Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Aus Anlass der 86. Wiederkehr der Novemberpogrome am 9./10. November 1938 hat unser stellvertretender Vositzender Joachim Hennig am 2. November 2024 im "Circus Maximus" in Koblenz einen Vortrag über die sog. Reichspogromnacht in Koblenz gehalten. Für die Homepage unseres Fördervereins hat Hennig den Vortrag als Beitrag umgearbeitet.
Lesen Sie nachfolgend "Die sog. Reichspogromnacht im November 1938 in Koblenz": 

 

  Die sog. Reichspogromnacht im November 1938 in Koblenz

   von Joachim Hennig

 

 

Die ehemalige Synagoge „Bürresheimer Hof“ auf dem Florinsmarkt nach dem Bombenangriff am 6. November 1944 (Quelle: Stadtarchiv Koblenz).

 Das Jahr 1938 war das Schicksalsjahr für die Juden in Deutschland und auch für die in Koblenz. Seit der Machtübernahme am 30. Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten und ihre vielen, viel zu vielen Helfer sie immer mehr ausgegrenzt und diskriminiert. Mittlerweile lebten Juden in einem Art Ghetto, in sozialer und kultureller Isolation. Zudem war ihre Lage geprägt durch die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben.

Verstärkt wurde dieser gesellschaftliche Ausschluss durch die Emigration von Bekannten und Familienangehörigen, dadurch fühlten sich viele zurück- und alleingelassen. Hinzu kamen ganz systematisch und hart und dicht weitere gesetzliche Maßnahmen: Die jüdischen Kultusgemeinden verloren ihren Rechtsstatus, waren nur noch Vereine bürgerlichen Rechts, die einzelnen Juden hatten ihr Vermögen anzumelden und zu bewerten, eine große Anzahl weiterer Berufe durften sie nicht mehr ausüben, als Personalausweisersatz mussten sie sich eine Kennkarte mit einem großen „J“ ausstellen lassen, diese stets bei sich tragen und unaufgefordert bei Behörden u.a. vorzeigen, schließlich hatten sie die Zwangsnamen „Israel“ und „Sarah“ als weitere Vornamen anzunehmen.

Seinen grausamen Höhepunkt hatte das Schicksalsjahr 1938 dann im Novemberpogrom vom 9./10. November 1938. Man nennt das heute noch „Reichspogromnacht“, für die Nazis war das die „Reichskristallnacht“.

Der Pogrom bedeutete einen Rückfall in die Barbarei. In einer Nacht wurden die Errungenschaften der Aufklärung, der Emanzipation, der Gedanke des Rechtsstaats und die Idee von der Freiheit des Individuums zuschanden. Seit dem 15. Jahrhundert hatte es in Mitteleuropa eine solche Judenverfolgung nicht mehr gegeben. Und dabei war der Novemberpogrom nicht – wie die im Mittelalter – ein unorganisierter, unkontrollierter Ausbruch von Gewalttätigkeiten. Vielmehr war er regelrecht programmiert und in Szene gesetzt von staatlichen und quasi-staatlichen Instanzen.

Ganz beiläufiger Anlass, der den Nazis – wie schon bei dem Reichstagsbrand am Abend des 27. Februar 1933 – „hervorragend“ in ihre Verfolgungspolitik passte und den sie mit ungeheurer Propaganda für ihre Verbrechen ausnutzten, war das Attentat auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Vom Rath wurde am 7. November 1938 von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris tödlich verletzt und starb zwei Tage später. Diese unmittelbare Vorgeschichte des Novemberpogroms hatte ihrerseits eine Vorgeschichte, die sog. Polenaktion. Mit ihr wurden zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 seit langem in Deutschland lebende Juden polnischer Staatsangehörigkeit an die deutsch-polnische Grenze verschleppt. Die Blitzaktion der Gestapo hatte wiederum eine Vorgeschichte, die bis in den März 1938 zurückreichte. Das ganze Geschehen war nicht von vornherein so geplant, es entwickelte sich nach und nach und nahm einen verhängnisvollen Verlauf. Und das kam so:

Entsprechend Hitlers Plan, unter Einschluss von Österreich das „Großdeutsche Reich“ zu errichten, marschierten am 12. März 1938 deutsche Truppen in die Alpenrepublik ein. Nach diesem von den Österreichern umjubelten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich fürchtete die polnische Regierung die Rückkehr von seit langem in Österreich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit, weil diese möglicherweise nicht unter der NS-Herrschaft leben wollten.

In dieser Sorge erließ das polnische Parlament am 31. März 1938 ein Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland gelebt hatten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Zunächst geschah aufgrund dieses Gesetzes aber nichts. Nach der sog. Sudetenkrise im Sommer 1938 wurde die Sorge Polens vor der Rückkehr „seiner“ Juden noch größer, lebten im Sudetengebiet ebenfalls polnische Juden. Daraufhin erließ die polnische Regierung eine Verordnung, die die Überprüfung der Pässe von Auslandspolen vorsah. Alle konsularischen Pässe, d.h. alle im Ausland ausgestellten Dokumente, sollten ab dem 31. Oktober 1938 nur noch dann zur Einreise nach Polen berechtigen, wenn sie einen besonderen Überprüfungsvermerk erhalten hatten. In der Kürze der Zeit konnten und wollten die in Deutschland lebenden polnischen Juden sich diesen Vermerk nicht beschaffen. Damit drohten mit dem 30. Oktober 1938 zehntausende polnische Juden ihre Staatsangehörigkeit zu verlieren und staatenlos zu werden. In diesem Fall hätte die Hitler-Regierung nicht mehr die Möglichkeit gehabt, die Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Polen abzuschieben.

Dem kam die Gestapo zuvor. Ihr Chef Reinhard Heydrich ließ zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 ca. 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaften. Sie wurden zunächst in Gefängnissen und Sammellagern festgehalten und dann mit bewachten Sonderzügen über die deutsch-polnische Grenze abgeschoben. Die Ausgewiesenen durften nur Nahrungsmittel für zwei Tage und wenige persönliche Habseligkeiten mitnehmen.

 
Aus Hitler-Deutschland abgeschobene polnische Juden in einer polnischen Grenzstadt (Quelle: wikipedia).

Die polnischen Grenzbehörden waren völlig überrascht und überfordert und agierten je nach Ort unterschiedlich. An manchen Grenzorten konnten die Ausgewiesenen ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. Etwa 10.000 Ausgewiesene durften in den ersten Tagen in das Landesinnere weiterreisen.

Einer der so Abgeschobenen war der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der gerade in Berlin sein Abitur gemacht hatte. Auch aus Koblenz wurden Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit verschleppt. Genau wissen wir das von der Familie Ramler. Seit Ende der 1920er Jahre lebten die Eheleute, die aus Galizien stammten, hier. Sie hatten zwei Söhne, ein Sohn kam hier zur Welt. Die Eheleute betrieben in der Löhrstraße 28 eine Speisewirtschaft mit Pension, die nur von Juden besucht werden durften. Ende Oktober 1938 wurde die Familie Ramler festgenommen und an die deutsch-polnische Grenze verschleppt.

Unter den Verschleppten befand sich auch die Familie Grynszpan in Hannover. Die Eltern hatten drei Kinder, zwei Töchter, die mit ihnen abgeschoben wurden, und den erwähnten Sohn Herschel. Der Sohn lebte seit einiger Zeit illegal in Paris. Nachdem er von dem Schicksal seiner Eltern und Geschwister erfahren hatte, kaufte er sich eine Pistole, suchte die deutsche Botschaft auf und gab fünf Schüsse auf den Legationssekretär Ernst vom Rath ab. Es war eine Tat aus Verzweiflung und Rache, ein Vergeltungswunsch eines jungen Einzelgängers. Anschließend ließ er sich ohne Gegenwehr festnehmen und der französischen Polizei übergeben.

  
Der jüdische 17-jährige Attentäter Herschel Grynszpan bei der Festnahme (Quelle: Wikipedia).

Diese Nachrichten lösten eine Pogromstimmung in Deutschland aus und es kam zu ersten Gewalttätigkeiten schon am 7. November. Das waren (noch) „spontane“ lokale Aktionen, noch nicht von staatlichen und Parteistellen organisiert, sondern „nur“ von einzelnen Parteiaktivisten vor Ort. Insbesondere in Nordhessen organisierten sie am 7., 8. und 9. November gewalttätige Ausschreitungen. Das Geschehen spielte den Nazis in die Hände. Reichspropagandaminister Goebbels schrieb in sein Tagebuch: „In Hessen große antisemitische Kundgebungen. Die Synagogen werden niedergebrannt. Wenn man jetzt den Volkszorn einmal loslassen könnte!“ Am Nachmittag des 9. November 1938 starb vom Rath an seinen Verletzungen. Als Goebbels die Nachricht erfuhr, jubelte er: „Nun aber ist es gar.“

An diesem 9. November waren wie jedes Jahr alle Nazigrößen in München versammelt. Anlass war das Gedenken an den „Marsch auf die Feldherrnhalle“ – an den missglückten Hitler-Ludendorff-Putsch am 9. November 1923. Höhepunkt der Feierlichkeiten war wie stets der Kameradschaftsabend, bei dem sich die „alten Kämpfer“ um Hitler scharten. Diesen Rahmen nutzte Goebbels zur Inszenierung eines allgemeinen Pogroms. Als Hitler schon die Versammlung verlassen hatte, machte sich Goebbels ans Werk. Gegen 22 Uhr verkündete er den Tod des Diplomaten und hielt eine hasserfüllte antisemitische Rede. Sie gipfelte in dem Appell nach Vergeltung und Rache. Goebbels verlangte, dass die Partei überall im Land „Demonstrationen“ gegen die Juden durchführen müsse. Allerdings sollte der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei diesen Aktionen um „Ausdruck des spontanen Volkszorns“ handelte.

Die Goebbels-Rede war das Signal zum Losschlagen und Handlungsanweisung zugleich. Die NSPAP sollte nach außen hin nicht als Urheber der Aktionen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen. Dementsprechend gab ein großer Teil der anwesenden Parteigenossen die Weisungen in diesem Sinne sofort fernmündlich an die Dienststellen ihrer Gaue weiter.

Was dann folgte spielte sich überall in Deutschland nach dem gleichen Muster ab, wenn auch nicht überall genau zur gleichen Zeit und mit gleicher Intensität.

Wie in anderen Städten auch, gab die Gauleitung des Gaus Koblenz-Trier die Anweisungen für die sog. Judenaktion an die einzelnen Ortsgruppen weiter. Daraufhin bestellten die jeweiligen Ortsgruppenleiter bzw. deren Geschäftsführer die zuständigen politischen Leiter bzw. Zellenleiter in die Geschäftsstelle der Ortsgruppe.

Die SS in Koblenz beteiligte sich an dem Pogrom gegen 3 Uhr in der Frühe des 10. November 1938. Darüber gibt es wohl nur eine einzige Quelle. Sie stammt von einem gewissen Wilhelm Schultheis. Schultheis war hier vor Ort in Koblenz in doppelter Weise dabei: Einmal als SS-Sturmführer und zum zweiten als Mitinhaber der Schultheis-Brauerei in Weißenthurm, die in Koblenz am Florinsmarkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Synagoge ein Gebäude unterhielt. Bei seiner Vernehmung im Jahr 1949 schilderte er das Geschehen ab etwa 3 Uhr in der Frühe. Als wahrheitsgemäß – und deswegen wird sie hier zitiert – wird man die Uhrzeiten und die Geschehensabläufe ansehen können. Danach ging der Befehl der vorgesetzten SS-Stelle in Wiesbaden zum Pogrom in Koblenz (kurz?) vor 3 Uhr morgens bei der Koblenzer SS ein. Dann fuhren die hier maßgeblichen SS-Leute zur Synagoge und sahen, wie dort die offensichtlich von der Gauleitung schon zuvor informierte Ortsgruppe Altstadt wütete. Hier die Aussage von Schultheis:

„Zurzeit der Koblenzer Judenaktion war ich in Koblenz anwesend. In der fraglichen Nacht, etwa gegen 3 Uhr, wurde ich durch den Kraftfahrer des SS-Abschnittsführers Hintze zu dessen Wohnung, Bismarckstraße gerufen. Ich begab mich zu Fuß zu dessen Wohnung und Hintze erklärte mir, dass er von Wiesbaden den Befehl bekommen habe, Synagogenbrandstiftungen zu verhindern. Da er gehört habe, dass die Synagoge auf dem Florinsmarkt in Brand gesteckt werden solle oder schon sei, habe er sich verpflichtet gefühlt, mir dies mitzuteilen, weil unmittelbar unser Grundstück an die Synagoge grenze.

 

Die Gebäude am Florinsmarkt: rechts das Kauf- und Danzhaus, in der Mitte die Synagoge Bürresheimer Hof (damals noch mit dem Eingang beim Tor links daneben),
am linken Bildrand das Gebäude der Schultheis-Brauerei
 (mit einem Brauerei-Lieferwagen) (Quelle: Stadtarchiv Koblenz).

Nach dieser Mitteilung fasste ich den Entschluss, mich zum Florinsmarkt zu begeben und ich versuchte, den Kraftfahrer unserer Firma zu erreichen, was mir jedoch nicht gelang. Hintze selbst begab sich mit seinem Kraftwagen und noch drei weiteren Personen, das waren der Kraftfahrer, der Adjutant Dlabal und ein Schreiber, dessen Name mir unbekannt ist, zum Florinsmarkt, während ich selbst mittels einer Taxe, die ich am Bahnhof bestellt hatte, nachfolgte.

Als ich auf dem Florinsmarkt ankam, wandte ich mich an eine Person mit der Frage, ob es brennen würde. Ich erhielt zur Antwort: ‚Ich glaube nicht‘, auch sah ich keinen Feuerschein. Ich begab mich in den Vorhof der Synagoge, woselbst sich einige Personen befanden, die ich aber nicht kannte, und ich erkundigte mich, was hier geschehen sei. Hintze selbst habe sich inzwischen mit seinen Begleitern in das Innere der Synagoge begeben, kam nun die Treppe herunter und sagte, dass es nicht brenne, ich könne mich wieder nach Hause begeben. Außer der Vorhalle und dem Vorraum der Synagoge habe ich keinen weiteren Raum betreten. Ob mir Hintze etwas von der Demolierung gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr. In allererster Linie interessierte ich mich ja dafür, ob in der Synagoge ein Brand ausgebrochen sei, damit ich im Falle eines Brandes bezüglich meines Grundstücks entsprechende Sicherheitsmaßnahmen treffen konnte. Ich hatte mich ca. 10 Minuten dort aufgehalten und fuhr mit derselben Taxe wieder nach Hause. Den Namen des Taxifahrers konnte ich bis heute trotz eingehender Recherchen nicht mehr ermitteln. Hintze und die anderen Mitinsassen seines Wagens sind dann weitergefahren, soweit ich mich erinnern kann nach Neuenahr.“

Wohl einige Stunden später machte sich der 10-jährige Werner Appel, ein „Halbjude“, von der Wohnung seiner Mutter in der Eltzerhofstraße in der Altstadt auf den Weg, um das Geschehen um ihn herum zu beschauen. Seinen Bericht beginnt er mit der Schilderung der Situation in der Balduinstraße. Diese Straße gibt es heute – wie vieles andere in Koblenz – nicht mehr. Sie verlief im Bereich des heutigen „Schängel-Centers“ und der Rathauspassage und traf im Bereich des Entenpfuhls auf die heute noch existierende Görgenstraße. Werner Appel erzählt dazu:

,,Also ich war erst in der Balduinstraße, da hatten wir ein befreundetes EhepaarFamilie Süßmann. Und die hatten eine behinderte Tochter. Und dann kam ich in die Wohnung rauf, die war komplett demoliert. Die wohnten im ersten Stock, und die Meta, das vergesse ich bis heute nicht, die saß in der Ecke und hatte epileptische Anfälle und hat geschrien und geschrien. Und das war mir irgendwie unangenehm. Ich hatte Angst. Die haben alles verwüstet. Die haben alles von den Wänden gerissen, sogar die Elektroleitungen. Damals hatte man noch KuLU-Leitungen (Stoffisolierte Leitungen in Metallrohren) verlegt, die waren auf den Wänden drauf. Die hat man rausgerissen. Die ganze Wohnung war zerstört. Ich bin dann über so eine Straße, die es heute gar nicht mehr gibt, runter an die Ecke. Da war das Schuhhaus Bernd.

 

  Das Schuhhaus Bernd, 1920er Jahre.  (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

Da hat man die ganzen Schaufenster eingeschlagen. Die Schuhe lagen auf der Straße. Nebendran war eine Seifenfirma, Krepele, ich glaube die gibt‘s heute noch. Da haben sie die ganze Seife geklaut und haben das in den Schuhladen reingeworfen. Also die Schuhe waren alle weiß. Sah schlimm aus. Unser Arzt in der Kornpfortstraße, das Ehepaar Stern. Der Mann war Arzt und die Frau war Kinderärztin. Und der hatte einen Rembrandt gehabt. Und die Nazis haben bei der Hausdurchsuchung nicht gewusst, was das ist, und haben ein großes Messer genommen und das Bild zerschnitten.
Und dann bin ich zur Synagoge.

 
 Die Synagoge Bürresheimer Hof (in der Mitte). (Quelle Stadtarchiv Koblenz).

Ein Menschenauflauf. Da schauten auch Menschen aus den Fenstern und unten vor der Synagoge waren die Möbel und Bänke. Die haben die ganzen Bildstühle auch rausgeworfen. Die Thorarollen, die hat man weggebracht, und in einer Zelle zwischengelagert. Manche haben geklatscht. Manche haben den Kopf geschüttelt. Und die Hitlerjugend hat geholfen, die Möbel wegzubringen. Man konnte sie ja hier nicht anzünden wegen der umliegenden Häuser. Und hier auf dem Platz hat man Bücher gebracht und die verbrannt und alle haben gegrölt. Das waren Bücher von Thomas Mann, Heinrich Heine, ja alle die bei Nazis unbeliebt waren. Das nannte man entartete Kunst.''

Zu den Verwüstungen bei dieser sog. Judenaktion waren die politischen Leiter der einzelnen Ortsgruppen der NSDAP aufgerufen. Dabei wurden sie von der SA, der SS, der Hitler-Jugend und auch Privatleuten wie Nachbarn der betroffenen Juden unterstützt. Auch einige Gestapoleute beteiligten aktiv an der „Aktion“. Das taten sie aus freien Stücken und ohne Einverständnis des Leiters der Koblenzer Gestapostelle, der angeordnet hatte, sich „neutral" zu verhalten. Gegen sie wurde deshalb sogar ein Verfahren eingeleitet, das dann aber sehr bald auf Befehl von oben seine Erledigung fand.

Damals hatte die NSDAP Koblenz in insgesamt 9 Ortsgruppen eingeteilt:

1. Ortsgruppe Altstadt

2. Ortsgruppe Roon

3. Ortsgruppe Mitte

4. Ortsgruppe Schenkendorf

5. Ortsgruppe Süd

6. Ortsgruppe Falkenstein

7. Ortsgruppe Karthause

8. Ortsgruppe Lützel

9. Ortsgruppe Neuendorf

Von diesen Ortsgruppen beteiligten sich an den Zerstörungen und Verwüstungen vor allem die Ortsgruppen Altstadt, Mitte und Roon, aber auch die Ortsgruppen Schenkendorf und Falkenstein. In dem Bereich der anderen Ortsgruppen gab es fast keine Zerstörungen. Von Lützel wird sogar berichtet, dass dort keinem Juden etwas geschehen sei, der überwiegende Teil der Bevölkerung habe zu den Juden gehalten.

Die Vorfälle bei dem Pogrom wurden erst nach der Befreiung vom Faschismus aufgeklärt. Das geschah durch Vorermittlungen der Kriminalpolizei. Diese führten zu dem Strafprozess gegen Wilhelm Elzer und 12 anderen, der mit Urteil des Landgerichts Koblenz vom 12. Juli 1951beendet wurde. Aus diesem Verfahren wissen wir etwas über die Aktionen von den Ortsgruppen Roon und Mitte und weniges auch aus dem Bereich anderer Ortsgruppen. Angeklagt waren aber nur Mitglieder der Ortsgruppen Roon und Mitte.

Auffällig ist dabei, dass es keine Anklagen gegen Mitglieder der Ortsgruppe Altstadt gab, obwohl es dort zahlreiche Verwüstungen gegeben hatte und auch die Synagoge am Florinsmarkt zerstört wurde. Zudem waren die Ermittlungen schwierig und langwierig und haben diese Vorfälle nur teilweise aufklären können. Es gelang noch eher, die einzelnen Tatorte festzustellen als die Täter. Schon damals wurde das als unbefriedigend empfunden. In dem Bericht über die Ermittlungen aus dem Jahr 1949 hieß es einleitend:

„Trotz eingehender Ermittlungen und gehaltener Rückfragen bei der jüdischen Kultusgemeinde sowie bei den noch in Koblenz lebenden Juden war es nicht möglich, ein genaues Bild über die Vorgänge in der bekannten Kristallnacht zu bekommen, da die Geschädigten teils ausgewandert und zum großen Teil deportiert und in den Lägern umgebracht worden sind. In der Zeit vom 22.3.1942 bis 28.2.1943 wurden aus dem Stadt- und Landkreis Koblenz 867 Juden deportiert. Die hier noch in Koblenz größtenteils in Mischehe lebenden Juden sind nicht in der Lage, positive Angaben über die Vorgänge in der Kristallnacht machen zu können, da deren Wohnungen nicht zerstört wurden, und sie ihre Aussagen nur vom Hörensagen machen können. Die Personen, die während der fraglichen Zeit mit Juden in einem Haus gemeinsam gewohnt hatten, halten mit ihren Aussagen zurück und der Unterzeichnete hat während den Vernehmungen den Eindruck gewonnen, dass gerade diese Leute mehr wissen als sie sagen.“

Die folgende Darstellung der Geschehnisse muss demnach unvollständig sein – das Geschehen wird höchstwahrscheinlich auch nie mehr besser aufgeklärt werden können. Grundlage für die folgende Schilderung ist das Urteil des Landgerichts Koblenz aus dem Jahr 1951.

Danach erhielt der Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Mitte Wilhelm Krings am 10. November 1938 gegen 4 Uhr – damals hatten die Verwüstungen in der Synagoge schon einige Zeit begonnen - einen Anruf des Adjutanten des Gauleiters namens Lehwalder. Lehwalder informierte ihn über die geplanten Aktionen und befahl, in Zivil mit seiner Ortsgruppe zu erscheinen. Krings ließ durch seinen Propagandaleiter Klos zuverlässige politische Leiter zum Büro der Ortsgruppe bestellen und fuhr mit dem Fahrrad selbst dorthin. Im Büro erreichte ihn telefonisch der Befehl der Gauleitung, die jüdischen Wohnungen zu zerstören, weiter hieß es, dabei dürfe aber kein Mensch ums Leben kommen und kein Gegenstand gestohlen werden. Nach dementsprechender Instruierung seiner politischen Leiter schickte Krings diese in den Bereich seiner Ortsgruppe. Dort wurden in der Görgenstraße und Balduinstraße gelegene Wohnungen und Geschäfte der jüdischen Mitbürger zerstört. Ausdrücklich im Urteil genannt wurden die Familien Süßmann, Süßmund, Haas, Bernd und Schmitz.

Damit richtete der Trupp der Ortsgruppe Mitte die Verwüstungen an, von denen der Zeitzeuge Werner Appel in der Wohnung Süßmann (wohl Balduinstraße 17 oder 18) und im Schuhgeschäft der Gebrüder Bernd (Balduinstraße/Ecke Görgenstraße) in der Balduinstraße berichtete. Eine Altstädterin ergänzte die Darstellung noch wie folgt: „Die Balduinstraße war in der ‚Reichskristallnacht‘ voller Leute, die viele Dinge aus den zerschlagenen jüdischen Geschäften gut gebrauchen konnten.“

Die Wohnung der Familie Süßmann wurde nicht nur demoliert, sondern der Bildberichterstatter des „Koblenzer Nationalblatts“ Herbert Ahrens suchte dort auch ein Motiv für die Zeitung, mit dem die Juden diffamiert werden konnten. Dazu folgte er den Männern, die den Familienvater Süßmann auf die Straße zerrten. In dieser Positur nahm der Bild-Reporter den so gedemütigten Juden auf. Das Bild wurde dann aber nicht veröffentlicht, weil angeblich das Blitzlicht versagte und kein Bild lieferte. Die Wahrheit war aber eine andere: Das Reichspropagandaministerium verbot generell die Veröffentlichung solcher Bilder, damit die „arische“ Bevölkerung nicht Mitleid mit den so drangsalierten Juden haben konnte.

In gleicher Weise wurde auch der über dem Schuhgeschäft der Gebrüder Bernd mit seiner Familie wohnende Alfred Bernd misshandelt. Nur mit Pantoffeln und dem Nachthemd bekleidet, wurde er von mehreren Männern auf die Straße gezerrt. Dem Trupp hatte sich ein Anwohner namens Dietz angeschlossen und bei den Misshandlungen mitgemacht. Dietz beschimpfte Bernd mit den Worten: „Du stinkiger Jude“. Schließlich fiel Bernd vor Dietz auf die Knie und flehte ihn an, ihn als alten Koblenzer Bürger doch in Ruhe zu lassen und sagte zu Dietz: „Ich war doch auch im Krieg.“ Trotzdem trieb dieser Bernd weiter und versetzte ihm einen Fußtritt.

 

  Alfred Bernd  (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz)

Wohl im Nachbarhaus der Süßmanns, im Haus der Familie Schmitz (Balduinstraße/Ecke Görgenstraße) wurde der Ortsgruppenleiter Krings, der die Organisation leitete, selbst aktiv. Erst schlug er mit einer längeren Holzstange die Fenster im 1. Stock des Hauses Schmitz ein, dann beteiligte er sich an der Zerstörung der Wohnung. Dabei flehte ihn die Ehefrau Schmitz an, ihr doch etwas ganz zu lassen, indem sie sagte: „Lasst mir doch wenigstens das da.“ Krings antwortete darauf: „Nein, gar nichts.“. Der Trupp setzte dann seine Zerstörungen in der Wohnung fort.

Im Bereich der Balduinstraße/Ecke Görgenstraße wohnten noch andere jüdische Familien, deren Wohnungen ebenfalls demoliert wurden. So auch die ganz in der Nähe des Schuhhauses Bernd gelegene Wohnung der Witwe Rosa Rosenblatt in der Görgenstraße 31. Darüber berichtete später die damals 23-jährige Tochter Irene, die seinerzeit in einem jüdischen Haushalt in Köln arbeitete:

 
Irene Rosenblatt mit Mutter Rosa Rosenblatt. (Quelle: privat).

„Als ich dort (in Köln, Erg. d. A.) von den entsetzlichen Zerstörungen von Synagogen, Geschäften und auch Privathäusern sowie von den unmenschlichen Behandlungen von jüdischen Mitbürgern zum Teil mit Todesfolge hörte, habe ich sofort um meine Mutter und meinen Bruder Kurt in Koblenz gebangt. Sofort am Morgen des 10. November 1938 fuhr ich mit dem Zug in meine Heimatstadt. Mit großem Bangen lief ich zu meinem Elternhaus, und in unserer Wohnung fand ich ein entsetzliches Chaos vor. Alle Zimmer waren zerstört: die Küche, das Wohnzimmer und die Schlafzimmer. Die Möbel waren mit Gewalt zerstört worden, die Betten aufgeschlitzt, die Lebensmittel unbrauchbar.
Ich konnte eigentlich gar nicht begreifen, was da geschehen war und vor allem warum. Fassungslos stand ich vor der unsinnigen Zerstörung in unserem Familieneigentum. Ich rief nach meiner Mutter. Aber sie antwortete nicht. Wo war sie? Was war mit ihr geschehen? Ich hatte so viel Schreckliches gehört, dass mich nun eine große Angst um meine Familienangehörigen erfasste. Ich lief zu unseren Nachbarn und erkundigte mich. Aber niemand wusste etwas. Sie warnten mich und rieten mir wegzulaufen, weil es hier sehr gefährlich sei. Ich eilte voll Angst zu Freunden und Bekannten. Alle standen unter dem Eindruck dieses wahnsinnigen Tages. Von meiner Mutter wussten sie leider nichts. Traurig musste ich die Suche aufgeben, mich der Qual der Ungewissheit und Angst überlassen. 
So verließ ich an diesem trostlosen Tag eine völlig demolierte Wohnung und fuhr nach Köln an meine Arbeitsstelle zurück. Erst später erfuhr ich, dass meine Mutter bei einer Freundin rettenden Unterschlupf gefunden hatte. Sie hatte unsere Wohnung fluchtartig verlassen müssen, als vier SS-Männer eingebrochen waren und wie Wahnsinnige gewütet hatten.“

Zerstörungen gab es nicht nur in der Balduinstraße und im Einmündungsbereich zur Görgenstraße, sondern auch weiter in der Görgenstraße, zum einen in Richtung des heutigen Zentralplatzes und zum anderen in der entgegengesetzten Richtung der Görgenstraße anschließenden Entenpfuhl und am Plan. Im Haus Entenpfuhl 17 (heute: Bekleidungshaus Wirtz) hatte der Metzger Kaufmann seine Wohnung. Auch sie wurde zerstört. Daran beteiligte sich ein unmittelbarer Nachbar der Familie Kaufmann, zu dem es in dem Urteil heißt:

„Die Jüdin Frau Kaufmann (hat) einen Tag nach der sogenannten Kristallnacht (einer vom Gericht vernommenen Zeugin, Erg. d. A.) bei einem Besuch in ihrer zerstörten Wohnung gesagt, der nächste Nachbar, Herr Schmidt, der das Kohlengeschäft habe, sei ebenfalls in ihrer Wohnung gewesen. Frau Kaufmann erklärte dabei der Zeugin, sie hätte dem Angeklagten (Schmidt, Erg. d. A.) gesagt: ‚Herr Schmidt, wir haben Ihnen doch niemals etwas getan.‘ Einige Wochen nach den Ereignissen sprach Fräulein Kaufmann, eine Tochter der Frau Kaufmann, im Zuge nach Urmitz den ihr näher bekannten Zeugen (…) an. Hierbei erzählte sie, der Schmidt sei auch in ihrer Wohnung gewesen. Frau Kaufmann hätte ihm gesagt: ‚Aber wir sind doch Freunde.‘ Der Zeuge bekundet weiter, Fräulein Kaufmann habe ihm gesagt, Schmidt hätte auch einen Schrank angefasst. Dem gleichen Zeugen berichtete später der Ehemann Kaufmann, Schmidt sei in der Wohnung gewesen und habe sich dort ‚radikal‘ aufgeführt. Die Zeugin (…) bekundet, etwa einen Tag nach der Judenaktion sei Frau Kaufmann zitternd und verstört bei ihr erschienen und habe ihr erzählt, man hätte ihre Möbel zum Fenster hinausgeworfen. Als der Kohlenhändler die Möbel gerade in den Händen gehalten habe, um sie hinauszuwerfen, hätte sie sich ihm zu Füßen geworfen und gesagt: ‚Kennen Sie denn Ihre alten Kunden nicht mehr?‘“

Wohl derselbe Trupp setzte seine Verwüstungen am Plan fort. Dabei erzählte später die schon erwähnte Altstädterin: „Der Frau Betty Vogel, Korsettgeschäft, Am Plan 20 (heute das Geschäft „Yasi who…?, Erg. d. A.) hatte man die Schaufensterscheibe völlig zertrümmert, die Schaufensterpuppen auf den ‚Plan‘ geworfen, und am Morgen des darauffolgenden Tages trampelten die Leute, Erwachsene, auf diesen Puppen herum, amüsierten sich darüber, dass sie nur mit Unterwäsche bekleidet waren.“

Eine andere, sehr aktive Ortsgruppe war die Ortsgruppe Roon, sie hatte mehrere Zerstörungstrupps und war insgesamt von der Roonstraße aus in Richtung Süden aktiv. Einer dieser Trupps stand unter der Führung ihres Ortsgruppenleiters Dietzler und des Ortsgruppengeschäftsführers Dunkel. Der Trupp durchkämmte die Rizzastraße, Löhrstraße, Mainzerstraße, Bismarckstraße und den Prinzess-Luisen-Weg (heute: Januarius-Zick-Straße).

Nach dem Treffen im Büro der Ortsgruppe ging ein Trupp in die Rizzastraße 27 in das Haus des Kaufmanns Siegfried Cohn, Inhaber des Schuhgeschäfts Fischel. Der Trupp verließ das Haus ohne Zerstörung, nachdem Frau Cohn erklärt hatte, die SA sei bereits da gewesen. Was sich zuvor abgespielt hatte, erfuhr ein Lieferant, der wenig später an der Haustür klopfte. Ihm öffnete der verängstigte Siegfried Cohn und fragte mit zittriger Stimme: „Was wünschen Sie?“. Als er zur Antwort bekam, der Anklopfende wolle die Kohlen bringen, atmete Cohn erleichtert mit den Worten auf: „Ach so, ich dachte schon, sie kämen wieder. Dreimal waren sie diese Nacht bei mir. Was die Ersten noch übrigließen, schlugen die Zweiten kaputt. Und was die Zweiten vergaßen, schlugen die Dritten kurz und klein.“ Beim Abliefern der Kohlen sah der Lieferant, dass der ganze Keller und das Haus voll zerbrochener Stühle, Schränke und Betten waren, überhaupt war alles zu Kleinholz geschlagen. Beim Anblick der Schäden und der verzweifelten Menschen schämte sich der Mann, wie er später erzählte, ein Deutscher zu sein, so etwas ansehen zu müssen und weinte mit der Familie Cohn.

Dieser Trupp verwüstete auch die gegenüberliegende Wohnung in der Rizzastraße 36 (heute Hotel Brenner) der Familie Kahn. Die Tochter Margot schilderte das damalige Geschehen wie folgt:

  
Margot Kahn, verh. Sommer (rechts) mit ihren Eltern Wilhelm und Jenny  und ihrem Bruder Rudi. (Quelle: privat).

 „Am 10. November 1938 schellte es gegen 6 Uhr heftig an unserer Wohnung. Ich war damals 18 Jahre alt und öffnete die Tür. Fünf oder sechs mir unbekannte Männer in Zivil standen vor der Tür. Sie hatten Äxte und Hämmer in der Hand. Einer fragte: „Sind Sie Juden?“ Ich antwortete: „Ja.“
Daraufhin zertrümmerte er mit einem Hammer sofort den großen Spiegel im Flur. Dann eilten sie ins Wohnzimmer und stürzten den Bücherschrank um. Sie schlugen heftig auf seine Rückwand und zerstörten sie. Dann stürzten sie ins Schlafzimmer, wo sie auch ihr Zerstörungswerk verrichteten. Die Federbetten wurden aufgeschlitzt, so dass die Federn flogen. Die Männer verteilten sich in die verschiedenen Räume, und je einer zerstörte die dort befindliche Wohnungseinrichtung. Kein Teller blieb erhalten, kein Spiegel, kein Glas. Die Möbel waren fast alle zertrümmert. Es ging alles sehr schnell.
Mein Vater zog eiligst einen Anzug über den Schlafanzug, um überhaupt nach draußen gehen zu können. Er sollte nämlich zur Polizei mitkommen. Wir waren in größter Angst.
In einem Zimmer wohnte als Gast Hermann Mayer, der sehr schwerhörig war. Gegen seine Tür schlug man heftig, aber er öffnete nicht die verschlossene Tür, weil er nichts vernahm. Die Untäter brachen die Tür auf und jagten Herrn Mayer
 im Schlafanzug auf die Straße und traten ihn dabei brutal.
Zur gleichen Zeit war im gleichen Haus Herr Joseph Schubach am Fenster, um Luft zu holen, weil er herzkrank war. Als er die Abführung meines Vaters und die unmenschliche Behandlung von Herrn Mayer sah, bekam er vor Schrecken und Entsetzen einen Herzschlag und verstarb auf der Stelle. Sein 17-jähriger Sohn Julius Schubach, der sehr religiös und stellvertretender Kantor der Jüdischen Kultusgemeinde war, führte die Beerdigung am folgenden Tag durch, was für einen Jugendlichen nach jüdischem Brauch eine außergewöhnliche Beanspruchung war.
Die eingedrungenen Männer waren sich nicht klar, ob sie nur Männer oder auch Frauen verhaften sollten. Deshalb nahmen sie meine Mutter und mich mit zur Polizeidienststelle am früheren Kaiser-Wilhelm-Ring (heute: Friedrich Ebert-Ring). Dort fragte ich: Darf ich meinem Vater Kleider bringen?  Man erwiderte mir schroff: Er braucht nichts!
Darauf wurden wir Frauen entlassen. Wir bangten um unseren Vater und Herrn Mayer, dass sie ins KZ Dachau kommen würden, denn davon war in letzter Zeit die Rede gewesen. Wir gingen zurück und zur Ursulinenschule (heute: Bischöfliches Cusanus-Gymnasium), wo wir eine Tasse Kaffee erhielten. Dann versuchten wir, im heimischen Chaos etwas Ordnung zu schaffen. Mehr war nicht möglich.
Erst nach fünf Tagen kam Vater aus dem Gefängnis der Gestapo (Vogelsang 1) heraus. Er war im I. Weltkrieg deutscher Soldat gewesen, hatte in Verdun gekämpft, war dort als Frontsoldat schwer verwundet worden, hatte das „Eiserne Kreuz“ erhalten und war bereits fast 60 Jahre alt. Diese Tatsachen hatten ihn noch vor dem KZ bewahrt.
Mein Bruder Rudi, der in Frankfurt auf einer technischen Schule war, kam spät am Abend nach Hause. Nur einen Schlafanzug und eine Zahnbürste brachte er mit. Seinen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, weil er Angst hatte, im Zug und auf dem Weg nach Hause verhaftet zu werden.“

Auf dem Weg in die Löhrstraße setzte der Trupp seine Zerstörungstour höchstwahr-scheinlich auch im Haus Brasch in der Rizzastraße 40 (heute Rizzastraße/Ecke Bahnhofstraße im Bereich des Hauptgebäudes der Sparkasse Koblenz) fort. Dort in dem wunderschönen Haus mit einem großen Garten lebte nach dem Tod ihres Mannes und der beiden Söhne nur noch die Witwe Emma Brasch.

  Emma Brasch mit ihrem 1936 verstorbenen Ehemann Dr. Isidor Brasch. (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

Am frühen Morgen des 10. November 1938 fiel eine ganze Horde Nazis in das Haus ein und demolierte es. Bereits im Eingangsbereich rissen die Männer die Kacheln von den Wänden und beschädigten das Treppenhaus. Ihre Verwüstung setzten sie in der Wohnung fort, in der sie die 71-jährige Witwe antrafen. Die Nazis zerhackten einen großen Teil der Möbel und plünderten den Inhalt von Schränken. Die entsetzte alte Dame zerrten sie aus der Wohnung, schleppten sie in den Garten, sperrten sie dort ein und machten von ihr, im Nachthemd, ein Foto – um es später in dem Hetzblatt „Der Stürmer“ zu veröffentlichen und damit die Juden insgesamt lächerlich zu machen. Veröffentlicht wurde es dann nicht, weil Veröffentlichung dieser Pogrom-Fotos verboten war.

In der Löhrstraße angekommen, brach der Trupp in der Lederhandlung Oster, Löhrstraße 123, ein und demolierte die Einrichtung. Dort warf der Ortsgruppenleiter Dietzler eine Maschine um und erklärte dabei den anwesenden Männern seines Trupps: „So wird das gemacht.“ Eine anderer seines Trupps machte ihm es nach und warf eine Stellage um.

Im selben Haus, in der Löhrstraße 123, wohnte auch die Familie Bernd. Auch deren Wohnung wurde verwüstet. Später berichtete eine Mitbewohnerin des Hauses darüber:

  
 Eheleute Sally und Paula Bernd mit ihrem Sohn Addi. (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

 „Mehrere Männer brachen gewaltsam die Wohnungstür bei Bernds auf und schlugen mit Äxten und Hämmern Wohnzimmer, Speisezimmer und in der Küche alles restlos kurz und klein. Mit Messern schlitzten sie Sessel, Sofa, Matratzen etc. auf. Das Büffet wurde hochgehoben und umgestürzt mit allem was darin war. Porzellan, Kristall etc. ging in Scherben. Es war ein fürchterlicher Krach im ganzen Haus, hervorgerufen durch die Axtschläge, mit denen die Männer auf die Möbel einschlugen. Die ganze Wohnung war nur noch ein Trümmerhaufen. Wenn Sie mich fragen, warum ich mich in Anbetracht meines hohen Alters an die Vorgänge erinnere, so kann ich nur erwidern, dass ich dieses wüste Bild der völligen Zerstörung nicht vergessen habe.“

Der Sohn Addi Bernd, der nicht zu Hause war, schilderte später, dass seine Mutter so schockiert war, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitt, der im Evangelischen Stift St. Martin behandelt werden musste; seinen Vater nahmen die Männer fest und brachten ihn zur Gestapo.

Nebenan in der Löhrstraße 125 setzte dieser Trupp seine Zerstörungen dort. Später berichtete der bereits erwähnte Kohlenlieferant, was er am Tag nach dem Pogrom in der Wohnung im 3. Stock erlebte. Dort traf er die Hausfrau weinend an. Auf seine Frage: „Frauchen, warum weinen Sie?“ gab sie ihm zur Antwort: „Bitte kommen Sie herein und weinen Sie auch!“ In seinem Bericht heißt es weiter:

„Ich betrat ihren Flur: Eingangstür kaputt, Flurlampe, bestehend aus Kristallglas, kaputt, Küchenschränke, Porzellan und Herd kaputt. ‚Aber alles‘, sagte die weinende Frau, ‚ist nicht so schlimm. Aber gehen Sie mit ins Schlafzimmer!‘ Ich ging mit. Dort sah es schrecklich aus: Betten, Kleiderschrank, Waschtisch, Stühle: alles kurz und klein geschlagen! Kissen und Federbetten zerschnitten. Und das Entsetzlichste zeigte sie mir, ihr Kinderbett, mit den Worten: ‚Hier lag mein kleines Kind drin‘, es war ein Kind von ungefähr einem dreiviertel Jahr, als die Bestien mit Äxten und Hämmern das Bett kaputtschlugen. Ich riss es in meiner Verzweiflung aus dem Bettchen, sonst hätten es die Kerle in Bettchen totgeschlagen.‘“

Alsdann führte der Trupp die Zerstörungen in der Mainzerstraße fort. So verwüstete er die Wohnung des Rechtsanwalts Dr. Treidel und misshandelte ihn sosehr, dass er im Rizzaheim medizinisch versorgt werden musste.

 
 Eheleute Dr. Isidor und Erna Treidel mit Tochter Helga/Helen Carey. (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

Anschließend gingen die Rabauken in der Mainzerstraße weiter und demolierten dort das Haus von Louis Schloß in der Mainzerstraße 36, in dem nach dessen Tod im Jahr 1936 seine Witwe allein wohnen geblieben war. Dann setzten sie in der Bismarckstraße ihr Zerstörungswerk fort und verwüsteten mehrere Häuser dort und im Prinzeß-Luisen-Weg (heute: Januarius-Zick-Straße).

Ein weiterer Zerstörungstrupp der Ortsgruppe Roon betätigte sich in der Kaiser-Friedrich-Straße (heute: Südallee) Nr. 53. In dem Urteil heißt es dazu:

„Am Morgen des 10. November befand sich der Angeklagte (Wilhelm Elzer) auf dem Wege zu seiner Arbeitsstelle. Unterwegs bemerkte er, dass eine Aktion gegen die Juden im Gange war und begab sich wieder zu seinem Haus zurück. Vor dem Hause, etwa gegen 8 Uhr, traf er den Geschäftsführer der Ortsgruppe Roon, Dunkel, und einige weitere, nicht ermittelte Männer in Zivil, die im Begriffe waren, die Wohnung der im Hause Kaiser-Friedrich-Straße 53 jüdischen Familien aufzusuchen. Elzer zeigte Dunkel zunächst die im 2. Stock des Hauses befindliche Wohnung des Juden Wassermann und ging dann mit dem Trupp in die Parterrewohnung des Juden Bernd. Der Angeklagte zerschlug hier mit einem Stuhlbein vor den Augen des krank im Bett liegenden Bernd ein Nachtschränkchen sowie in der Speisekammer ein Regal. Danach ging der Angeklagte mit den übrigen Leuten des Trupps auch durch die Wohnungen Oster und Wassermann. Als er sich wieder nach unten begeben wollte, traf er vor der Wohnung Wassermann den ihm bekannten Zeugen Lesselich, der als Hausverwalter der Eigentümerin des Hauses, der Jüdin Oster, gleichfalls in dem Hause wohnte. Der Angeklagte sagte zu den umstehenden Männern: ‚Der da ist auch ein Judenfreund‘, stürzte sich auf ihn und schlug ihn zu Boden.“

Nachdem Elzer den anderen Mitgliedern des Trupps die einzelnen Wohnungen gezeigt hatte, demolierten sie diese. Über die Zerstörungen in der Wohnung seines 80-jährigen Großvaters Arnold Oster, bei dem er sich damals aufhielt, berichtete später der Enkel Ernst Katz in einem Brief:

„Morgens zwischen 4 und 5 Uhr (…) lautes Klopfen und Schlagen gegen die Tür, (das) uns aus dem Bett trieb. Sofort als ich die Tür öffnete, stürzten sich die Eindringlinge auf die Möbel und das Klavier, während mir befohlen wurde, mich anzuziehen – meinen alten zutiefst erschrockenen Großvater ließ man dabei im Bett ungeschoren. Porzellan und Möbel wurden mit Axt und Hammer bearbeitet, Bilder mit dem Messer zerschnitten. Nichts blieb heil.“

Die Täter blieben unerkannt, weil sie die Kopfbedeckung nach Verbrecherart ins Gesicht gezogen hatten und so unkenntlich waren.

Ein anderer Trupp hatte sich offenbar zufällig zusammengefunden. Die Täter, u.a. ein vorbeikommender Mann, der sich der Gruppe angeschlossen hatte, waren mit Äxten und Brecheisen ausgestattet. Die Rabauken zerstörten – wie es im Urteil heißt - zuerst die Wohnung des Juden Cohn im Haus Roonstraße/Ecke Löhrstraße. Von hier aus begab man sich zur Wohnung des Sanitätsrats Dr. Landau in der Roonstraße/Ecke Hohenzollernstraße (wohl Roonstraße 28). Über die Zerstörungen dort berichtete der schon früher erwähnte Kohlenlieferant:

„Am Tage nach der sog. Kristallnacht kam ich zu Dr. Landau, Hohenzollernstraße/Ecke Roonstraße, 1, Stock. Dort sah es traurig aus. Alle Möbel kurz- und kleingeschlagen. Es waren sehr schöne alte Möbel aus dem 14./15. Jahrhundert, so Truhen, Schreibtisch, alte Zinnteller, überhaupt alles wunderschöne alte Sachen, die Leute verängstigt und verweint.“

Die letzte bekannte Aktion dieses Trupps fand in der Josephstraße 14 im Haus des Kaufmanns Nathan Guttmann und seiner Familie statt.

Soweit die Feststellungen im Urteil des Landgerichts Koblenz von 1951, ergänzt um einige Berichte von betroffenen jüdischen Bürgern und anderen Augenzeugen.

Darüber hinaus gab es weitere Verwüstungen, die von Betroffenen geschildert wurden, aber keinem bestimmten Zerstörungstrupp, geschweige denn bestimmten Tätern zugeordnet werden können. Einige dieser Berichte werden im Folgenden hier auch noch wiedergegeben, um die Dimension der Verbrechen, die die Koblenzer an ihren jüdischen, sog. Mitbürgern verübten, aufzuzeigen.

So berichtete die alsbald nach dem Pogrom geflüchtete Ruth Weinberg, verh. Stark, in ihrem Brief von 1987 aus Israel:

  
 Ruth Weinberg, verh. Stark, mit ihren Eltern Moritz und Else und ihren Geschwistern Margot und Inge. (Quelle: privat).

 „Meine Familie hieß Weinberg und wohnte in der Löhrstraße 133. Meine Mutter hatte damals in der Küche der Synagogengemeinde am Florinsmarkt gearbeitet. Mit anderen Frauen hatte sie für alleinstehende Koblenzer Juden gekocht. Da ich nicht zur Schule weitergehen konnte, habe ich meine Mutter öfters begleitet und auch geholfen.

Meine beiden kleineren Schwestern gingen noch in die Volksschule, auch am Morgen des 9.11.1938. Mein Bruder war zu Hause und mein Vater in Belgien. Er wollte dort auf Ausreisepapiere für uns warten. Wir sollten nach Brüssel nachkommen. Wir waren nur noch in Koblenz, um den Haushalt aufzulösen. Mein Bruder hatte nie aus Koblenz weggehen wollen.

Als wir an diesem verhängnisvollen Tag zur Synagoge kamen, war dort schon alles zerstört und zugesperrt. Die Zerstörung unserer geliebten Synagoge sah grauenvoll aus und erfüllte uns mit Entsetzen und Angst. Wir liefen schnell nach Hause. Als wir ins Treppenhaus kamen, hörten wir in der 3. Etage einen riesigen Lärm. In der Wohnung waren vier SS-Männer. Sie waren gerade dabei, das letzte unserer Möbel zu zerschlagen. Meine Mutter schrie die Männer an: ‚Was machen Sie mit meinen Möbeln?‘ Sie stellte sich gegen diese Horde wilder Männer, und ein SS-Mann mit Eisenhandschuhen sagte zu meiner Mutter: ‚Wenn du nicht sofort still bist, zerschlage ich dir deinen Schädel, du Judenweib!‘ Ich hatte mich vor Schreck in die zerstörte Wohnung geflüchtet und zog meine Mutter mit Gewalt mit hinein.

Endlich, nachdem die vier Männer alles kurz und klein geschlagen hatten, verließen sie das Haus. Nichts in unserer Wohnung war mehr ganz. Wir hatten kein Bett mehr und keinen ganzen Stuhl. Was uns zusätzlich beunruhigte, war, dass mein Bruder Erich noch außer Hauses war. Wir wussten nicht, wo er sich gerade befand. Außerdem waren meine Schwesterchen noch in der Schule. Obwohl das Ausgehverbot für Juden schon angeordnet war für diese Tage, lief ich schnell aus dem Haus, sie zu holen. Ich fand sie in den Rheinanlagen. Man hatte die jüdischen Kinder aus der Schule geschickt.

Als wir zu Hause ankamen, war unsere Mutter, obwohl sie unter einem Schock stand, dabei, Ordnung in diesen großen Trümmerhaufen zu bringen. Ich war ganz zerstört und konnte nicht helfen. Beruhigend war wenigstens, dass meine Schwesterchen bei uns waren. Nur mehr die Sorge um meinen Bruder erfüllte uns noch. Zu den Nachbarn wagten wir nicht zu gehen; diese hatten wohl auch Angst, uns zu besuchen.
Endlich am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, kam Erich. Unser Milchmann hatte ihn am Morgen gewarnt, und mein Bruder hatte sich auf der Karthause versteckt. Notdürftig reparierte Erich unsere Betten und zerschnittenen Matratzen, damit wir schlafen konnten. Aber nach diesem unmenschlichen Erlebnis schliefen wir voller Qual.“

Die Nichtjüdin Elisabeth Müller berichtete 1988 noch folgendes aus der Weißergasse:

„Etwa um 10 Uhr des gleichen Tages (10. November, Erg. d. A.) standen mein Vater und ich vor unserem Haus im Altenhof: (….) Da trat ein Mann aus dem Altenhof mit dem Namen F. zur Dreiergruppe (die auf das Zerstören aus war, Erg. D. A.) und sagte: ‚Komm, ich führ‘ euch in die Weißergass‘ 28. Da ist der Judenladen, den ihr sucht.‘Darauf schritten die vier zur Weißergass der Familie Schaul. Frau Schaul war allein zu Haus. In Abstand war ich der Gruppe gefolgt und wurde erneut zum Zeugen eines entsetzlichen Schauspiels:
Der mir bekannte SA-Mann schlug mit der bloßen Hand in die Fensterscheibe der Familie Schaul. Die Hand blutete, und er schüttelte immer wieder stolz das Blut ab. Die drei Männer drangen in die Wohnung ein, nachdem sie sich gewaltsam Eintritt verschafft hatten. Als sie drinnen alles zerschlugen, kam Frau Schaul schreiend auf die Straße gerannt. Weinend bat sie: ‚Helft mir doch, sie schlagen alles kaputt!‘ Sie sprach sogar einzelne Nachbarsfrauen namentlich an: ‚Frau X, weißt du nicht mehr, dass ich dir damals geholfen habe, als dein Kind krank war? Hilf mir doch!‘ ‚Frau Y., dir habe ich geholfen, als du krank warst! Hilf mir jetzt!‘ Und alle Umstehenden Schaulustigen flehte sie an: ‚Ich habe euch doch immer geholfen! Helft mir doch auch!‘ Sie lief von einem zum anderen. Es war grauenhaft. Keiner antwortete. Niemand konnte helfen, weil er Angst hatte, dass es ihm genauso ergehen würde. Ich stand in der zweiten oder dritten Reihe der Zuschauer.
Inzwischen wurde im Haus alles zerschlagen. Gegenstände wurden aus dem Fenster hinausgeworfen. Die drei Männer wüteten im Innern ganz entsetzlich. Wir Außenstehenden hörten immer wieder das Zerbrechen von Holz und das Klirren von Glas. Alles wurde kleingemacht.
Ich ging dann weg, da ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich nicht hatte helfen können. Bedrückt ging ich nach Hause nach dieser schrecklichen Szene.“

Irene Futter, geb. Schönewald, erlebte mit ihrer Mutter ebenfalls den Pogrom hier und schrieb 1988 über die Vorfälle in der Wohnung in der Bahnhofstraße 27:

  Irene Schönewald, verh. Futter, mit ihrer Mutter Bertha.(Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

 „Meine Mutter und ich lebten in einer sehr kleinen Wohnung im Erdgeschoss der Bahnhofstraße 27. (..) Meine ältere Schwester kam uns mit ihrer damals zweijährigen Tochter von Zeit zu Zeit besuchen. Sie war auch an dem verhängnisvollen 10. November 1938 bei uns.
Es war ganz früh am Morgen, als ich mehrere uniformierte Männer hörte, die unsere kleine Wohnung stürmten. Meine Mutter drängte mich hinaus auf die Straße. Ich konnte als Kind nicht wissen, welch ein entsetzlicher Anblick uns erwartete, als wir zurückkamen.
Die Männer hatten alles, was wir besaßen, zerstört:
Tassen und Teller waren zerbrochen, unsre Bettwäsche und Kleider waren zerfetzt,
ein kleines, von mir sehr geliebtes Puppenhaus: in Stücke zerschlagen, die wenigen Habseligkeiten die wir hatten, und alle Gegenstände des täglichen Bedarfs waren unbrauchbar geworden.
Ich kann mich nicht daran erinnern, ob meine Mutter weinte oder ob ich es tat. Ich glaube, dass wir viel zu viel Angst vor dem hatten, was noch auf uns zukam. Es wurde uns gesagt, dass wir alle in wenigen Stunden in ein Konzentrationslager weggebracht würden. Ich wusste nicht, was das war. Meine Mutter hatte mich immer so weit wie möglich von allem abgeschirmt. Auch wurde aus Furcht vor einem Zuhörer darüber geschwiegen.
Meine lebhafteste Erinnerung an jenen Tag ist, dass ich im Flur unserer kleinen Wohnung stand. – Meine Mutter hatte einige Dinge. Ich hätte nicht gewusst, was wir mitnehmen sollten. So warteten wir. – Es müssen Stunden gewesen sein. – Wir waren zu verängstigt, um miteinander zu sprechen. Ich erinnere mich daran, dass das Baby meiner Schwester nach Milch schrie. Aber woher sollten wir sie nehmen? Wir hatten sie nicht. Ich werde immer an die völlige Verwüstung denken und an die schreckliche Angst, dass es noch schlimmer werden könnte.

Draußen auf der Bahnhofstraße warteten uniformierte Männer mit Schäferhunden. Von diesem Tag an habe ich Angst vor Hunden.“

 
 Das Kind Doris. (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

Sally Schlesinger, geb. Kriss, hatte als junges Mädchen ebenfalls die Zerstörung der Eltern in der Hohenzollernstraße 9 erleben müssen. In einem Brief von 1988 schrieb sie aus New York darüber folgendes:

„Es war ein kalter und trüber Frühmorgen, in dem ich durch einen schrecklichen Lärm im Haus wach wurde. Ich schlief damals in unserem Dienstbotenzimmer, und als ich die Treppen herunterkam, sah ich einige SA-Männer, die meinen Stiefvater und Onkel mit Schlägen auf den Kopf vor sich herjagten. Die beiden Männer bluteten und waren ohne Schuhe, ohne Jacke und nur mit Hosen angezogen.
Unsere Wohnung war ohne Eingangstür, da diese aus Glas bestanden hatte, das jetzt zertrümmert war. Meine arme, kleine Mutter stand im Schlafzimmer, welches auch mit Glasscherben übersät war; es war nicht möglich, sich hinzusetzen; auch das Gehen war gefährlich. Im Esszimmer hatten die SA-Männer scheinbar ihr größtes Vergnügen gehabt. Jedes Glas, jeder Teller war aus dem Büffet herausgerissen und auf dem Boden zerschmettert worden. Später wurden meine Eltern für den Schaden in der Wohnung unterhalb der unsrigen verantwortlich gemacht – sie mussten bezahlen. (Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.) Der Zustand in der Küche war unbeschreiblich: ein Trümmerhaufen!
Danach konnten wir, meine Mutter, Schwester und ich, nicht in der Wohnung bleiben; und so machten wir uns auf den Weg zu meiner Tante, Möbelhaus Horn, Schlossstraße. Als wir auf die Straße kamen, blieb ein Herr vor uns stehen (kein Jude) und fragte mit sehr trauriger Stimme: ‚Waren die Kulturträger auch bei Ihnen?‘(…)
Zurück nun zu meinem Stiefvater und Onkel, die – wie erwähnt – ohne Schuhe und Jacke aus dem Haus getrieben worden waren. Ich ging zur Polizei, wo man mir keine Auskunft geben konnte (oder wollte?), wohin die Männer verschleppt worden waren. Hilfe kam mir von jemandem, der mir empfahl, mit Schuhen etc. zum Gefängnis zu gehen und dort die Namen anzugeben. – Und tatsächlich nahm der Beamte die Kleidungsstücke an. Die beiden Herren kamen ein paar Tage später nach Hause – nur mit einer Erkältung. Die Beamten im Koblenzer Gefängnis waren scheinbar noch nicht ganz nazifiziert gewesen.
Mit Hilfe der Männer konnten wir dann die Wohnung säubern. Jedes Mal, wenn im Hof die Eimer mit Glas ausgeleert wurden, schauten die lieben Nachbarn aus den Fenstern – keiner im Haus hatte jedoch nur ein paar Worte für uns.

Einen gewissen Eindruck vom „Tag danach“, dem Tag nach dem Pogrom, und davon, wie er auf einen mitfühlenden jungen Menschen wirkte, vermittelt die später gegebene Schilderung eines damaligen Schülers des Kaiserin-Augusta-Gymnasiums (heute Görres-Gymnasium), der, von seinem Lehrer aufgefordert, sich am Morgen des 10. November 1938 den Florinsmarkt mit der Synagoge ansah und nachmittags eine bekannte jüdische Familie besuchte:

 
Seitenansicht der Synagoge Bürresheimer Hof (Quelle: Stadtarchiv Koblenz).

 „An einem Novembertag hieß es in der Schule: Ihr müsst zum Florinsmarkt, dort hat man die Synagoge zerstört. In der großen Pause eilten wir vom Augusta-Gymnasium zum nahen Florinsmarkt. Der Platz war in seinem unteren Teil, zwischen Bürresheimer Hof (dem Sitz der Synagoge) und dem Alten Kaufhaus, mit Trümmern übersät. Ich erinnere mich an Teile von Stühlen und Bänken, an Glas- und Porzellanscherben, an verbeulte Metallkannen. Um diese Trümmer hatte sich eine Menge Schaulustiger versammelt. Keiner sprach ein Wort – ich weiß noch, dass mir diese Stille unheimlich, geradezu gespenstisch vorkam. Überall sah man auch Männer in brauner Uniform mit der roten Hakenkreuzbinde.
Ab und zu flog noch ein Stück Mobiliar aus der Synagoge auf den Platz und zerbarst (dies Krachen und Splittern ist mir bis heute im Ohr geblieben). Ich sah zu den Fenstern der Synagoge hoch. Es waren, glaube ich, zwei hohe runde Doppelfenster, wie es auch Kirchenfenster sind. Die Scheiben waren zerbrochen, etliche Scherben farbigen Glases hingen noch in den Rahmen und klirrten ab und zu – dies Klirren habe ich nicht vergessen und auch nicht, dass ich dachte: es ist eine Kirche, die man zerstört hat.

Das Barockportal, das heute zur Stadtbibliothek und zur Gedenkstätte führt, saß damals auf der Gebäudeseite, wo der Synagogeneingang war. Ich weiß es, weil ich dorthin ging, um einen Blick in die Synagoge selbst zu werfen. Doch vor dem Eingang standen Männer in brauner Uniform mit der roten Hakenkreuzbinde. An dem Portal fiel mir auf, dass im Giebel die Gesetzestafeln Moses gemalt waren: über dem Eingang zur Synagoge standen die Zehn Gebote Gottes. Erst viel später wurde mir mein Empfinden beim Anblick der Moses-Tafeln damals bewusst. Dieser Anschlag gegen den Tempel der Juden ist ein Anschlag gegen Gott selbst.

Beim Verlassen des Florinsmarkts drängte sich mir der Kontrast der zerstörten ‚Kirchenfenster‘ der Synagoge und des großen unzerstörten Westfensters von St. Florin geradezu auf: das Gotteshauses der Juden und des Gotteshauses der Christen.
Was sich mir gleichfalls ins Gedächtnis gegraben hat, war nach unserer Rückkehr in der Schule wie still, wie in sich gekehrt unsere jüdischen Mitschüler
unter uns saßen. Als wenn sie nicht mehr zu uns gehörten. Als wenn sie sich, nachdem man ihr Heiligtum zerstört hatte, wie Ausgestoßene vorkämen (obwohl manche von ihnen christlich waren). Keiner von uns, keiner auch der Lehrer, sprach ein Wort von dem, was sich nicht weit von uns zugetragen hatte. Als wenn es nicht geschehen wäre.
Nachmittags besuchte ich einen Freund – er war `Halbjude` – in der Kastorstraße, in dessen Familie ich wie zu Hause war. Der Vater betrieb einen Zigarettenladen. Das Schaufenster war eingeschlagen (ich musste unwillkürlich an die zertrümmerten Synagogenfenster denken). Im Geschäft war niemand. Ich ging in den hinteren Raum. Dort saßen die Eltern, mein Freund und sein Bruder um den Tisch, saßen stumm, sahen vor sich hin. Nun war ich es, der sich wie ausgestoßen fühlte.
Sooft ich jetzt über den Florinsmarkt gehe, sehe ich die zerschlagenen Synagogenfenster vor mir (nichts im äußeren Bild der Fassade erinnert heute mehr an die Synagoge von ehedem). Höre Glas und Holz auf dem Pflaster zerspringen. Sehe die vielen schweigenden Menschen vor mir. Aber auch die anderen mit den braunen Uniformen und den roten Armbinden. Niemals werde ich unsere jüdischen Schulfreunde vergessen, die in einer seltsamen Einsamkeit, wie alleingelassen, in den Bänken neben uns, mitten unter uns saßen. Niemals vergessen werde auch das Bild meines Freundes und seiner Eltern in dem Raum hinter dem Laden mit der zerschlagenen Schaufensterscheibe.“

Nach offiziellen Angaben wurden bei dem Novemberpogrom in Koblenz 36 Wohnungen und 13 Geschäfte von jüdischen Koblenzern zerstört. Die Zahlen sind sicherlich zu niedrig angesetzt. Wie hoch sie wirklich waren, ist nicht bekannt und nicht mehr festzustellen. Diese Verwüstungen erschütterten die völlig unschuldigen und über-raschten Menschen zutiefst, die Sorge um ihre Lieben und die Angst ging bei ihnen um.

Wie berichtet, kam bei dem Pogrom in Koblenz auch ein jüdischer Bürger ums Leben. Wie Margot Kahn schilderte, hatten die Gewalttätigkeiten der Nazi-Rabauken im Haus Rizzastraße 36 dem 57-jährigen kränkelnden Viehhändler Josef Schubach sehr zugesetzt. Er erlitt einen Herzschlag, als er am Fenster stand, um in seiner Atemnot Luft zu holen. Dabei sah er, wie die Mitbewohner Wilhelm Kahn und Hermann Mayer, letzterer im Schlafanzug, aus dem Haus getrieben, auf einen Lastwagen geladen und zur Gestapo gefahren wurden. Das war zu viel für ihn und er starb bei diesem Anblick.

Wie sich aus diesem Bericht von Margot Kahn ergibt, wurden entsprechend einem geheimen Fernschreiben vom 9. November 1938 auch in Koblenz gegen Ende der „Aktion“ Männer wie ihr Vater und ihr Gast Mayer festgenommen und in das Gefängnis in der Karmeliterstraße oder in das Gestapogebäude im „Vogelsang“ gebracht.

  Das Karmelitergefängnis in der Karmeliterstraße,
das hinterste Gebäude, davor die Karmeliterkirche
(Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz).

Allein in das Koblenzer Gefängnis lieferte die Geheime Staatspolizei insgesamt 370 Juden ein. Von diesen wurden einige Tage später 230 wieder entlassen. Inhaftiert blieben 240 jüdische Männer. Kurz darauf wurden sie in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Einer von ihnen war der 25-jährige Ernst Katz. Er berichtete später, dass ein Eindringling ihm, als er sich für die Festnahme fertigmachte, bis auf die Toilette folgte:

Als ich während des Umkleidens auf die Toilette musste, folgte mir sogar ein SA-Mann, damit ich nicht unauffällig verschwinde. Dann wurde ich ins Gestapogefängnis gebracht und mit sechs anderen jüdischen Männern in eine Zelle gesperrt. Nach drei oder vier Tagen – ich weiß es nicht mehr so genau – führte man uns durch die Koblenzer Straßen zum Hauptbahnhof, wo wir in einen Viehwaggon gesperrt wurden, der uns nach Dachau brachte. Bei alledem schauten viele, viele Menschen zu, niemand rührte auch nur einen kleinen Finger!“

Insgesamt wurden in das KZ Dachau 10.911, in das KZ Buchenwald 9.845 und in das dritte KZ Sachsenhausen bei Berlin etwa 6.000 jüdische Männer verschleppt.               


Im November 1938 festgenommene Juden („Aktionsjuden“) auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald (Quelle: Wikipedia).

Am Vormittag des 10. November 1938 ging der Pogrom im Wesentlichen zu Ende. Es folgten die Reaktionen: die jüdischen Opfer versuchten, so gut es ging, aufzuräumen und die Schäden zu beseitigen. Und die führenden NS-Täter organisierten die vollständige Entrechtung der Juden durch eine Sturzflut von Anordnungen und Entlassungen, Befehlen und Verboten. Goebbels gab die Richtung vor: „‘Das Judentum schoss auf das deutsche Volk‘ – Die deutsche Regierung wird darauf legal, aber hart antworten.“ 

Und so kam es dann auch: Der Vandalismus des Novemberpogroms war noch nicht das Ärgste, aber er leitete es ein. Am 12. November erging die „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben“. Danach mussten die Juden selbst alle Schäden, die die Zerstörungstrupps an ihren Geschäften angerichtet hatten, sofort und auf eigene Kosten beseitigen. Wenn sie dafür Versicherungen abgeschlossen hatten, bekamen sie von denen keine Erstattung, weil das Deutsche Reich diese Ansprüche zu seinen Gunsten beschlagnahmte. Zugleich wurde den Juden eine „Sühneabgabe“ in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt. Begründetet wurde diese willkürliche Sonderabgabe, diese Sondersteuer, mit der „feindlichen Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt.“ Es folgte eine beispiellose Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden aus der Öffentlichkeit: so das Verbot, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, das Verbot, öffentliche Schule zu besuchen, der Ausschluss von Juden aus der öffentlichen Fürsorge u.a. mehr. Es folgte die Liquidierung aller jüdischer oder unter jüdischem Einfluss stehender Geschäfte und Unternehmen, die „Arisierung“ des Grund- und Immobilienbesitzes, die völlige Entrechtung und Demütigung bis zur Kennzeichnung mit dem Judenstern im September 1941 und dann die Deportation „nach dem Osten“, in die Durchgangsghettos und dann in die Vernichtungslager.

Und noch ein letztes, wenn Sie wissen wollen, wie die Akteure dieses Vandalismus in Koblenz zur Rechenschaft gezogen wurden: Nach dem Pogrom überhaupt nicht. Nach dem Krieg gab es dann den Strafprozess vor dem Landgericht Koblenz im Juli 1951. Angeklagt war dort die „Zweite Reihe“ der Täter. Die wirklich Verantwortlichen und die größten Schläger waren tot, untergetaucht oder sonst wie nicht greifbar. Das Verfahren richtete sich gegen 13 Angeklagte. 1 Angeklagter (Krings) wurde zu einem Jahr und 6 Monaten Gefängnis verurteilt. 4 Angeklagte erhielten 9 Monate Gefängnis, Das Verfahren gegen 7 Angeklagte wurde nach einem Amnestiegesetz eingestellt, 1 Angeklagter wurde freigesprochen. Soweit Verurteilungen erfolgten, wurden die Untersuchungs- und Internierungshaft angerechnet, so dass allenfalls 3 Verurteilte einige Wochen Strafhaft verbüßen mussten. – Das war es dann mit der sog. Reichspogromnacht, dem Novemberpogrom 1938 hier in Koblenz.