lohner, Hans-Clemens Weiler und vier weitere Mitglieder der Truppe wurden verhaftet und verhört. Danach brachte man die sechs Jungen erst in die Jugendarrestanstalt Neuwied und dann auf die Burg Stahleck. Willi Lohner und Hans-Clemens Wagner blieben dort zwei Monate und wurden dann in das „Jugendschutzlager“ Moringen verschleppt. Dort mussten sie in einem Salzbergwerk Munition herstellen. Hans-Clemens zog sich dabei eine Tuberkulose zu, von der er sich nie mehr richtig erholte. Er starb 1974. Wilhelm Lohner machte sein Abitur nach, studierte und begründete ein eigenes Tourneetheater, das „Ensemble Wilhelm Lohner“. Wilhelm Lohner starb im Jahr 2007.
Die Verfolgung der Juden endete im Völkermord. Seit der sog. Reichspogromnacht hatte sich ihre Lage weiter zugespitzt. In den folgenden Wochen und Monaten ging ein Hagel diskriminierender Verordnungen auf sie nieder. Ein Symbol war der gelbe Stern. Er signalisierte den bevorstehenden Beginn der Deportation. Die Juden waren auch in der hiesigen Region die mit Abstand größte Opfergruppe. Wie keine andere Gruppe wurde für sie die geradezu fabrikmäßige Vernichtung in den KZs des Ostens angeordnet und ganz konsequent durchgeführt. Nachdem im Sommer oder Herbst 1941 die Vernichtung der in deutschen Einflussgebiet lebenden Juden beschlossen und im Januar 1942 auf der sog. Wannsee-Konferenz der verwaltungs-mäßige Ablauf des Völkermords koordiniert worden war, setzten ab März 1942 auch die Deportationen der in Koblenz und Umgebung noch lebenden Juden ein.
Der erste Transport, der mit Güterwaggons vom Bahnhof in Lützel aus erfolgte, fand am 22. März 1942 statt. 338 Juden aus dem Stadt- und Landkreis Koblenz wurden in die polnische Stadt Izbica bei Lublin deportiert. Die Verhältnisse dort waren in jeder Hinsicht katastrophal. Notdürftig Platz gab es da auch nur, nachdem dort zuvor eingepferchte polnische Juden in die nahe gelegenen Vernichtungslager Chelmno, Belzec und Sobibor verschleppt und dort ermordet worden waren. Das gleiche Schicksal war auch den Juden aus Koblenz bestimmt und im Herbst oder Winter 1942 kamen alle von ihnen im Rahmen der sog. Aktion Reinhard, benannt nach dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich, im Vernichtungslager Sobibor um. In der Folgezeit gab es noch fünf weitere Deportationen von Koblenz aus mit zum Teil unterschiedlichen Zielen. Ein Transport – vor allem mit alten und kranken Juden – führte am 27. Juli 1942 von Koblenz – vom Lützeler Güterbahnhof aus – in das Konzentrationslager Theresienstadt. Von Juden aus Mendig gibt es ein Foto, das sie auf einem Bahnhof in der Eifel vor ihrem Abtransport zeigt.
Damit wurden wesentliche Teile der damaligen bürgerlichen Gesellschaft ausgerottet. Kaufleute, Unternehmer, Rechts-anwälte, Ärzte, Künstler u.a. mit ihren Familien waren Opfer des Rassenwahns.
Ein solches Schicksal hat auch Heinz Kahn erleiden müssen. Heinz und seine jüngere Schwester Gertrud waren Kinder des in Hermeskeil praktizierenden Tierarztes Dr. Moritz Kahn und seiner Frau Elise. Sein Vater war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und hatte zahlreiche Orden und Auszeichnungen erhalten. Schon bald nach der Machtübernahme der Nazis begannen die Schikanen und Diskriminierungen für die Kahns. 1936 musste Heinz die Schule verlassen, damit sie „judenrein“ wurde. Noch in Hermeskeil war die Familie vom Novemberpogrom, der „Reichspogromnacht“, betroffen. Vater Moritz kam einige Tage ins Gefängnis, dann ließ man ihn aber frei. Sein Haus in Hermeskeil musste er dann unter Wert an die Gemeinde verkaufen.
Im März 1939 zog die Familie Kahn nach Trier. Heinz und seine Schwester Gertrud wurden als Juden dienstverpflichtet und mussten in verschiedenen Betrieben zwangsweise Arbeit verrichten. Am 1. März 1943 wurde die Familie Kahn - Vater Moritz, Mutter Elise, Sohn Heinz und Tochter Gertrud - von Trier aus in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Bei der Selektion auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau wurde Heinz von der Familie getrennt. Zum Abschied sagte sein Vater zu ihm: „Heinz, Du kommst zur Arbeit, Du musst überleben!“ So kam es auch. Zum letzten Mal hatte Heinz seine Familie gesehen. Heinz kam zur Zwangsarbeit nach Auschwitz III – Auschwitz-Monowitz. Aufgrund seiner Geschicklichkeit und Umsicht kam Heinz dann nach Auschwitz II – Auschwitz-Birkenau, dort übertrug man ihm besondere Aufgaben, zeitweise war er Pfleger, Häftlingsschreiber und Lagerläufer. Dadurch hatte er gewisse Privilegien und konnte anderen Häftlingen helfen.
Mitte Januar 1945 wurde Heinz Kahn ins KZ Buchenwald verschleppt. Dort arbeitete er im „Selektionskommando“. Dies musste die Toten u.a. auf Goldzähne untersuchen, sie ihnen entfernen und das Zahngold für die SS sammeln. Nach der Befreiung kehrte er nach Trier zurück. Er wurde erster Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde von Trier, machte sein Abitur nach, studierte Veterinärmedizin, legte sein Examen ab und promovierte. Mit seiner Frau Inge zog er 1954 nach Polch. Dort betrieb Dr. Heinz Kahn bis vor wenigen Jahren eine Tierarztpraxis. Seit 1987 war er Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde von Koblenz. Heinz Kahn steht nicht nur für verfolgte jüdische Jugendliche, sondern auch für den jüdischen Jugendwiderstand. Als Häftlingsschreiber im Krankenbau von Auschwitz-Birkenau rettete er vor seiner Verschleppung im Januar 1945 viele Unterlagen, indem er sie in Marmeladeneimer packte, diese verschweißte und sie dann in Wasserlachen versenkte. Deshalb war er auch Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess vor nunmehr 50 Jahren. Im KZ Buchenwald gehörte Heinz Kahn zu den Mitwissern des Illegalen Internationalen Lagerkomitees und war Beschaffer und Verstecker der einen oder anderen Schusswaffe für die Befreiung des Lagers. Heinz Kahn ist im Februar letzten Jahres im Alter von 91 Jahren gestorben.
Ein ähnliches Schicksal wie die Juden hatten die Sinti zu erleiden. Der massenhafte Mord an ihnen begann mit Himmlers Auschwitz-Erlass von Dezember 1942, mit dem etwa 22.000 Sinti und Roma aus ganz Europa in den als „Zigeunerlager“ bezeichneten Abschnitt des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Die erste Deportation der Sinti aus Koblenz fand am 10. März 1943 statt. Betroffen hiervon waren etwa 150 Personen, 40 Männer, 44 Frauen und 65 Kinder. Unter ihnen waren auch mehrere Familien aus Münstermaifeld und aus Arft. Sie wurden dann in Koblenz gesammelt und von Koblenzer Hauptbahnhof aus dann nach Auschwitz verschleppt wurden. In der Folgezeit hat es mindestens noch eine weitere Deportation von Sinti aus Koblenz gegeben. Diese fand Ende April 1944 statt und hatte ebenfalls das „Zigeunerlager“ des KZ Auschwitz-Birkenau zum Ziel. Diese Deportationen wurden von der Kriminalpolizei hier in Koblenz mitorganisiert und durchgeführt. Ähnlich wie bei den Juden gab es auch unter den Sinti und Roma in Auschwitz „Selektionen“. Die Arbeitsfähigen wurden in andere KZs verschleppt, die übrigen Anfang August 1944 „liquidiert“. Allein in Auschwitz wurden 26 Sinti aus Koblenz ermordet.
Mit fortschreitendem Weltkrieg kamen immer mehr ausländische Staatsangehörige ins Deutsche Reich und auch nach Koblenz. Sie waren für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft dringend nötig, denn es standen damals sehr viele Männer als Soldaten im Krieg und zudem wurden in der Rüstungsindustrie und Landwirtschaft viele Arbeitskräfte gebraucht. Diese Ausländer waren entweder Kriegsgefangene oder - wie man sie im Unterschied hiervon verharmlosend nannte - „Zivilarbeiter“. In Koblenz gab es zeitweise 1.265 Fremdarbeiter, vor allem Russen und Polen. Die Zwangsarbeiter waren bei öffentlichen Betrieben und bei Privatfirmen beschäftigt und kehrten vielfach nach der Arbeit in die Sammelunterkunft zurück. Für die Polen, die schon ab Ende 1939 als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, galt ein strafrechtliches Sonderrecht, die Polenstrafrechts-verordnung. Verstöße hiergegen wurden vor dem Sondergericht angeklagt. Am schlechtesten ging es den Sowjets. Sie waren für die Nazis „Untermenschen“, mussten das Abzeichen „Ost“ für Ostarbeiter tragen, waren fast ausschließlich in Sammellagern - mit Stacheldraht herum - untergebracht. Ihre Lebenssituation war generell gekennzeichnet durch schlechte Ernährung, Bezahlung, Unterbringung und Kleidung, oft überlange Arbeitszeiten, mangelnde ärztliche Versorgung, Übervorteilung durch deutsche Vorgesetzte, Diffamierungen und Misshandlungen. Man wollte nur ihre Arbeitskraft. Schwangerschaften waren unerwünscht. Allein im Städtischen Krankenhaus Kemperhof wurde bei mehreren hundert Polinnen und Ostarbeiterinnen die Leibesfrucht abgetrieben. Bei Arbeitsverweigerungen und „Unbotmäßigkeit“ kamen die Zwangsarbeiter vorübergehend in Gestapohaft.
Bisher wurde immer von Verfolgungssituationen und von widerständigem Verhalten von Personen berichtet, die Mitglieder von Gruppen waren - und die deshalb widerständig und/oder Opfer von Verfolgung wurden. Der Betreffende wurde verfolgt, weil er Kommunist, Zeuge Jehovas, katholischer Priester, Sinto, Jude, Zwangsarbeiter o.ä. war. Auf der Höhe des Terrors wurde potentiell jedes nonkonforme Verhalten, ja jede abweichende, „defätistische“ Meinungsäußerung zum Verbrechen. Damit erreichte die Verfolgung eine ganz neue Dimension: Es kam tendenziell zur Verfolgung des Volkes.
Pastor Martin Niemöller, einer der aktivsten Köpfe der Bekennenden Kirche und langjähriger Verfolgter der Nazis, hat diese Entwicklung und die Unfähigkeit, dagegen wirksam protestieren zu wollen und später zu können, einmal in die treffenden Worte gekleidet:
Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
In den Augen der Nazis und ihrer juristischen Helfer war inzwischen schon die harmlose Meinungsäußerung, wie das Zweifeln am „Endsieg“, straf- und sogar todeswürdig. Nicht selten führten solche „defätistischen“ Äußerungen teilweise zur Todesstrafe oder zu langjährigen Gefängnisstrafen bzw. zur „Schutzhaft“ in Koblenz mit anschließender Deportation in ein KZ und alsbaldigem Tod. Ein Beispiel dafür ist die Bendorferin Gertrud Roos. Sie wurde von einer „Freundin“ denunziert, aufgrund von Nachrichten eines ausländischen Senders defätistische Äußerungen gemacht zu haben. Ihr gelang es noch, den Vorwurf des Abhörens ausländischer Sender zu entkräften. Gleichwohl kam sie in Haft, erst in das Gefängnis in Bendorf, dann in Koblenz. Von Koblenz aus wurde sie ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt, dort musste sie Zwangsarbeit leisten. Gertrud Roos überlebte und erzählte mir vor einigen Jahren von ihrem Verfolgungsschicksal. Sie ist vor zwei Jahren gestorben.
Als Lichtblick in jener ganz dunklen Zeit, als moralische Instanz und als Funken Hoffnung auf ein besseres Deutschland gab es den Attentatsversuch am 20. Juli 1944. Unmittelbar beteiligt daran war Philipp Freiherr von Boeselager aus Kreuzberg an der Ahr. Er sollte mit seinen Reiterschwadronen – über 1.000 Soldaten – von der Ostfront nach Berlin gelangen und dort beim Umsturz Teile des Regierungsviertels besetzen und abriegeln. Dazu kam es aber nicht, weil zuvor bekanntlich das Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler im Führerhauptquartier in der Wolfschanze fehlschlug.
Diese Attentäter waren aber nicht ganz allein. Es gab zumal in Berlin zahlreiche Zirkel und Widerstandsgruppen. Mitglieder dieser Gruppen stammten auch aus dem heutigen nördlichen Rheinland-Pfalz. So war die in Boppard geborene Maria Terwiel, eine Juristin, Mitglied der Widerstandsgruppe der sog. Roten Kapelle. Sie wurde ebenso hingerichtet wie der in Bad Ems geborene und zum Kreisauer Kreis gehörende Sozialist und Reformpädagoge Adolf Reichwein. In Koblenz selbst geboren war der katholische Priester und Armeepfarrer a. D. Friedrich Erxleben. Als profiliertes Mitglied des sog. Solf-Kreises entging er einer Verurteilung durch den Volksgerichtshof und dem mutmaßlichen Tod nur knapp. Nach dem Krieg wurde er Pfarrer in der Moselgemeinde Müden.
Nach dem gescheiterten Attentat setzte ein Rachefeldzug Hitlers ein. Dabei machten die Nazis und ihre Helfer nicht einmal vor deren Familienangehörigen, also Frauen und Kindern, und selbst nicht vor einer Schwägerin eines Prinzen von Hohenzollern halt. Diese, Lina Lindemann, war mit dem Artilleriegeneral Fritz Lindemann verheiratet und lebte zurzeit des Attentats bei ihrer Schwester auf Burg Namedy bei Andernach. Frau Lindemann war als sog. Sippenhäftling längere Zeit in Gestapohaft in dem Karmelitergefängnis in Koblenz, ehe sie dann über viele Stationen fast durch das ganze damalige Deutsche Reich gehetzt und schließlich im Hochpustertal in Südtirol befreit wurde.
Zur gleichen Zeit, als die „Sippenhäftlinge“ festgenommen wurden, begann die „Aktion Gewitter“. Diese Aktion kann nicht als eine gezielte Fahndungsmaßnahme nach Beteiligten am versuchten Attentat vom 20. Juli 1944 verstanden werden. Dazu war der Kreis der zu Verhaftenden mit mehr als 5.000 Personen viel zu groß und indifferent. „Sinn“ dieser „Aktion“ war eine „Präventivmaßnahme“, ihre Opfer waren frühere sozial-demokratische und auch kommunistische Mandatsträger (Landtagsabgeordnete, Stadtverordnete und Kreistagsabgeordnete) sowie auch Abgeordnete der Zentrumspartei. Betroffen von dieser Aktion waren in Koblenz u.a. die frühere Stadtverordnete Maria Detzel, die sich als „wahre Mutter der Kriegsopfer“ einen Namen verdient hatte, und die frühere Zentrumsabgeordnete und Lehrerin Helene Rothländer. Sie kamen aber nach einigen Wochen der Haft frei, das Schlimmste blieb ihnen erspart. Nach dem Krieg waren Maria Detzel und Helene Rothländer sehr aktiv und engagierten sich als Beamtinnen und Politikerinnen für das neue Land Rheinland-Pfalz.
Damit, meine Damen und Herren, bin ich zwar nicht am Ende und auch nicht fertig, aber ich höre hier mit dem Vortrag auf. Vieles konnte ich nur verkürzt darstellen, manches gar nicht. Bitte haben Sie dafür Verständnis.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit.
Lesen Sie die Berichte über die Veranstaltung in Plaidt:
HIER in der Lokalausgabe der Rhein-Zeitung vom 25. März 2015
Vortrag von Joachim Hennig in Bad Kreuznach zur Erinnerung an Dr. Karl Sack (1896 - 1945).
Aus Anlass der 70. Wiederkehr der Ermordung des höchsten Heeresrichters Dr. Karl Sack am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hält unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig einen Vortrag über diesen in Bosenheim (heute ein Stadtteil von Bad Kreuznach) geborenen Pfarrerssohn im Großen Sitzungssaal (Brückes 1) in Bad Kreuznach. Auf Einladung der Stiftung Haus der Stadtgeschichte Bad Kreuznach macht Hennig in seinem Vortrag auch deutlich, warum Sack, nach dem u.a. eine Straße in Bosenheim benannt ist, bis heute umstritten ist.
Lesen Sie nachfolgend den Vortrag, den unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig am 9. April 2015 in Bad Kreuznach gehalten hat:
Dr. Karl Sack (1896 – 1945): Höchster Heeresrichter im Zweiten Weltkrieg und Widerständler aus Bosenheim
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
haben Sie, liebe Frau Blum-Gabelmann, herzlichen Dank für die freundlichen einführenden Worte und Sie alle für den aufmunternden Beifall. Gern bin ich wieder bei Ihnen hier im Großen Sitzungssaal mit einem Thema zur NS-Zeit. Wer mich und meine Vorträge kennt, weiß, dass ich immer eine harte Kost aus Koblenz nach hier mitbringe. So ist es auch heute.
Begeben wir uns jetzt auf eine Zeitreise, die uns Heutige zurück in 120 Jahre deutsche Geschichte führt. Diese Reise beginnen wir mittendrin in diesem Zeitraum, mit einem Zeitstopp vor 70 Jahren.
Die Zeit stoppt auf den Tag genau vor 70 Jahren: am 9. April 1945. Hier in Bad Kreuznach war der Zweite Weltkrieg bereits zu Ende. Vier Wochen vorher, am Sonntagmorgen des 18. März, waren die ersten amerikanischen Panzer vor der Stadt aufgefahren und darauf-hin hatte eine Delegation die Stadt an die Amerikaner übergeben.
Ganz anders war die Situation in der Mitte des damals noch verbliebenen Deutschen Reiches, etwa in dem 400 Kilometer östlich von hier entfernten Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz, an der tschechischen Grenze. In Flossenbürg war der Krieg noch nicht zu Ende. Dort – wie auch an vielen anderen Orten - zeigte der NS-Terror seine verheerende, menschenverachtende Brutalität. Es war Mörderstunde: Auf die verschiedenste Art und Weise wurden Häftlinge aus Gefängnissen und Konzentrations-lagern umgebracht. Einer dieser Ermordeten war Dr. Karl Sack, geboren 1896 in dem damals noch selbständigen Bosenheim. Er war der höchste Heeresrichter der damaligen deutschen Wehrmacht. An jenem 9. April 1945 wurde er von einem eilig zusammengestellten Exekutionskommando gemeinsam mit Admiral Wilhelm Canaris, Generalmajor Hans Oster, Hauptmann Ludwig Gehre und dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer erhängt. Sie wurden ermordet, damit sie nicht über das Ende des sog. Dritten Reiches hinaus am Leben bleiben konnten. Sie sollten mit der NS-Diktatur, der sie alle über Jahre hinweg gedient hatten, untergehen, vernichtet werden.
Fragen wir uns: Wer war dieser Dr. jur. Karl Sack? Wie war sein Leben und Wirken? Was war der Grund für seine Ermordung in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges?
Karl Sack wird – wie gesagt - am 9. Juni 1896 in Bosenheim geboren. Er ist das zweite Kind des dortigen evangelischen Pfarrers Hermann Sack und seiner Ehefrau Anna, geb. Neuschäffer. Die Eheleute hatten 1892 in Darmstadt geheiratet, offensichtlich stammte Karl Sacks Mutter von da. Karls Sacks war noch nicht lange in Bosenheim. Er war dort noch Pfarrverwalter. Das erste Kind der Eheleute Sack, eine Tochter namens Elisabetha, war aber schon 1895 in Bosenheim geboren. Von ihr wissen wir aus der Biografie Karls Sacks nichts. Wie auch andere Frauen kommt sie in seiner Lebensbeschreibung überhaupt nicht vor. Und dabei ist diese Elisabetha sehr alt geworden und im Jahr 2001 mit 106 Jahren in Langenfeld im Rheinland gestorben. Als die Familie Sack in Bosenheim lebte, war der Ort noch selbständig. Er gehörte verwaltungsmäßig zum Kreis Bingen, damit zu Rheinhessen und zum Großherzogtum Hessen. Kirchenorganisatorisch gehörte es zur Evangelischen Kirche Hessen-Nassau und gerichtsorganisatorisch zum Landgericht Mainz.
Der kleine Karl geht zunächst in die zweiklassige Volksschule in Bosenheim. Nach drei Jahren wechselt er auf das humanistische Königlich-Preußische Gymnasium in Bad Kreuznach (heute: Gymnasium an der Stadtmauer). Aus der Schulzeit von Karl Sack hier in Bad Kreuznach wissen wir nicht viel. Bekannt ist allein, dass der zwei Jahre ältere Alexander Kraell einer seiner Mitschüler war. Wie wir später noch erfahren werden, werden beide später beruflich noch zusammenarbeiten – man begegnet sich im Leben halt oft zweimal.
Im Jahr 1910 – mit 14 Jahren – verlässt Familie Sack Bosenheim. Der Vater wird nach Niederweisel bei Butzbach in Oberhessen versetzt. Karl besucht nun das humanistische Gymnasium in Friedberg und macht im Februar 1914 sein Abitur. Sogleich beginnt er mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und wird Mitglied in einer Burschenschaft, der Burschenschaft Vineta Heidelberg. Es ist eine farbentragende und fakultativ schlagende Burschenschaft. Der Wahlspruch der Vineta lautet: „amico pectus, hosti frontem“. Das ist lateinisch und heißt: „Dem Freunde die Brust, dem Feinde die Stirn.“ Da kann man jetzt viel hineinlesen. Ich sehe in diesem Spruch vor allem eine bewusste Polarisierung und ein Freund-Feind-Denken. Für sich selbst wählt Sack den Wahlspruch der Jenaer Urburschenschaft von 1815 „Ehre – Freiheit – Vaterland“, den er umwandelt in: „Gott – Ehre – Vaterland“. Danach bleibt es bei dem Dreiklang, „Ehre“ bleibt, „Vaterland“ bleibt, „Freiheit“ wird durch „Gott“ ersetzt. Das ist sicherlich Programm – auch darauf kommen wir noch zurück.
Viel Zeit bleibt dem jungen Karl Sack für sein Studium nicht. Denn wenige Monate später, Anfang August 1914, kommt es zum Ersten Weltkrieg. Sogleich meldet er sich als Kriegsfreiwilliger. Schon ein Jahr später wird er zum Leutnant befördert. Mindestens fünfmal wird er schwer verwundet. Nach seiner dritten Verwundung wird er als nicht kriegsverwendungsfähig bezeichnet, gleichwohl rückt er wieder freiwillig ins Feld. Wenige Wochen vor Kriegsende, Ende September 1918, wird er wegen seiner schweren Verwundungen aus dem Militärdienst entlassen. Zahlreiche Auszeichnungen hat er erhalten: das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse, eine Tapferkeits-medaille und das Goldene Verwundetenabzeichen.
Nach Kriegsende kehrt Sack in das Zivilleben und in den Hörsaal zurück. Sein Jurastudium setzt er zunächst an der Universität in Frankfurt am Main und dann an der hessischen Landesuniversität in Gießen fort. Bereits im August 1920 schließt er das Studium mit dem ersten juristischen Staatsexamen mit „gutem Erfolg“ ab. Er wird Gerichtsreferendar und während der anschließenden Ausbildung auch promoviert. Im Oktober 1922 legt er das Zweite juristische Staatsexamen mit dem Prädikat „gut“ ab. Einen Monat später heiratet er seine Frau Wilhelmine, geb. Weber. Sie ist vier Jahre jünger als er und stammt aus Butzbach. Sechs Wochen später wird er zum Gerichtsassessor ernannt.
Das ist, meine Damen und Herren, eine Bilderbuchkarriere eines aufstrebenden Juristen, die zu hohen Erwartungen Anlass gibt. Aus gut bürgerlichen Verhältnissen stammend, Sohn eines Pfarrers, mit einem streng konservativen, politisch deutschnationalen und monarchistischen Weltbild, als Burschenschaftler, hoch dekorierter Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, promovierter Jurist mit zwei guten Prädikatsexamina, verheiratet – aus der Ehe werden bald zwei Söhne hervorgehen – und schon mit 26 Jahren ernannter Gerichtsassessor – da durfte man sich berechtigte Hoffnung auf einen beruflichen Aufstieg machen.
Karl Sack beginnt Ende 1922 als Hilfsrichter beim Amtsgericht Gießen. Schon im nächsten Jahr muss er die Stelle wechseln, man schickt ihn zum Amtsgericht Ober-Ingelheim, um - wie es heißt – „für den erkrankten Amtsgerichtsrat richterliche Aushilfe zu leisten“. Das klingt recht harmlos, erhält aber durchaus Brisanz durch die Zeitläufte und die Hintergründe. Denn Ingelheim – wie ganz Rheinhessen - ist seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg von den Franzosen besetzt. Sie installieren ein Besatzungsregime, das die Separatisten in vielfältiger Weise unterstützt und deren Gegner bzw. Honoratioren schikaniert und aus dem Rheinland ausweist. So wurde auch der Ober-Ingelheimer Amtsgerichtsrat ausgewiesen, er hatte sich dann krankgemeldet.
In dieser Situation kommt nun der junge Hilfsrichter Karl Sack nach Ober-Ingelheim und findet ein führerloses Amtsgericht vor. Seine Aufgabe ist es, einen ordnungsgemäßen Dienstbetrieb wiederherzustellen und aufrecht zu erhalten – und das unter den Bedingungen der französischen Besetzung. Dazu gehört – wenn man es gut machen will -, Übergriffe der Separatisten abzuwehren und den Einfluss insbesondere des französischen Kreisdelegierten auf die Rechtspflege zu verhindern bzw. zurückzudrängen. Und das alles steht unter der Drohung der Ausweisung aus dem Rheinland.
Die Situation eskaliert Ende Oktober 1923 mit der Ausrufung der Rheinischen Republik durch die Separatisten. Sie sollte nach ihrem Willen eine selbständige Republik „im Verbande des Deutschen Reiches“ sein und das (preußische) Rheinland, Alt-Nassau, Rhein-hessen und die bayerische Rheinpfalz umfassen. Nach Aktionen der Separatisten zuerst in Aachen und dann in Koblenz wird auch in Ober-Ingelheim die Rheinische Republik ausgerufen. Auf dem Ober-Ingelheimer Rathaus wird die grün-weiß-rote Fahne der Rheinischen Republik gehisst und die Separatisten richten eine militärische Wache ein. Sie geben sogar ein eigenes Notgeld heraus, das sogleich inflationär in Umlauf kommt. Als die Geschäftsleute von Ober-Ingelheim die Annahme verweigern und daraufhin unter starken Druck gesetzt werden, interveniert Sack dagegen bei der französischen Besatzung. Er erstattet ein Rechtsgutachten, das zu dem Ergebnis kommt, dass die Bürger nicht zur Annahme des Notgeldes verpflichtet sind. Das und die Folge müssen die Franzosen akzeptieren. Das separatistische Notgeld verliert schnell an Bedeutung. Schließlich erledigt sich die separatistische Bewegung – wie auch an anderen Orten des Rheinlandes. Man kann feststellen: Sack ist mit den Mitteln des Rechts den Separatisten engagiert und erfolgreich entgegengetreten. Später, im Jahr 1936, verfasst er einen 36-seitigen „Erlebnisbericht aus der Franzosen- und Separatistenzeit in Ober-Ingelheim in den Jahren 1923 – 1925“.
Im Sommer 1925 – inzwischen sind die beiden Söhne Heinz Hermann und Karl August geboren – verlässt Karl Sack mit seiner Familie Ober-Ingelheim, um eine neue Stelle als Amtsanwalt beim Amtsgericht in Alsfeld in Oberhessen anzutreten. Von dort wechselt er Anfang Februar 1926 an das Amtsgericht Schlitz in Ober-hessen. In Schlitz wird er wenig später planmäßig als Richter, als Oberamtsrichter, angestellt. Dies sind wohl die unbeschwertesten und glücklichsten Jahre in Leben Karl Sacks. In dieser Zeit tritt er der Deutschen Volkspartei (DVP) bei. Die DVP war eine national-liberale Partei der Weimarer Republik. Obwohl sie zunächst die Weimarer Reichsverfassung ablehnte, war sie von 1920 bis 1931 an fast allen Reichsregierungen beteiligt. Ihre führende Persönlichkeit war Gustav Stresemann. Er war wiederholt Außenminister und maßgeblich an völkerrechtlichen Verträgen beteiligt, die Deutsch-land nach dem Ersten Weltkrieg wieder in die Völkergemeinschaft zurückbrachten. Zusammen mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand wurde Stresemann 1926 der Friedensnobelpreis verliehen. Im Jahr darauf tritt Sack der DVP bei.
Ende 1930 kehrt Sack aus Oberhessen nach Rheinhessen zurück, wird zum Landgerichtsrat ernannt und an das Landgericht Mainz versetzt. Dort erlebt er das Ende der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, und die Machtübernahme Hitlers und seiner „Bewegung“.
Sehr interessant wäre zu wissen, wie Sack das Aufkommen und die „Machtergreifung“ der Nazis beurteilt und welche Folgerungen er für sich persönlich gezogen hat. Leider gibt es von ihm dazu keine Erkenntnisse. Er hat weder ein Tagebuch geführt noch hat er einen überlieferten Briefverkehr gepflogen. Es gibt nichts Persönliches von ihm. Das macht die Einschätzung seiner Person und seiner Handlungen zu Beginn der NS-Diktatur und auch später sehr schwierig und eröffnet Spekulationen und Mutmaßungen Tor und Tür. Auch wir wollen hier eine solche Vermutung äußern, allerdings basiert sie auf einer recht tragfähigen Grundlage.
In der bisherigen Darstellung haben wir gesehen, dass Karl Sack – auch durch das protestantische Elternhaus geprägt – sehr konservativ, deutsch-national und monarchistisch eingestellt war. Diese Haltung und Weltsicht hat er dokumentiert und gelebt, etwa mit dem Eintritt in die schlagende Burschenschaft Vineta, seinen Wahlspruch: „Gott – Ehre – Vaterland“, seinen aufopferungsvollen Einsatz als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges und auch mit seinem Eintreten gegen die französische Besatzungsmacht und den Separatismus. Damit war Karl Sack ein typischer Jurist jener Jahre. Diese waren zum ganz überwiegenden Teil autoritär geprägt und deutschnational gesonnen. Sie standen der Weimarer Republik, einer „Demokratie ohne Demokraten“, reserviert bis feindlich gegenüber. Prägend für diese Juristen war auch der Wunsch, nicht abseits zu stehen, sondern mit zur „Volksgemeinschaft“ der Nazis zu gehören, und die Hoffnung auf eine Karriere, die durch die Personalpolitik der Nationalsozialisten, vor allem bei der Entlassung der jüdischen Juristen, noch beflügelt wurde. Bereits im März und im Mai 1933 gab es geradezu einen Ansturm der Juristen auf die Mitgliedschaft in der NSDAP – man nannte sie die „Märzgefallenen“ und „Maiveilchen“ -, bevor die NSDAP im Mai 1933 die Parteieintritte für einige Jahre stoppte.
Höhepunkt der Hitler-Euphorie war der Deutsche Juristentag Ende September/Anfang Oktober 1933 in Leipzig. Er stand unter dem Motto: „Dem Deutschen Volk das deutsche Recht.“ Auf der Schlusskundgebung am 3. Oktober 1933 vor dem Reichsgericht schworen sich die dort versammelten mehr als 12.000 (nach anderen Quellen mehr als 19.000) Juristen auf die „neue Justiz“ und Hitler persönlich ein. Sie alle bekannten in dem „Rütli-Schwur“:
Wir schwören beim ewigen Herrgott,
wir schwören bei dem Geiste unserer Toten,
wir schwören bei all denen, die das Opfer einer
volksfremden Justiz einmal geworden sind,
wir schwören bei der Seele des deutschen Volkes,
dass wir unserem Führer auf seinem Wege als deutsche
Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage.
Diese Selbstauslieferung der übergroßen Zahl der Juristen an den Nationalsozialismus und Hitler persönlich – gerade einmal acht Monate nach der Machtübernahme der Nazis - ist eines der beschämendsten Zeugnisse der deutschen Justiz.
Zugegeben: Wir wissen nicht, ob Sack auf diesem Deutschen Juristentag war. Aber wenn dort mehr als 12.000 – nach anderen Angaben mehr als 19.000 - Teilnehmer waren und freudig den Rütli-Schwur schworen, dann spricht doch sehr viel dafür, dass auch er unter ihnen war. Das gilt umso mehr vor dessen persönlichen Hintergrund, den wir soeben skizziert haben. Und es gibt noch ein weiteres Indiz: Wenn Sack auch nicht zu den beschriebenen „Märzgefallenen“ und Maiveilchen“ gehörte, so trat er doch kurz nach der Machtübernahme der Nazis in den Nationalsozialistischen Deutschen Rechtswahrerbund (NSRB) ein. Davon hat sich Karl Sack bestimmt etwas versprochen und er ist mit Sicherheit zu dem Ergebnis gekommen, dass er in dieser Phase etwas tun müsse, um seine Situation zu verändern und seinem Berufsweg eine Wendung zu geben. Denn trotz seiner beiden guten Prädikatsexamina und seiner politischen Grundeinstellung ist seine zu hohen Erwartungen Anlass gebende Karriere nicht in Fahrt gekommen: Seit mehr als 11 Jahren ist er schon Richter und praktisch immer noch im Eingangsamt – Landgerichtsrat beim Landgericht Mainz.
Und tatsächlich tut sich für Karl Sack eine Perspektive auf: Die Nationalsozialisten führen eine neue Sondergerichtsbarkeit ein: die Militärgerichtsbarkeit. Die Militärjustiz war nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft worden. Gerade einmal 3 ½ Monate nach der Machtübernahme der Nazis richten sie mit dem „Gesetz über Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit“ vom 12. Mai 1933 die Militärjustiz wieder ein. Im Laufe des Jahres ergehen noch Ausführungsbestimmungen und zum 1. Januar 1934 tritt das Gesetz in Kraft.
Eingeführt werden 1934 zunächst „Kriegsgerichte“ als erste Instanz und „Oberkriegsgerichte“ als Berufungsgerichte. Die dritte Instanz, die Revisionsinstanz gegen Urteile der Oberkriegsgerichte, ist das Reichsgericht, in Hoch- und Landesverratssachen der Volksgerichtshof. In diese neue Gerichtsbarkeit wechselt Karl Sack zum 1. Oktober 1934 und ist damit von Anfang an mit dabei. Nach einer Probezeit von einem halben Jahr wird er im März 1935 zum Kriegsgerichtsrat ernannt. Im selben Monat ergeht das Gesetz zur allgemeinen Wehrpflicht. Ein schneller und deutlicher Auf- und Ausbau der Deutschen Wehrmacht ist damit ebenso vorprogrammiert wie der der Militärjustiz.
Das bringt eine deutliche Stellenvermehrung und auch eine Vermehrung von Beförderungsstellen mit sich. So nimmt es nicht wunder, dass Sack bereits ein halbes Jahr später zur Beförderung zum Oberkriegsgerichtsrat ansteht. In seiner dienstlichen Beurteilung hierfür heißt es u.a.:
Weiß hervorragend mit allen gesetzlichen Bestimmungen Bescheid, hat überaus klare, strenge und gerechte soldatische Auffassungen und führt sein Amt mit unbeirrbarer Sachlichkeit, ungehemmt von jedem anderen Einfluss.
Im Januar 1936 wird Sack zum Oberkriegsgerichtsrat befördert. Im selben Jahr, am 1. Oktober 1936, wird ein eigenes höchstes Militärgericht eingerichtet, das Reichskriegsgericht in Berlin. Es ist Rechtsmittelinstanz innerhalb der Wehrmachtsjustiz. Um zu prüfen, ob Karl Sack dort Richter werden könnte, wird er im Juli 1936 in das Reichskriegsministerium abkommandiert. Im selben Jahr schreibt er, von dem im Übrigen nichts Persönliches überliefert ist, den bereits erwähnten 36-seitigen Bericht über seine Ober-Ingelheimer Zeit. Er ist ganz offenbar als eine Selbst-Empfehlung für höhere Aufgaben in der NS-Justiz gemeint.
Auch im Reichskriegsministerium ist man mit ihm zufrieden. Schon drei Monate später wird seine Ernennung zum Ministerialrat befürwortet und im Januar 1937 wird er zum Ministerialrat im Reichskriegsministerium ernannt. In dieser Zeit ist er mit Vorarbeiten für eine neue Militärstrafgerichtsordnung und die Verordnung über Strafrechtspflege im Kriege befasst. Das sind Gesetze, die die Rechtsgrundlage der Militärgerichtsverfahren in dem damals von Hitler schon geplanten Zweiten Weltkrieg bilden sollen und dann auch bilden. Mit Sacks Arbeiten ist man im Kriegsministerium so zufrieden, dass man ihn im Januar 1938 zum Reichskriegsgerichtsrat ernennt. Man lässt ihn aber noch nicht gehen, sondern hält ihn noch, um noch Sachgebiete zu bearbeiten, „deren Erledigung durch ihn sehr erwünscht (sind)“.
Als er dann endgültig an das Reichskriegsgericht wechselt, wird er mit einer Sonderaufgabe betraut, die seine ganze Arbeitskraft beansprucht. Es geht hierbei um seine Mitwirkung an der Aufarbeitung der sog. Blomberg-Fritsch-Krise Anfang 1938. Sacks Tätigkeit hierbei wird später – nach dem Krieg – als Beginn seines Widerstandes gegen das NS-Regime dargestellt. Sie und ihre Folgen bedürfen deshalb eines näheren Eingehens.
Zunächst ein Wort zur Wehrmacht im NS-Staat. Von Anfang an standen die Wehrmacht und ihr Personal voll und ganz hinter dem NS-Staat. Im Jahr 1935 – nachdem die Wehrmacht maßgeblich bei der Beseitigung der SA-Spitze und anderer Unliebsamer im Rahmen der sog. Röhm-Affäre mitgeholfen hatte, sprach das der Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, Generalmajor Walter von Reichenau deutlich aus:
Wir sind Nationalsozialisten auch ohne Parteibuch, die besten, ernstesten, treuesten. Die Wehrmacht ist die einzige, letzte, größte Hoffnung des Führers.
Das war nun sicherlich in mancherlei Hinsicht übertrieben, aber daraus wird deutlich, für wie wichtig und staatstragend sich die Wehrmacht hielt. Sie überhöhte das mit der Zwei-Säulen-Theorie: Getragen wurde der NS-Staat von zwei Säulen, die eine war die Partei und die andere die Wehrmacht. Beide standen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sie ergänzten sich. Dieses Bild konnte man haben, nachdem man den Konkurrenten, die ehedem mächtige SA und ihren Stabschef Ernst Röhm, ausgeschaltet hatte. Indessen erwuchs der Wehrmacht ein neuer und viel geschickterer und mächtigerer Konkurrent: Himmlers SS. Für den Bereich der Justiz, und auch den Bereich der Wehrmachtsjustiz, kam als Konkurrent noch die Geheime Staatspolizei, die Gestapo hinzu. Ihr oberster Chef war als Chef der deutschen Polizei ebenfalls Himmler. Beides – SS und Gestapo – war eng miteinander verzahnt. Viele Gestapomitglieder zumal in führenden Funktionen waren Mitglieder der SS und auch des SS-Nachrichtendienstes, des Sicherheitsdienstes SD. Und die Gestapo arbeitete hartnäckig daran, die Justiz aus wichtigen staatspolitischen Bereichen herauszuhalten und herauszudrängen – und selbst die „Behandlung“ dieser Justizangelegenheiten zu übernehmen.
Das ist dann die Situation, in der es im Januar 1938 zur Blomberg-Fritsch-Krise kommt.
Diese Krise beginnt als Blomberg-Affäre. Werner von Blomberg, Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht und verwitwet, lernt eine 35 Jahre jüngere Frau kennen und will sie kurz entschlossen heiraten. Dazu benötigt er Hitlers Einwilligung. Hitler willigt sofort ein, er und Göring sind die Trauzeugen des Paares. Nur wenige Tage später reden die Prostituierten Berlins davon, dass eine von ihnen die soziale Leiter hinaufgestiegen und den Reichskriegsminister geheiratet habe. Tatsächlich ist die Frau vor Jahren als Prostituierte registriert gewesen. Die Sache kommt hoch. Hitler verlangt, dass Blomberg die Ehe annullieren lässt. Als dieser das ablehnt, wird Reichskriegsminister von Blomberg von Hitler am 27. Januar 1938 entlassen.
Als sein Nachfolger kommt der Oberbefehlshaber des Heeres Werner Freiherr von Fritsch in Betracht. Im Zuge dieser Affäre erinnert man sich an eine dunkle Personalie von diesem. Vor zwei Jahren, im Jahr 1936, war von Fritsch in den Verdacht geraten, von einem Berliner Strichjungen wegen homosexueller Handlungen erpresst worden zu sein. Hitler hatte seinerzeit untersagt, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Jetzt wird er wieder daran erinnert und er ordnet die Wiederaufnahme der seinerzeit eingestellten Ermittlungen an. Sie werden – weil Homosexualität im Spiel ist – zunächst von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) durchgeführt. Zugleich beauftragt Hitler seinen Reichsjustizminister Franz Gürtner mit der Erstattung eines Rechtsgutachtens. Nachdem Fritsch einen Rücktritt abgelehnt hat, entlässt Hitler auch diesen und macht sich selbst zum Obersten Befehlshaber der Wehrmacht. Der Reichsjustizminister und einflussreiche Wehrmachtsjuristen erreichen durch Intervention bei Hitler aber noch ein gerichtliches Nachspiel der Affäre Fritsch. Hitler ordnet als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens und dann eines militärischen Sondergerichtsverfahrens vor dem eigens dafür geschaffenen und von ihm zusammengestellten Gericht des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht an. Untersuchungsführer in dem Ermittlungsverfahren wird ein Reichskriegsgerichtsrat namens Walter Biron, Protokollführer wird Karl Sack.
Der Verteidiger von Fritschs und auch die Reichskriegsgerichtsräte Biron und Sack finden dabei heraus, dass die Anschuldigungen auf einer Verwechslung beruhen. Nicht Freiherr von Fritsch hatte den Kontakt mit dem Strichjungen, sondern vielmehr ein Rittmeister namens von Frisch. In dem sich anschließenden Gerichtsverfahren bricht der Vorwurf gegen von Fritsch endgültig zusammen. Der Vertreter der Anklage, Reichskriegsgerichtsrat Biron, beantragt daraufhin die Feststellung der erwiesenen Unschuld von Fritschs. Das Gericht – unter Vorsitz von Göring – spricht von Fritsch wegen erwiesener Unschuld frei.
Dieses Verfahren wird in der Nachkriegsliteratur sehr unterschiedlich bewertet. Der Neffe von Fritschs, Graf von Kielmannsegg, sah schon im Jahr 1949 in der Affäre seines Onkels eine Intrige Himmlers und Görings, um die Wehrmachtsspitze auszuschalten. Andere sahen in ihr einen von Hitler wenn auch nicht initiierten, so doch maßgeblich betriebenen Handstreich zur Ausschaltung kritischer Generäle, um an die Schaltstellen der militärischen Macht zu gelangen – ernannte er sich danach doch zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Diese Interpretation wurde vom maßgeblichen Biograf Karls Sacks und seinen Anhängern gern aufgegriffen. Sie machten Sack zum großen Aufklärer in der Untersuchung. Vor allem aber gaben sie dieser Untersuchung einen regimekritischen, geradezu widerständigen Charakter – und damit den Beginn des Widerstandskampfes von Karl Sack.
Demgegenüber bin ich mit anderen Stimmen in der Literatur der Auffassung, dass die ganze Sache deutlich niedriger zu hängen ist. Nur schwer nachvollziehbar ist zum einen die maßgebliche Rolle Sacks im Untersuchungsverfahren. Schließlich war er nicht Untersuchungs- sondern nur Protokollführer. Zudem war er erst wenige Tage zuvor zum Reichskriegsgerichtsrat aufgestiegen, während der Untersuchungsführer Biron einige Jahre lebens- und dienstälter war. Ist es da nahe liegend, dass er dieses Untersuchungsverfahren so maßgeblich steuerte? Zudem hat Biron als Vertreter der Anklage auf Freispruch plädiert. Angesichts dessen kann er doch nicht so zögerlich und unentschlossen sein, wie der Sack-Biograf meint.
Zum anderen wird man wohl nicht in der aufklärerischen Arbeit dieses Untersuchungsverfahrens ein regimekritisches, widerständisches Verhalten sehen können. Schließlich wurde dieses Verfahren auf Anordnung Hitlers durchgeführt. Er selbst hat das Gericht eingesetzt und dessen Mitglieder bestimmt. Das Gericht hat von Fritsch in allen Anklagepunkten wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Dabei wird man gerade auch nicht Göring eine Intrige gegen von Fritsch nachsagen können. Denn er war Vorsitzender dieses Gerichts. In der Hauptverhandlung hat er den Hauptbelastungszeugen sehr in die Enge getrieben. Daraufhin hat das Gericht von Fritsch nach dreitägiger Hauptverhandlung in einem recht umfangreichen Urteil, in dem sehr viele Gesichtspunkte für und wider erörtert wurden, in allen Punkten wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Weitere Indizien sind für mich die anschließenden Berufswege von Biron und Sack. Der damalige Reichskriegsgerichtsrat Biron avancierte noch zum Senatspräsidenten beim Reichskriegsgericht – und von dem weiteren Werdegang Sacks werden wir ja gleich noch hören.
Für mich ist die Fritsch-Affäre entstanden durch eine schlampige Ermittlung der Polizei und Gestapo, dunkle Zeugen aus dem Milieu, eine gewisse Hysterie bedingt durch die Moralvorstellungen der NS-Spitze und einen Schuss Wichtigtuerei der Gestapo-Ermittler, insgesamt durch eine Verkettung von Umständen, die dann zu einer Verwechslung der Personen und zur Beschuldigung des Generalobersten Werner Freiherr von Fritsch führten. Die Blomberg-Fritsch-Krise ist auch und gerade vor dem angesprochenen Hintergrund der Rolle der Wehrmacht im NS-Staat zu sehen. Es war ein Machtkampf der Wehrmachtsjustiz gegen die Gestapo. Es ging dabei nicht um politischen oder militärischen Widerstand gegen das NS-Regime, sondern vielmehr um die Macht im NS-Staat und die Zurückdrängung der Gestapo durch die (Wehrmachts-)Justiz.
Festzuhalten für die Bewertung des späteren Handelns von Sack ist hier nur noch, dass er bei diesen Ermittlungen Kontakt hatte mit Dr. Hans von Dohnanyi. Dohnanyi war Persönlicher Referent von Reichsjustizminister Gürtner. Sack und er hatten sich in dienstlicher Eigenschaft schon 1936 bei der Strafrechtskommission des Reichsjustizministers kennengelernt. Hier, im Rahmen der Blomberg-Fritsch-Krise treffen sie wieder zusammen – und sind jeweils dienstlich mit der Affäre befasst. Auch darauf werden wir noch zurückkommen.
Nach Abschluss des Untersuchungsverfahrens gegen von Fritsch nimmt Karl Sack erst richtig seine Tätigkeit als Reichskriegsgerichtsrat auf. Er ist dem Senat für Hoch- und Landesverratssachen zugeteilt. Bis zum Oktober 1939 wirkt er an ungefähr 50 Einzelverfahren mit, 14 sind Verfahren wegen Landesverrats und enden alle mit einem Todesurteil.
Inzwischen hat Hitler mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg entfacht. Offensichtlich hält es Sack, den vielfach verwundeten und hoch dekorierten Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, nicht mehr an seinem Schreibtisch und auf der Richterbank des Reichskriegsgerichts in Berlin. Er will zur kämpfenden Truppe. Vielleicht verspricht er sich davon auch noch einen Schub für sein berufliches Fortkommen. Denn – wie wir gesehen haben – hat Sack durchaus ein Gespür dafür, wann und wohin ein Wechsel für seine Karriere vorteilhaft ist. Und so verlässt er Anfang November 1939 auf eigenen Wunsch das Reichskriegs-gericht und wird Rechtsberater des Oberbefehlshabers des Heeresgruppenkommandos A, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt. Dort ist er 1 ¾ Jahre, zunächst im Westfeldzug und dann im russischen Sommerfeldzug.
Die Beurteilung seiner dienstlichen Leistungen ist weiterhin ausgezeichnet. 1940 heißt es, Sack sei ein überdurchschnittlich begabter Beamter, den neben großem juristischem Können eine schnelle Auffassungsgabe, Frische und ein klarer Blick für die Notwendigkeiten auszeichne. Der bewährte Feldsoldat des Weltkrieges denke und handle soldatisch und verstehe es vorzüglich, „Gesetz und jeweilige militärische Belange miteinander in Einklang zu bringen“. Seine Rechtsberatung sei von „warmem menschlichen Verständnis und absoluter Unbestechlichkeit des Urteils getragen“. Weiter heißt es, er „wurzle im Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung“. Die Beurteilung schließt mit der Feststellung, dass sich Sack, der als Heeresgruppenrichter „seine Stellung als Rechtsberater des Herrn Oberbefehlshabers sehr gut“ ausfülle, für die höchsten Richterstellen empfehle.
Mit dieser Empfehlung ist Sack dann für kurze Zeit in die Wehrmachtsrechtsabteilung in Berlin abkommandiert. Dort prüft man, ob er für eine herausgehobene Tätigkeit tatsächlich geeignet ist. Die Überprüfung ist positiv, und so wird Sack im August/-September 1941 erneut zur Wehrmachtsrechtsabteilung abkommandiert und als Gruppenleiter dort eingesetzt. Zum 1. Oktober 1942 ernennt man ihn zum Chef der Heeresrechtsabteilung im Oberkommando des Heeres mit dem Titel „Chefrichter des Heeres“ ernannt. Die Heeresrechtsabteilung hat ihren Sitz im sog. Bendlerblock in Berlin-Mitte und ist eine Abteilung des Allgemeinen Heeresamtes (AHA). Chef dieses Amtes ist General der Infanterie Friedrich Olbricht. Auf Olbricht werden wir noch zurückkommen, er ist einer der wichtigsten Verschwörer vom 20. Juli 1944.
Sack weitet seine Zuständigkeit noch aus. Er verbindet seine Heeresrechtsabteilung mit einer weiteren Abteilung, der Heeresfeldjustizabteilung. Beide Abteilungen bilden dann die Amtsgruppe Heeresrechtswesen und Sack ist der Chef dieser Amts-gruppe. Er ist damit der oberste Fachvorgesetzte aller Heeresrichter. Ihm unterstehen – um Ihnen eine Größenordnung zu nennen – im Jahr 1943 mehr als 1.000 Militärgerichte. Inzwischen ist er zum Ministerialdirektor im Oberkommando des Heeres befördert und wird – nach einer Umorganisation – im Mai 1944 noch Generalstabsrichter, das entspricht dem Rang eines Generalleutnants.
Damit ist Karl Sack innerhalb von knapp 10 Jahren vom recht unscheinbaren Landgerichtsrat am Landgericht Mainz zum Chef von mehr als 1.000 Gerichten und zum obersten Fachvorgesetzten deren Richter aufgestiegen. Es bedarf keiner größeren Erörterung, dass diese glanzvolle Karriere ein hohes Maß von Anpassung an das und Konformität zu dem NS-System erforderte, dem man diente und weiter dient – zumal wenn man sich die Rigorosität der NS-Diktatur vor Augen hält.
Welche Erwartungen Sack dabei erfüllte und auch noch erfüllen sollte, wird aus dem Schreiben des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel vom 26. September 1942 – also aus Anlass seiner Ernennung zum „Chefrichter des Heeres“ - deutlich. Darin schreibt Keitel, dass nach dem „Willen des Führers“ zur Erfüllung der Aufgaben des „Großdeutschen Reiches“ eine starke Rechtspflege erforderlich sei, auch für die Wehrmacht. Und er äußert sich zufrieden mit der Arbeit der Heeresjustiz, die dazu beigetragen habe, Zersetzungserscheinungen im Keime zu ersticken. Keitel verlangt von den Kriegsgerichten, auf dieser Linie fort zu fahren und schreibt wörtlich:
Nicht zuletzt setze ich als selbstverständlich voraus, dass der Richter jeden Ranges fest in der nationalsozialistischen Weltanschauung wurzelt und seine Arbeit danach ausrichtet. Dieses Gedankengut weiter zu vertiefen, ist eine Aufgabe, die ich dem Chef der Heeresjustiz besonders ans Herz lege.
Als höchster Fachvorgesetzter aller Heeresrichter hat Sack vor allem die Aufgabe, die Urteile der Militärgerichte zu überprüfen, zu bestätigen bzw. nicht zu bestätigen und so für eine einheitliche Rechtsanwendung und Strafzumessung zu sorgen. Ziel ist, die Disziplin und Ordnung in der Deutschen Wehrmacht mit den Mitteln des Rechts aufrechtzuerhalten. Dies wird mit der Dauer des Krieges und der zunehmenden Erfolglosigkeit der Wehrmacht immer dringlicher und schwieriger. Die militärische Führung und auch Sack greifen immer mehr zu einer rigorosen Abschreckungsjustiz, die oft mit einem Todesurteil und dessen Vollstreckung endet.
Die Richtung dafür vorgegeben hat Hitler selbst in einem Erlass vom 14. April 1940 für die Strafzumessung bei Fahnenflucht. In ihm heißt es u.a.:
Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach der besonderen Lage des Einzelfalles unerlässlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten.
Die Todesstrafe ist im Allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht oder versuchter Flucht ins Ausland. Das gleiche gilt, wenn der Täter erheblich vorbestraft ist oder sich während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt hat.
Sack verfolgt diese Linie als Chef der Heeresjustiz weiter und erfüllt damit die in ihn gesetzten Erwartungen voll und ganz. Nach einem knappen Jahr als Chefrichter des Heeres fasst er seine Erfahrungen bei der Bestätigung bzw. Nichtbestätigung von Urteilen der Wehrmachtsgerichte zusammen. Dazu gibt er den „Erfahrungsbericht Nr. 1 in Bestätigungssachen“ vom 1. September 1943 an alle Kriegsgerichte heraus. Darin heißt es etwa zur Strafverfolgung von Deserteuren:
Erschwerungsgründe sind vor allem staats- und wehrfeindliche Einstellung und asoziale Persönlichkeit. Der Krieg fordert harte Opfer der besten Männer, rafft volksbiologisch wertvolle Menschen hinweg und bringt unsägliches Leid über sittlich und körperlich hochstehende Sippen. Es kann daher ein besonderer Schutz minderwertiger Menschen nicht in Frage kommen, mag es sich im Einzelnen auch um bemitleidenswerte Personen handeln. Bei wehrfeindlicher Einstellung ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen.
Und schließlich weitet Sack in seinem Erfahrungsbericht den Begriff der Fahnenflucht noch aus und bedroht damit noch viel mehr Soldaten mit dem Tode. In dem Bericht heißt es:
Im Übrigen muss auch der Soldat, der nicht mehr den Willen hat, an gefährdeten Stellen zu kämpfen, wohl aber in anderen Feldtruppenteilen, etwa bei rückwärtigen Einheiten Dienst tun will, bei richtiger Würdigung der heutigen Kampfverhältnisse als Fahnenflüchtiger behandelt werden. Der Begriff der „Furcht vor persönlicher Gefahr“ darf dabei nicht zu eng gefasst werden. Der Krieg erfordert restlosen Einsatz des letzten Mannes. Wer sich den Unbilden der Witterung und den Beschwerlichkeiten des Landes entziehen will, handelt aus Mangel an Mut und muss dem Täter gleichgestellt werden, der sich vor der feindlichen Waffenwirkung scheut. Mehr wie je in einem Krieg hängt der Endsieg im gegenwärtigen Lebenskampfe unseres Volkes davon ab, dass jeder Mann sich in unerschütterlicher Treue auf dem ihm anvertrauten Posten hält.
Die von Sack so geforderte und auch in die Tat umgesetzte rigorose Abschreckungsjustiz war eine „Blutjustiz“. Die Wissenschaft geht heute von einer Gesamtzahl der Todesurteile der Wehrmachtsjustiz von 25.000 bis 30.000 aus – ohne Berücksichtigung der Justiz gegen Kriegsgefangene und Zivilisten.
Diese Zahlen und diese Anweisungen einschließlich der menschenverachtenden Sprache passen – und darüber müssen wir wohl nicht lange reden – nicht zu dem Bild eines Widerstandskämpfers. Hier ging es nicht um Rechtsprechung, sondern um „Ausmerze“ von „volksschädlichen Subjekten“, die dem „Endsieg“ Adolf Hitlers und des deutschen Volkes im Wege standen. Deshalb müssen wir alle uns die Frage stellen, wie Karl Sack noch kurz vor Ende des Krieges, der bekanntlich nicht mit dem „Endsieg“ endete, als Widerstandskämpfer ermordet wurde.
Diese Frage haben Sie sich bestimmt schon seit einiger Zeit gestellt. Ich muss Ihnen sagen, dass ich sie nicht einfach und eindeutig beantworten kann. Andere haben es auch schon versucht und keine überzeugende und klare Antwort gefunden bzw. finden wollen. Selbst der sehr wohlmeinende Biograf Karl Sacks namens Hermann Bösch kommt nicht umhin festzustellen, dass von ihm praktisch keine persönlichen Zeugnisse über sein widerständiges Verhalten (wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe u.ä.) existieren, ebenso wenig wie Primärquellen aus der Zeit. Das allermeiste, das es überhaupt gibt, sind Aussagen und Wertungen, die meist ehemalige Wehrmachtsjuristen nach dem Krieg gemacht haben. So sind wir darauf angewiesen, Indizien und Mosaiksteine zu sammeln und diese zu einem Bild zusammen zu fügen, das redlich ist und der Person, dem Leben und Wirken Sacks möglichst gerecht wird.
Wir haben bis jetzt den Lebens- und Berufsweg Karl Sacks bis zum 1. Mai 1944, bis zu seiner Ernennung zum Generalstabsrichter, nachgezeichnet. Dabei haben wir keinerlei widerständiges, verschwörerisches Verhalten Sacks feststellen können – obwohl es im militärischen Bereich seit Frühjahr/Sommer 1938 solches gegeben hat. Auslöser war damals die erwähnte Blomberg-Fritsch-Krise sowie die Kriegsvorbereitungen Hitlers. An diesen Verschwörerplänen war Sack aber nicht beteiligt, sie zerstoben im Übrigen dann angesichts der Appeasementpolitik der Engländer und der Franzosen und dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938.
Vielmehr hat Sack - wie wir gesehen haben - die Wehrmachtsjustiz zu einer rigorosen Abschreckung im Dienste Hitlers und des „Endsiegs“ angetrieben.
Die ersten nachgewiesenen Unterstützungshandlungen Sacks für einen Widerständler betrafen den bereits erwähnten Hans von Dohnanyi. Ihn hatte Sack im Rahmen der Strafrechtskommission im Jahr 1936 kennen gelernt und mit ihm weiteren Kontakt im Rahmen der Blomberg-Fritsch-Krise. Dann schied Dohnanyi aus dem Reichsjustizministerium aus und war Richter am Reichs-gericht. Wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wechselte er zur Amtsgruppe Auslandsnachrichten/-Abwehr. Das war der militärische Geheimdienst. Sein Chef war Admiral Wilhelm Canaris. Chef des Stabes war Generalmajor Hans Oster. Canaris und Oster waren seit 1938 entschiedene Hitlergegner und Verschwörer. Zu diesen stieß ganz bewusst Dohnanyi.
Die Arbeit beim Geheimdienst brachte es mit sich, dass die Mitarbeiter von den Verbrechen der Wehrmacht und dem Holocaust früh und eingehend erfuhren. Dohnanyi entschloss sich zu einer Hilfsaktion für einige Juden, sie sollten mit Hilfe des Amtes Ausland/Abwehr in die Schweiz gebracht werden. Dabei musste man mit Devisen arbeiten. Wegen angeblicher Devisenvergehen wird Dohnanyi Anfang April 1943 verhaftet. Mit ihm werden weitere Mitglieder des Amtes Ausland/Abwehr festgenommen: sein Vorgesetzter Hans Oster, Dietrich Bonhoeffer – der Schwager von Hans von Dohnanyi ist – und der später als „Ochsensepp“ bekannte Josef Müller. Es ging damals also noch nicht um eine Verschwörung bzw. eine Beteiligung Dohnanyis und der anderen an einer Verschwörung. Aufgrund der Bekanntschaft mit Dohnanyi setzt sich Sack vielmehr für ihn und auch für den „Ochsensepp“ Müller ein. Er sorgt für eine Verzögerung der Ermittlungen gegen die beiden und dafür, dass sie auf den unpolitischen Bereich dieses Falles beschränkt bleiben. Alexander Kraell, der Schulkamerad vom Gymnasium in Bad Kreuznach, der inzwischen Senatspräsident beim Reichskriegsgericht ist, unterstützt ihn dabei. Dessen Motive dabei sind nicht klar.
Weitere nachgewiesene Unterstützungshandlungen Sacks für den militärischen Widerstand datieren von Ende Juni/Anfang Juli 1944 und ergeben sich aus dem Kontakt mit dem späteren Hitler- Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Stauffenberg wurde nach seiner schweren Verwundung und Genesung im Oktober 1943 Stabschef des Allgemeinen Heeresamtes und arbeitete damit bei derselben Dienststelle wie Karl Sack. Daher kennen sich die beiden.
Vor diesem Hintergrund spricht Stauffenberg Sack an und bittet ihn, Kontakt zu Oberst Wilhelm Staehle aufzunehmen. Staehle ist der letzte Kommandant der Invalidensiedlung in Berlin-Frohnau, ist gut bekannt mit Carl Friedrich Goerdeler und Mitglied einer bürgerlich-oppositionellen „Teegesellschaft“ und Widerstands-gruppe, dem Solf-Kreis. Mitglieder des Solf-Kreises werden seit Januar 1944 verhaftet. Am 12. Juni 1944 wird Wilhelm Staehle von der Gestapo festgenommen. Das ist die Zeit, in der die Vorbereitungen für das Attentat auf Hitler auf Hochtouren laufen. Die Verschwörer um Stauffenberg sind durch die Verhaftung Staehles empfindlich getroffen. Sie wollen unbedingt wissen, was er bei seinen Vernehmungen durch die Gestapo über seinen Kontakt zu Goerdeler und dessen Pläne als „ziviler Kopf“ der Verschwörung ausgesagt hat.
Um dies zu erfahren, tritt Stauffenberg an Sack als den höchsten Heeresrichter heran. Noch vor dem Attentat am 20. Juli 1944 besucht Sack Staehle in der Untersuchungshaft. Er erfährt, dass dieser seinen jahrelangen Kontakt zu Goerdeler nicht verschwiegen, aber nichts für die Verschwörer „Gefährliches“ verraten hat. Sack informiert Staehle noch darüber, dass er dessen Überführung in ein Wehrmachtsgefängnis angeordnet habe, um ihn vor den Vernehmungen durch die Gestapo zu schützen.
Über dieses Gespräch, das von der Gestapo mitgehört wird, informieren die Verschwörer Goerdeler, der daraufhin vorsichtiger wird. In der Folgezeit beschäftigt sich die Gestapo mit der Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen Sacks Besuch bei Staehle und der Warnung Goerdelers besteht.
Unterdessen kommt es am 20. Juli 1944 zum Attentats- und Umsturzversuch, die beide scheitern. Man fragt sich, ob und ggf. wo Sack dabei eine Rolle spielt. Es ist nicht viel, was dazu in Erfahrung gebracht werden kann. Nachgewiesen ist, dass Sack als höchster Heeresrichter genau unter dem Datum des 20. Juli 1944 die Anordnung des Chefs der Parteikanzlei Martin Bormann vom März 1944 an alle Gerichte des Feld- und Ersatzheeres weiterleitet. Darin verbietet Bormann, der sich auf einen „Auftrag des Führers“ beruft, allen Parteigenossen, Leumundszeugnisse oder Befürwortungen von Gnadengesuchen für „Volksschädlinge“ abzugeben.
Das einzige mehr oder minder Außerdienstliche, was ich dazu in der Literatur in Erfahrung bringen konnte, ist, dass Karl Sack an diesem 20. Juli 1944 zu Hause beim Geburtstagskaffee seiner Frau sitzt. Da erreicht ihn gegen 16 Uhr ein Anruf des Chefs des Stabes von General Olbricht, also von seinem Chef. Olbricht, der gerade die Befehle für den Umsturz, die Walküre-Befehle ausgegeben hat, lässt ihn bitten, sofort zur Dienststelle im Bendlerblock zu kommen. Sack fährt dorthin, wird von Olbricht kurz über die Situation ins Bild gesetzt und verlässt nach ca. 15 Minuten wieder den Bendlerblock. Anschließend fährt Sack in die Privatwohnung des Abwehrchefs Canaris und informiert diesen über die Situation. Dann fährt Sack wieder nach Hause. Dort erreicht ihn erneut ein Anruf vom Bendlerblock. Wieder eilt Sack dorthin. Olbricht hat ein Abendessen für Leute seiner Umgebung herrichten lassen, nimmt aber an dem Essen selbst nicht teil. Sack verlässt schon bald am frühen Abend des 20. Juli den Bendlerblock. Olbricht wird dann mit Stauffenberg und anderen Mitverschwörern kurz nach Mitternacht im Hof des Bendlerblocks erschossen.
Sofort beginnt das NS-Regime einen Rachefeldzug gegen die Verschwörer – die tatsächlichen und die vermeintlichen. Im Reichssicherheitshauptamt wird aus 400 Gestapo- und Kripobeamten die „Sonderkommission 20. Juli“ gebildet. Sie nimmt in den folgenden Wochen mehr als 600 Männer und Frauen fest. Schon wenige Tage später werden der Chef des Amtes Ausland/Abwehr Wilhelm Canaris und am 11. August Goerdeler festgenommen. Der Fall Dohnanyi und der anderen Abwehr-Leute wird von der „Sonderkommission 20. Juli“ übernommen.
All dies hat keine erkennbaren Auswirkungen auf Sack persönlich. Wohl aber dienstlich. Es tritt genau das ein, was Sack in der Blomberg-Fritsch-Affäre 1938 zu verhindern versucht hat: Nicht nur die Gestapo hat jetzt umfassende Vollmachten, sondern Himmler der Chef der Deutschen Polizei und Reichsführer-SS wird von Hitler jetzt auch noch zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Himmler ist damit Sacks Vorgesetzter. Am Tag darauf bestellt Himmler als neu ernannter Befehlshaber des Ersatzheeres seine Abteilungsleiter – darunter auch Karl Sack – zu sich und verpflichtet jeden von ihnen – ganz feierlich – mit einem Händedruck zu unbedingter Treue gegenüber dem „Führer“.
Sack versieht sodann weiterhin seinen Dienst als höchster Heeresrichter. In der Chefrichterbesprechung am 9. August 1944 schwört Sack die versammelten Wehrmachtsrichter auf Himmler ein und unterstreicht die Pflicht der Heeresgerichte, streng nach den Richtlinien des „Reichsführers SS“ tätig zu werden. Sie seien in der Sache voll berechtigt. Einige Tage später erhält Sack von Himmler die Mitteilung/Anweisung, dass grundsätzlich die Todesstrafe geboten sei, wenn Soldaten sich dahin äußerten, dass es gut wäre, wenn das Attentat vom 20. Juli 1944 geglückt wäre. Schließlich verlangt Sack in einem Rundschreiben vom 1. September 1944 an die Militärgerichte, die Strafzumessung müsse lebendig wirken. Es dürfe keine nüchterne Aufzählung von Strafschärfungs- und Milderungsgründen geben. Die Tat müsse ihrem wahren Charakter nach deutlich gekennzeichnet, das Urteil aus dem Kriegsgeschehen und den Kriegsnotwendigkeiten gerechtfertigt sein.
Eine der letzten Amtshandlungen Sacks ist eine Meldung an den „Reichsführer SS“. Vor dem Hintergrund, dass die Hinrichtungen der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 begonnen haben, teilt Sack Himmler mit, dass die Vollstreckung der Todesstrafe durch Enthaupten bei der allgemeinen Justiz in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee im Monat nur zwei- bis dreimal stattfindet und infolgedessen ständig etwa 400 bis 500 Verurteilte auf die Hinrichtung dort warten. In dieser Zeit bestätigt Sack als höchster Richter der Heeresjustiz täglich durchschnittlich drei bis fünf Todesurteile – ohne Erbarmen und das, obwohl seine beiden Söhne
Heinz Hermann und Karl August im Krieg gefallen sind.
Nur wenige Tage später, am 7. September 1944, bricht das Unheil über Karl Sack selbst herein. Von diesem Tag datiert der Bericht des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes Kaltenbrunner an den Leiter der Parteikanzlei Bormann. Darin fasst Kaltenbrunner die Erkenntnisse der Gestapo über Sack zusammen und erwähnt insbesondere, dass Sack Staehle nach dessen Verhaftung in der Untersuchungshaft aufgesucht und ihn über den Inhalt seiner Gestapo-Verhöre ausführlich befragt habe. Am folgenden Tag, am 8. September 1944, wird Sack von der Gestapo verhaftet.
Ob Anlass für diese Verhaftung allein das mitgehörte Gespräch mit Staehle ist, erscheint fraglich. Denn immerhin hat dieser Kontakt fast acht Wochen vorher, noch vor dem 20. Juli 1944, stattgefunden. Es ist wahrscheinlich, dass noch einiges hinzugekommen ist, vielleicht Informationen, die die Gestapo aus den Verhören Goerdelers erhalten hat. Es ist wohl kein Zufall, dass Sack an dem Tag von der Gestapo verhaftet wird, an dem die Hauptverhandlung gegen Goerdeler vor dem Volksgerichtshof beginnt.
Auf jeden Fall verschlechtert ein weiteres Ereignis die Lage Sacks und der Abwehr-Leute um Dohnanyi, Oster, Canaris und Bonhoeffer wesentlich. Es ist ein Aktenfund, der Fund der sog. Zossener Dokumente. Am 22. September 1944 entdecken Beamte der „Sonderkommission 20. Juli“ in einem Bunker im Quartier des Oberkommandos des Heeres in Zossen Akten, die das Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht im Laufe der Jahre über die Widerstandsbewegung angelegt hat. Dazu gehören Teile des Canaris-Tagebuchs mit Aufzeichnungen über Gespräche mit Militärs über Möglichkeiten eines Umsturzes zwischen Herbst 1939 und Frühjahr 1940 und eine Studie Osters über die personellen Ressourcen der Verschwörung gegen Hitler sowie die nach einem Staatsstreich vorzunehmenden Exekutionen von Angehörigen der Staats- und Parteiführung.
Daraufhin werden Dohnanyi und die anderen Abwehr-Leute zu diesen Aktivitäten eingehend befragt. Nicht bekannt ist, inwieweit Sack in diese Ermittlungen einbezogen ist. Es ist aber davon auszugehen, dass aufgrund dieses Aktenfundes und/oder Vernehmungen von Goerdeler der Gestapo bekannt wird, dass u.a. Karl Sack von den Verschwörern als Reichsjustizminister vorgesehen war. Denn Wehrmachtsjuristen, die Sack helfen wollen, erhalten auf die Frage nach dem Grund für Sacks Festnahme sowie seinen Verbleib die Antwort, sein Name habe auf einer Ministerliste der Verschwörer gestanden.
Ende 1944 hält der die Ermittlungen leitende Beamte namens Walter Huppenkothen – auch auf ihn wird noch zurückzukommen sein - die „Bearbeitung des hochverräterischen Komplexes“ für abgeschlossen. Gegen die Verschwörer aus dem Bereich der Abwehr und auch gegen Sack könne Anklage erhoben werden. Hitler erlässt aber die Weisung, die durch die Zossener Dokumente belasteten Häftlinge nicht dem Volksgerichtshof zu überstellen. Vielmehr kommt es zu weiteren Verhören.
So bleiben Sack und weitere Gefangene wie Dohnanyi und die anderen der Abwehr ohne gerichtliches Verfahren weiter in Gestapohaft. Die Lage der Gefangenen ändert sich, als durch amerikanische Luftangriffe am 3. Februar 1945 wichtige Gebäude der NS-Herrschaft schwer beschädigt und zerstört werden. Daraufhin werden Sack und die Abwehr-Leute in das Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz verschleppt. Von Dohnanyi bleibt im KZ Sachsenhausen, er ist so krank, dass er nicht dorthin transportiert werden kann.
Möglicherweise hätten die Gefangenen das Ende der NS-Diktatur und die Befreiung noch erlebt, wären nicht am 5. April 1945 fünf Bände von Canaris’ Tagebuch gefunden worden. Als diese Hitler sofort vorgelegt werden, befiehlt er nach einem Wutanfall die sofortige „Vernichtung der Verschwörer“: Huppenkothen soll die „Mitglieder“ des Canaris-Kreises von SS-Standgerichten aburteilen lassen und dabei selbst die Anklage vertreten.
Weisungsgemäß organisiert Huppenkothen die SS-Standgerichtsverfahren, und zwar ein Verfahren für den totkranken Dohnanyi im KZ Sachsenhausen und ein weiteres im KZ Flossenbürg. Zunächst wird Dohnanyi in Sachsenhausen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dann werden in Flossenbürg angeklagt Wilhelm Canaris, Hans Oster, Dietrich Bonhoeffer, Karl Sack und Ludwig Gehre – letzterer ebenfalls ein Mitglied des Amtes Ausland/Abwehr. Huppenkothen ist der „Ankläger“, als Vorsitzer des Standgerichts fungiert der Jurist und SS-Sturmbannführer Dr. Thorbeck, Chefrichter beim SS- und Polizeigericht in München, Ein Beisitzer ist der Kommandant des KZ Flossenbürg. Ein zweiter Beisitzer ist bis heute unbekannt geblieben. Grundlage des Verfahrens sind die fünf Bände Tagebuchaufzeichnungen.
Wie später festgestellt wird, weisen diese beiden SS-Standgerichtsverfahren mindestens 9 eklatante Fehler auf. So steht ihre Zuständigkeit, ihre Zusammensetzung und ihr Verfahren in eklatantem Widerspruch selbst zu dem NS-(Un-)“Recht“. Weitere Fehler sind etwa fehlende Verteidiger, fehlende Protokollführung und eine fehlende Urteilsbestätigung. Wie zu erwarten war, werden alle Angeklagten wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt. Am frühen Morgen des 9. April 1945 – also vor genau 70 Jahren - werden sie im Hof des Konzentrationslagers Flossenbürg hingerichtet.
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Sie setzt sich – in Intervallen – praktisch bis heute fort.
Das standgerichtliche Verfahren in Flossenbürg hatte für den Ankläger Huppenkothen und den Richter Thorbeck nach dem Krieg noch ein Nachspiel. Es folgten: ein Strafverfahren vor dem Land-gericht München, das mit einem Freispruch für Huppenkothen endete, ein Verfahren vor dem Bundesgerichtshof, das dieses Urteil aufhob, ein weiteres Urteil des Landgerichts München, mit dem Huppenkothen wiederum freigesprochen wurde, ein weiteres Verfahren vor dem Bundesgerichtshof, das auch dieses Urteil aufhob, ein Urteil des Landgerichts Augsburg, mit dem Huppenkothen zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und schließlich im Jahr 1956 ein letztes Verfahren vor dem Bundesgerichtshof.
Das Urteil von 1956 ist das berühmt-berüchtigte Huppenkothen-Urteil. Mit ihm änderte der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung. In ihm heißt es zum Angriffskrieg und Vernichtungskrieg Hitlers und der Sicherung der Disziplin hierbei u.a., jeder Staat habe das Recht auf Selbstbehauptung und in einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind bei allen Völkern von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Ein solches recht könne man auch dem NS-Staat nicht absprechen.
Und nach Erörterung, dass der Widerstand gegen das NS-Regime ein Verbrechen war, das allenfalls die Schuld der Widerständler ausschließen konnte, heißt es dann weiter:
Soviel darf aber gesagt werden: Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer wegen seiner Tätigkeit in der Widerstandsbewegung abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden, wenn er angesichts seiner Unterworfenheit unter die damaligen Gesetze nicht der Frage nachging, ob dem Widerstandskämpfer etwa der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstands unter dem Gesichtspunkt eines höheren, den Strafdrohungen des staatlichen Gesetzes voraus liegenden Widerstandsrechts zur Seite stehe, sondern glaubte, ihn des Hoch- oder Landesverrats bzw. des Kriegsverrats (…) schuldig erkennen und deswegen zum Tode verurteilen zu müssen.
Das war juristischer Verrat an den Widerstandskämpfern, sie waren danach also Verbrecher. Und das war ein „Persilschein“ für die NS-Justiz. Denn wer hielt sich damals – gerade auch wenn man an die Weisungen Sacks denkt – für nicht berechtigt so zu handeln wie er handelte. Und selbst wenn der Betreffende Zweifel gehabt haben sollte: Wer gab nach dem Krieg das schon zu – und ging dann seines „Persilscheins“ verlustig? Die Folgen dieses Urteils waren verheerend. Kein einziger Richter, kein Staatsanwalt wurde in der Bundesrepublik Deutschland wegen der tausendfachen Justizverbrechen im „Dritten Reich“ verurteilt. Es dauerte dann fast 40 Jahre, bis das höchste deutsche Strafgericht, der Bundesgerichtshof, in einem Verfahren gegen einen ehemaligen DDR-Richter die Fehlerhaftigkeit dieser Rechtsprechung eingestand.
Die Geschichte von und über Dr. Karl Sack selbst beginnt mit der Würdigung durch den bedeutenden Historiker Gerhard Ritter. Er bezeichnete Sack als „eine der edelsten und tapfersten Gestalten der deutschen Widerstandsbewegung“. Sie setzte sich fort mit den seit den 1950er Jahren regelmäßig stattfindenden „Kameradschafts-treffen“ ehemaliger Kriegsrichter. Bis zu 300 ehemalige Kriegs-richter trafen sich alle zwei Jahre, um drei Anliegen durchzusetzen: Erstens die „Festigung der alten, in schwerer Zeit bewährten“ kriegsrichterlichen „Kameradschaft“. Zweitens die Mitarbeit bei der Wiedereinführung einer „ordentlichen Militärgerichtsbarkeit“. Und drittens die propagandistische Lobbyarbeit in eigener Sache – sie sollte ein geschöntes, apologetisches Geschichtsbild von der NS-Militärjustiz schaffen.
Ein wichtiges Ergebnis dieser Lobbyarbeit war ein „Forschungs-vorhaben“ zweier ehemaliger Kriegsrichter, die 1967 in der Reihe „Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus“ einen Band zur Geschichte der Wehrmachtsjustiz schreiben sollten. Der Heraus-geber der Reihe, das Institut für Zeitgeschichte in München, lehnte aber die Veröffentlichung des Manuskripts wegen seiner offensichtlichen Geschichtsknittelung ab. Im selben Jahr – 1967 – erschien von dem Sack-Biograf Hermann Bösch die erste Biografie mit dem Titel: „Heeresrichter Dr. Karl Sack im Widerstand.“ Sie ist sehr unkritisch und beschreibt Sack als entschiedenen Widerstandskämpfer und Hitlergegner seit der Blomberg-Fritsch-Krise von Anfang 1938. 10 Jahre später veröffentlichte dann ein früherer Militär-richter und Strafrechtsprofessor namens Erich Schwinge das erste umfassende Werk zur NS-Militärjustiz. Es war eine sehr unkritische, die Geschichte der NS-Militärjustiz verfälschende Arbeit. Sie hatte bis gegen Ende der 1980er Jahre das Deutungs-monopol der NS-Militärjustiz und bestimmte das Bild dieser Gerichtsbarkeit und ihrer Mitglieder. In die gleiche Kerbe zielte dann die von Stephan Dignath im Auftrag des evangelischen Kirchenvorstandes Bosenheim herausgegebene weitere Biografie mit dem Titel: „Dr. Karl Sack – Ein Widerstandskämpfer aus Bosenheim – Bekenntnis und Widerstand.“ Sack war dabei für Schwinge und seine Kameraden der NS-Militärjustiz geradezu „Gold“. Denn als vom NS-Regime hingerichteter Widerstandskämpfer wurde und wird er als ein „Aushängeschild“ der ganzen Militärjustiz benutzt. Für die Apologeten der NS-Militärjustiz soll er die falsche These von der Wehrmachtsjustiz als „Enklave des Widerstandes“ stützen.
Dieses Bild wurde in den folgenden Jahren maßgeblich von dem sog. Hobbyhistoriker Fritz Wüllner und dem Militärhistoriker Manfred Messerschmidt korrigiert. Deren Bewertung der NS-Militärjustiz floss dann im Jahr 1991 in ein Urteil des Bundes-sozialgerichts ein. In einem Entschädigungsverfahren einer Witwe eines hingerichteten Soldaten bezeichnete es die Todesstrafenpraxis als Terrorjustiz. Das lasse vermuten – so das Gericht weiter -, dass grundsätzlich die Todesurteile der Wehrmachtgerichte offensichtlich unrechtmäßig sind.
Diese kritische Aufarbeitung der NS-Militärjustiz hat inzwischen auch das Bild des Widerstandskämpfers Karl Sack teilweise korrigiert. Zwar hat der Biograf Sacks, Hermann Bösch, auf das Urteil des Bundessozialgerichts hin noch einmal eine umfang-reichere Biografie Sacks veröffentlicht, doch bringt diese nichts Neues. Andererseits hat der Historiker Norbert Haase ein kritisches Bild und meiner Meinung nach zutreffendes Bild des Generalstabsrichters Sack gezeichnet.
Zusammenfassend kann man heute zu dem Bosenheimer Pfarrers-sohn Karl Sack feststellen: Mit Blick auf seine Tätigkeit als höchster Heeresrichter sowie seine nicht ganz klare und nicht so bedeutende Rolle im Widerstand ist er eine umstrittene Persönlichkeit des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime.
Zu Ehren von Karl Sack sind Straßen in Bosenheim, in Gießen und in Butzbach nach ihm benannt. Am ehemaligen Reichskriegsgericht in Berlin, dem heutigen Berliner Kammergericht, erinnert seit 1984 eine Tafel an ihn. Eine weitere Erinnerungstafel ist an dem Geburtshaus von Karl Sack in der Karl Sack-Straße 2 in Bad Kreuznach-Bosenheim angebracht. Auf ihr heißt es, Karl Sack sei gewesen ein
Widerstandskämpfer gegen das Unrecht des 3. Reiches, für Freiheit, Recht und Menschenwürde.
Das ist nach meinem Vortrag ja nun starker Tobak.
Gegenüberstellung:
Erinnerungstafel: |
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Gegen das Unrecht des 3. Reiches |
BSG: Todesstrafenpraxis als Terrorjustiz. unrechtmäßig |
Für Freiheit |
Wahlspruch: Gott – Ehre – Vaterland gerade nicht: Freiheit |
Für Recht |
3 – 5 Todesurteile pro Tag bestätigt |
Für Menschenwürde |
„Ausmerzen von asozialen Subjekten“ |
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld mit dem Thema und mit mir.
sowie HIER einen Leserbrief dazu in der Allgemeinen Zeitung – Rhein-Mai Presse vom 28. April 2015.