Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

"Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!" - neue Ausstellung über NS-Euthanasie-Opfer

Am 8. Mai 2023 eröffnete das Herz-Jesu-Haus Kühr in Niederfell die Ausstellung „Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!“. Anlass war die 80. Wiederkehr der Verlegung von 150 Frauen und Mädchen aus Kühr am 6., 7. und 8. Mai 1943 in Tötungsanstalten „im Osten“. Die Pädagogische Geschäftsführerin des Hauses Claudia Schönershoven begrüßte 80 Besucherinnen, unter ihnen die Großnichte einer im Gaukrankenhaus Klagenfurt in Kärnten ermordeten ehemaligen Bewohnerin von Kühr. Mit den Worten: „Dieses dunkle Kapitel ist ein kurzer, aber wichtiger Abschnitt in unserer 150-jährigen Geschichte. Wir wollen erinnern und mahnen“, übergab sie das Wort an den Kurator und stellvertretenden Vorsitzenden unseres Fördervereins Mahnmal Koblenz Joachim Hennig. Hennig referierte über die drei Verlegungen und gab er zugleich eine Einführung in die mit 11 Bannern, einem Biografienturm und mehreren Koffern sehr anschaulich von der Werbeagentur ion4Die Werber in Koblenz gestalteten Ausstellung. Dabei stellte er diese Transporte von Kühr mit dem Bus zum Bahnhof Kobern und dann mit dem Zug nach Klagenfurt, Altscherbitz in Sachsen und Stadtroda in Thüringen in den Zusammenhang von großen Räumungsaktionen. Nach schweren Luftangriffen der Alliierten auf das Ruhrgebiet mussten die damaligen Heil- und Pflegeanstalten als schwächster und verachtester Teil der Fürsorge Platz schaffen für Verletzte und Ausgebombte. Alle 150 aus Kühr Verschleppte hatten einen fürchterlichen Leidensweg vor sich bis hin zum Tod.

Von den 150 Verschleppten kamen bis zum Kriegsende 88 ums Leben, 14 überlebten (von denen drei nach Kühr zurückkehrten), das Schicksal von 48 ist unbekannt. Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Mensch, eine Frau oder ein Mädchen mit einem Schicksal. 19 dieser Schicksale werden in der Ausstellung dargestellt.

Der Biografieturm

Die Ausstellung war im Herz-Jesu-Haus Kühr in Niederfell bis Ende Juni 2023 zu besichtigen. Zurzeit kann sie ausgeliehen werden bei der Kührer Fürsorge GmbH. Marktstraße 62, 56332 Niederfell. Telefon: 02607/69-0, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Sehen Sie hier die Ausstellung mit den 11 Bannern, dem Biografieturm und dem Koffer voller Erinneurngen als PDF-Broschüre

Zu Ausstellungseröffnung hat das SWR Fernsehen Rheinland-Pfalz einen Bericht gesendet. Diesen Filmbeitrag können Sie in der SWR-Mediathek anschauen.

(Sendung 18:00 Uhr vom 8.5.2023 - SWR Aktuell Rheinland-Pfalz  ab 7:05Min):


https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE4NTM2NDA   

 

Lesen Sie anschließend die Einführung in die Ausstellung "Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!", die unser stellvertreneder Vorsitzender Joachim Hennig zur Ausstellungseröffnung im Herz-Jesu-Haus-Kühr gehalten hat:

 

„Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!“

Vortrag zur Einführung in die Ausstellung am 8. Mai 2023

im Herz-Jesu-Haus Kühr

von Joachim Hennig

 

Joachim Hennig

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

auch ich begrüße Sie herzlich hier im Herz-Jesu-Haus Kühr in Niederfell zur Eröffnung der Ausstellung „Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!“

Für manche von Ihnen ist der Ausstellungsort altbekannt, sogar ein Arbeitsplatz. Für andere – wie für mich – war er bislang fremd. Kühr hat man schon oft in der Vorbeifahrt gesehen, es war einem aber unnahbar, ein graues Haus umgeben von grauen Mauern, fast wie eine Festung. Heute Abend sind war alle hier mittendrin und gespannt, was uns erwartet.

Heute ist auch ein besonderer Tag, ein Gedenktag, sogar ein doppelter Gedenktag. Am 8. Mai 1945, vor 78 Jahren, ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Im Jahr 1985 – zum 40. Jahrestag des Kriegsendes – hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum Kriegsende Worte gefunden, die noch heute wichtig und aktuell sind:


„Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. (…) Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ - Soweit Richard von Weizsäcker.

Erinnerung setzt Wissen voraus. Erinnern an das Geschehene kann sich nur, wer die Geschichte kennt. Nur dann kann man aus der Geschichte lernen. Und das bringt uns zu dem zweiten Gedenktag am heutigen Tag, weshalb wir gerade heute hier uns zusammen-gefunden haben.

Heute vor 80 Jahren, am 8. Mai 1943, wurden 40 Frauen und Mädchen hier aus dem Herz-Jesu-Haus Kühr in die Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda verlegt. Das bedeutete für alle von ihnen schlimmes Leiden und für viele den Tod. Es war die letzte von drei Verlegungen aus dem Herz-Jesu-Haus in Tötungsanstalten. Mit der ersten Verlegung am 6. Mai 1943 wurden 60 Frauen und Mädchen in das Gaukrankenhaus Klagenfurt in Kärnten verschleppt. Am folgenden Tag, dem 7. Mai 1943, transportierte man 50 Bewohnerinnen in die Landesheilanstalt Altscherbitz in Sachsen und am 8. Mai 1943 wie gesagt 40 in die thüringische Landesheilanstalt Stadtroda.

Diese Verlegungen und auch die Weiterverlegungen von Altscherbitz aus in Anstalten weiter im Osten dokumentiert diese Ausstellung. Ihr Motto „Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!“ ist ein Hilferuf einer von hier verschleppten Bewohnerin. Der Hilfeschrei zeigt, dass dem Haus und auch den Bewohnerinnen das drohende Schicksal bewusst war - wenn sie diese Mauern von Kühr verlassen mussten - und erst mit dem Bus der Reichspost zum Bahnhof nach Kobern und dann von dort mit dem Zug nach Süden und Osten verbracht wurden.

Dass in dem Hilfeschrei gerade von „Verbrennen“ die Rede war, liegt sicher daran, dass sich damals bei den Bewohnerinnen von Kühr die Krankenmorde zwei Jahre zuvor im Rahmen der sog. Aktion T4 herumgesprochen hatten. Damals, 1940/41, waren in 6 Tötungsanstalten mehr als 70.000 geistig kranke, behinderte und sozial unangepasste Menschen aus Anstalten verlegt und als „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ mit Giftgas ermordet worden. Von Januar bis August 1941 hatte es allein in der Anstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn mehr als 10.000 Morde gegeben. Bekannt wurden diese in der Umgebung der Anstalten vor allem durch den Rauch, der beim Verbrennen der Leichen in den Krematorien aufstieg, und durch den süßlichen Geruch. Das war also sehr wahrscheinlich der Hintergrund für diesen Hilfeschrei der Bewohnerin von Kühr.

So richtig dieses Wissen um die Anstaltsmorde in dieser Phase der NS-„Euthanasie“ damals auch war, so hatten die hier in Rede stehenden Verlegungen von Mai 1943 doch einen anderen Hinter-grund. Die „T4-Aktion“ war am 24. August 1941 maßgeblich durch die diese Tötungen publik machende Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen vom 3. August 1941 eingestellt worden. Sie wurden dann – teilweise mit einer Unterbrechung – fortgesetzt – aber nun mit anderen Methoden. Es begann eine weitere Phase der NS-„Euthanasie“-Verbrechen, die sog. dezentrale Phase. Die Morde geschahen nicht mehr nur in den 6 Tötungsanstalten, sondern in zahlreichen Anstalten – also dezentral. Gemordet wurde auch nicht mehr mit Giftgas, sondern vielmehr mit einer Überdosis von Medikamenten, Giftspritzen, Vernachlässigung in der Pflege und verhungern lassen.

Diese dezentrale Phase der NS-„Euthanasie“-Morde in gewissen Tötungsanstalten war der Hintergrund der hier in Rede stehenden drei Verlegungen im Mai 1943.

Aber es gab auch noch einen anderen Hintergrund. Diesen bildete der stark zunehmende Luftkrieg über Deutschland, die Flächen-bombardements der Engländer und dann auch der Amerikaner. Zur Erinnerung:

Hitler hatte die Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg begonnen. Beim Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen Anfang September 1939 griff die Luftwaffe den Großraum der polnischen Hauptstadt Warschau an (das war die „Schlacht um Warschau“) und zerstörte mehr als 10 Prozent der Stadt. Den nach dem „Blitzsieg“ gegen Polen begonnene „Westfeldzug“ startete Hitler ebenfalls mit einem Bombardement, bei dem die deutsche Luftwaffe die holländische Hafenstadt Rotterdam weitgehend in Schutt und Asche legte (das war der „Rotterdamer Blitz“). Daraufhin begannen die Engländer mit der Bombardierung deutscher Städte. Mit der fast vollständigen Zerstörung der englischen Stadt Coventry durch die deutsche Luftwaffe eskalierte der Luftkrieg. Verheerende Angriffe der Royal Air Force (RAF) auf Lübeck, Rostock und andere Städte waren die Folge. Ganz besonders betroffen waren die Industriestädte an Rhein und Ruhr. Hier begannen die Bombardements mit dem „1.000 Bomber-Angriff“ auf Köln am 30./31. Mai 1942. Sie setzten sich fort mit schweren Luftangriffen vor allem auf Essen, beginnend mit dem 5. März 1943 und weiteren im März und insbesondere am 4. April 1943 – das war die sog. Battle of the Ruhr.

Dadurch wurde es immer notwendiger, den verletzten bzw. ausgebombten Bewohner dieser Städte Räume und Betten zur Verfügung zu stellen. Bei der Suche danach nahm der Druck auf die Heil- und Pflegeanstalten immer mehr zu. Als unterste Gruppe in der Hierarchie der Fürsorge hatten diese Anstalten die wenigsten Fürsprecher und konnten sich nicht dagegen wehren. Und aus den Anstalten im Ruhrgebiet hatte man schon im Jahr 1942 Pfleglinge in größerem Umfang in Anstalten im Osten verlegt und so Anstaltsbetten freigemacht.

Nach den Bombardements auf Essen im März und Anfang April 1943 wurde der Raum- und Bettenbedarf noch größer, so groß, dass die Maßnahmen im großen Stil organisiert werden sollten. Deshalb tagten am 10. April 1943 in Essen unter dem Vorsitz von Goebbels, der als Leiter des interministeriellen Luftkriegsschädenausschusses die Koordination der Schadensbekämpfung übernommen hatte, Vertreter der Berliner Ministerien, des Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten sowie die Gauleiter der westdeutschen Gaue (die zugleich Reichsverteidigungskommissare waren) und einige Oberbürgermeistern der luftkriegsgeschädigten Städte. Dabei herrschte die Auffassung vor, dass in damaliger Zeit die Heil- und Pflegeanstalten in erster Linie zur Aufnahme von Obdachlosen benötigt würden. Sie seien deshalb zu räumen - alle Geisteskranken – so die von Goebbels unterstützten Gauleiter – seien beschleunigt nach dem Osten abzutransportieren. - Nach der Besprechung beauftragte Staatssekretär Stuckart den Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten Linden mit der Räumung der rheinischen Heil- und Pflegeanstalten. Diesen Auftrag gab der Reichsbeauf-tragte an den Anstaltsreferenten der Rheinprovinz Prof. Dr. Creutz weiter.

Prof. Creutz bestellte daraufhin am 19 April 1943 alle leitenden Ärzte der staatlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten der Rheinprovinz nach Düsseldorf ein. Mit dabei war auch der für das Herz-Jesu-Haus Kühr zuständige Anstaltsarzt Dr. Volmari. Über diese Besprechung hieß es später:

„Die Reichsregierung (hat) im Einvernehmen mit den zuständigen Reichsverteidigungskommissaren angeordnet (..), dass in den Gauen Köln, Aachen und Düsseldorf Anstalten bzw. Anstaltsteile freigemacht werden müssten, die für dringliche neue Zwecke aus Anlass der durch den Luftkrieg geschaffenen besonderen Verhältnisse bereitstehen müssten. Zur Unterbringung der zur Verlegung kommende Anstaltspfleglinge hat der Reichsbeauftragte für Heil- und Pflegeanstalten Plätze in anderen Teilen des Reiches bereitgestellt. Außerdem ist es der Provinzialverwaltung gelungen, durch Ringtausch der innerhalb der Rheinprovinz gelegenen Anstalten, in Anstalten der Rheinprovinz solche Kranken zu verlegen, deren Unterbringung in einer weit entfernt liegenden Anstalt besonders untunlich ist.“

So weit die den ärztlichen Leitern der rheinischen Anstalten, auch dem Arzt von Kühr, mitgeteilte Regelung. Im Klartext und bezogen auf Kühr bedeutete das: Aus Kühr sollten 150 Bewohnerinnen in andere Teile des Reiches – nach Klagenfurt, Altscherbitz und Stadtroda - verlegt werden. Damit sollte Platz geschaffen werden für 100 Bewohner der Pflegeanstalt Franz-Sales-Haus in Essen. So sollten im Franz-Sales-Haus Räume und Betten freigemacht werden für Bombengeschädigte und Verletzte der Luftangriffe.

Die versammelten Ärzte nahmen die Maßnahmen zur Kenntnis, es gab keinen Widerspruch - auch nicht von Dr. Volmari. Zur Beruhigung der Versammelten und mit Blick auf die Verlegungen bei den Anstaltsmorden im Rahmen der T4-Aktion zwei Jahre zuvor wurde den Ärzten ausdrücklich versichert. „dass die Kranken lediglich zwecks Evakuierung in weniger gefährdete Gebiete verlegt würden, um Platz in den Anstalten für den Fall einer Zerstörung durch Bomben zu schaffen.“ Diese Versicherung galt aber nur für die Verlegung der Bewohner der luftkriegsgefährdeten Anstalten, also für die des Franz-Sales-Hauses in Essen für deren Verlegung hierher – nicht aber für die Bewohnerinnen von Kühr, die in andere Anstalten „im Osten“ verlegt werden sollten.

Als Dr. Volmari mit diesem Ergebnis nach Kühr zurückkam, herrschte blankes Entsetzen. Alles dachte an die Verlegungen im Rahmen der T4-Aktion vor zwei Jahren und an die Krankenmorde mit Giftgas und die Verbrennung der Leichen in den Krematorien. Bezeichnend war der Hilferuf: „Wir werden verbrannt, wir müssen sterben!“ Auch die Leitung des Hauses hatte diese Ängste. In der sehr umfangreichen, von 1872 bis 1974 reichenden und von Sr. Ratholda angefertigten Chronik des Hauses heißt es dazu: „Eine bange Sorge befiel uns, als am 19.4.1943 unser Anstaltsarzt, Medizinalrat und Kreisarzt Dr. Volmari zu einer wichtigen Besprechung ins Landeshaus berufen wurde. Das Resultat war für uns erschütternd. 150 unserer Pfleglinge sind zu verlegen in 3 Anstalten.“

Zwei Tage später kam ein Vertreter des Reichsbeauftragten für Heil- und Pflegeanstalten aus Berlin und informierte das Haus sicherlich darüber, wie die Verlegungen zu organisieren seien. Er war wohl zusammen mit Dr. Volmari auch daran beteiligt, die zu verlegenden 150 Bewohnerinnen auszusuchen. Dr. Volmari sah sich diese dann noch einmal näher an und schloss deren Kranken-geschichte im Allgemeinen unter dem Datum des 30. April 1943 mit einer Kurzcharakterisierung der Bewohnerin und Diagnose ab. Unter dem Datum des Abtransports fügte er als letztes noch hinzu: „Wird heute im Rahmen einer vom Herrn Oberpräsidenten der Rheinprovinz angeordneten Verlegeaktion in die Heil- und Pflegeanstalt pp. verlegt.“

 

 

Dann wurden die Bewohnerinnen für die Verlegungen fertiggemacht. Bekannt ist, dass eine Bewohnerin noch kurz vor den Abtransport nach Hause entlassen wurde. Schließlich kam ein Bus der Reichspost aus Berlin, der Bewohnerinnen u.a. mit zwei Schwestern aus Kühr zum Bahnhof nach Kobern fuhr. Von dort aus ging es mit dem Zug weiter: Am 6. Mai transportierte man 60 Bewohnerinnen nach Klagenfurt, am 7. Mai 50 nach Altscherbitz und am 8. Mai 40 nach Stadtroda.

In der bereits erwähnten „offiziellen“ Chronik des Herz-Jesu-Hauses heißt es dazu:

„Von Berlin kam ein großer Omnibus nach hier, der zu jedem Morgen 10 Uhr die Pfleglinge zum bereitstehenden Waggon nach Kobern brachte. Jeden Transport begleiteten 2 Schwestern des Hauses und 2 Pflegerinnen (aus dem) Landeshaus. Der Abschied war erschütternd, der Empfang in der neuen Anstalt der Kinder bedauerlich.“

Es gibt noch eine Jahre später erstellte Geschichte des Hauses, in der es u.a. heißt: „Aus den Erinnerungen der überlebenden Schwestern sowie Heimbewohnerinnen lässt sich folgendes rekonstruieren: Die Auswahl erfolgte durch Ärzte und Kommissare. Gruppen- oder Schulschwestern versuchten einzelne zu retten, indem sie sie versteckten. An den drei Tagen des Abtransports hielten sich Schwestern und eine Vielzahl von Bewohnern von frühmorgens bis zum späten Abend, mit Butterbroten ausgerüstet, im Wald auf, um von der Aussonderung verschont zu bleiben.“

Was von dieser „oral history“ wahr ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war nicht dabei, auch keiner von uns war dabei. Die Darstellung aus den späteren Jahren erscheint mir recht ungereimt. Zudem gibt es dazu keinen auch noch so schwachen Hinweis in der „offiziel-len“ Chronik der Schwestern. Im Übrigen fällt auf, dass es im „offiziellen“ Abgangsbuch des Hauses keine Streichungen oder Ergänzungen der abgehenden Bewohnerinnen gibt. Alle Eintra-gungen der 150 Namen sind mit weiteren persönlichen Daten der Betreffenden entsprechend dem Abgangsdatum durchgehend „sauber“ und „ordentlich“ aufgeführt.

Wie dem auch sei. Das ist der Stand der Dinge, wie er sich für den objektiven Forscher ergibt.

Meine Damen und Herren, das ist zugleich die Vorgeschichte der drei hier in Rede stehenden Verlegungen von Anfang Mai 1943, die Geschichte, soweit sie hier im Herz-Jesu-Haus Kühr spielte. Sie wird auf den ersten Bannern dargestellt.

Was nach dem 8. Mai 1943 folgte, hatte nichts mehr mit dem Herz-Jesu-Haus zu tun. Die sich daran anschließende Leidensgeschichte der Abtransportierten spielte sich im Gaukrankenhaus Klagenfurt, in den thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda und in der Landesheilanstalt Altscherbitz in Sachsen ab – und dann noch nach Weiterverlegungen aus Altscherbitz in der Gauheilanstalt Wartha im Wartheland, der Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof bei Gnesen, der Pommerschen Heil- und Pflegeanstalt (Meseritz-)Obrawalde und der Landesheilanstalt Pfafferode in Thüringen. Dies wird in der Ausstellung auf den Bannern 2 bis 8 gezeigt.

Die Fahrt war für die aus Kühr Verschleppten eine Fahrt ins Ungewisse – und die Angst, die Lebensangst, fuhr mit. Was sie erwartete, wussten sie nicht, auch die Leitung und das Pflegepersonal des Herz-Jesu-Hauses wusste es nicht. Einen gewissen Eindruck erhielten die Hiergebliebenen aber aus den Berichten der beiden Schwestern, die die Bewohnerinnen begleiteten. Das schlug sich in der Bemerkung in der Chronik nieder: „Der Empfang in der neuen Anstalt der Kinder (war) bedauerlich.“

Heute wissen wir – etwas – mehr über den Empfang der Frauen und Mädchen und ihr weiteres Schicksal.

So berichtete im Jahr 1945 eine Oberpflegerin über die Ankunft der Bewohnerinnen aus Kühr in Klagenfurt folgendes:

„Am 7.5.1943 kam aus Kühr a. d. Mosel ein Transport Frauen und Mädchen, der 60 Köpfe zählte. Dieser Transport war nach Angabe des Dr. Niedermoser (des Chefarztes dort) schon bei der Ankunft zur Tötung bestimmt. Niedermoser sagte, dass sie zur Tötung nach Klagenfurt – (in das) Siechenhaus – verfrachtet worden seien. Von diesem Frauen- und Mädchentransport wurden zwei oder drei von Angehörigen abgeholt. Ungefähr sieben bis zehn dürften noch lebend in der Anstalt sein, einige sind auf natürliche Art gestorben., die übrigen wurden getötet.“

Die Krankenmorde erfolgten auf Anordnung des erwähnten Arztes Dr. Niedermoser und in zwei separaten Räumen im Siechenhaus, in zwei Wäscheablagekammern. Dort standen zwei Betten bereit. Zum Töten eingerichtet wurden die Wäscheablagekammern im Frühjahr 1943, als die Frauen und Mädchen aus Kühr nach Klagenfurt kamen. Abwechselnd töteten die beiden Oberschwestern die Kranken, und zwar auf dreierlei Art. Zum einen durch das Eingeben von Veronal und einer Mischung von Hustensaft (Expektal) mit dem starken Schlafmittel Somnifen oder durch Morphium-Injektionen in den Oberschenkel oder durch Morphium-Injektionen in die Vene, letzteres in Fällen, in denen das Tötungsmittel schnell wirken sollte.

Von den 60 nach Klagenfurt Verlegten ist das Schicksal von 56 bekannt, von 4 unbekannt. Von den 56 bekannten Bewohnerinnen waren bei Kriegsende 49 tot, 7 haben überlebt, eine Überlebende kehrte nach Kühr zurück.

Ein weiterer Transport ging mit 40 Bewohnerinnen am 8. Mai 1943 in die thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda ab. Auch zur Ankunft der Verlegten dort gibt es einen Bericht. Er stammt von einer ehemaligen Krankenschwester. Darin heißt es:

An jenem Tag (9. Mai 1943) waren einige Schwestern beauftragt worden, Überstunden zu leisten, um die Kinder nach Dienstschluss vom Bahnhof abzuholen. Dort trafen ca. 40 schwerstbehinderte Kinder ein. Nach einer zweitägigen Zugfahrt, während der sie weder gewaschen noch versorgt worden waren, waren die Kinder verschmutzt, übermüdet, hatten sich erbrochen oder eingekotet. Sie haben sich in einem erbarmungswürdigen Zustand befunden. Das Personal hatte sie mit Kinder- und Handwagen zur Einrichtung gebracht, wo sie gewaschen wurden und vorerst in der Station 9 (Psychiatrie Frauenstation im Haupthaus) unterkamen, obwohl dort nicht ausreichend Platz war. (…) Nach und nach wurden die Pfleglinge in die ‚Kinderfachabteilung‘ verlegt.“

Die beschönigende Bezeichnung „Kinderfachabteilung“ umschrieb eine Einrichtung in der Anstalt, die der „Kindereuthanasie“ diente, Wie in zahlreichen Anstalten gab es eine solche auch in Stadtroda. Die Zentrale der „Kindereuthanasie“ war in Berlin. Das war ein Gutachterausschuss, der sich „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ nannte. Die Anstalt meldete die Kinder diesem Ausschuss, der dann die Rückmeldung gab, was mit ihnen geschehen sollte. Meist wurde die Tötung empfohlen. Diese erfolgte in der Anstalt in eigener Verantwortung - mit einer Überdosierung der Medikamente Luminal und Chroralhydrat oder durch Nahrungsentzug oder durch Morphin.

Aus Kühr kamen 19 Mädchen im Alter von 3 bis 12 Jahre in die „Kinderfachabteilung“ von Stadtroda. Alle 19 wurden dort ermordet.

Drei weitere nach Stadtroda Verlegte kamen dort ebenfalls um, drei überlebten – zwei von ihnen kehrten später nach Kühr zurück. Das Schicksal der anderen 15 Verschleppten ist unbekannt.

Der zeitlich gesehen 2. Transport, der am 7. Mai 1943 Kühr verließ, ging in die Landesheilanstalt Altscherbitz in Sachsen. Er wird in der Ausstellung als letzter dokumentiert - deshalb, weil er noch nicht das Ende des Leidensweges war, sondern viele dorthin Transportierte in weitere Anstalten in den Osten verlegt wurden. Nach Altscherbitz kamen vor diesem Transport aus Kühr und auch nach ihm noch zahlreiche andere Transporte. Die Anstalt war total überfüllt. Die Anstaltsleitung schaffte Platz - durch Massenmorde an den Kranken und durch viele Verlegungen in andere Anstalten.

Von den 50 nach Altscherbitz Verlegten kamen 11 dort ums Leben, die beiden ersten noch im selben Monat - am 23. bzw. 25. Mai 1943 - die letzten drei am 1., 8. und 14. April 1944.

In Alscherbitz starben so viele Kranke, dass sie gar nicht genug Särge für sie hatten. Für deren Beerdigung verwendeten sie einen sog. Leihsarg. Der war eine Attrappe. Er hatte einen Mechanismus, mit dem der Boden des Sarges über dem Grab geöffnet werden konnte. Die nackte oder lediglich mit einem Totenhemd bekleidete Leiche fiel in das Grab und wurde mit Erde bedeckt. Der Leihsarg wurde dann für die nächste Beerdigung wieder verwendet. Und so weiter und so fort.

In Altscherbitz überlebten 3, 11 aus Kühr Verlegte kamen wie gesagt um, die letzten von ihnen wenige Tage bevor Kranke in Anstalten im Osten weiterverlegt wurden.

Diese Weiterverlegungen begannen mit einem Transport in die Gauheilanstalt Wartha im von Hitler-Deutschland besetzten Polen. Unter den insgesamt 94 Kranken waren 4 aus Kühr, deren Schicksal ist unbekannt. Mit dem nächsten Transport brachte man 11 ehemalige Bewohnerinnen von Kühr in die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof bei Gnesen. Das Schicksal einer – nämlich deren Tod in Tiegenhof – ist bekannt, das der 10 anderen unbekannt. In die Pommersche Heil- und Pflegeanstalt (Meseritz-)Obrawalde kamen 20 ehemals Kührerinnen – das Schicksal von 5 – Tod – ist bekannt, das der anderen 15 unbekannt.

Das Morden nahm tendenziell zu, je weiter die Transporte in den Osten gingen. Bezeichnenderweise fand man bei der Befreiung der Anstalt (Meseritz-)Obrawalde außer den wenigen Überlebenden auf dem Dachboden der Anstalt tausende neuer Urnen, sie waren für die künftigen Toten der Anstalt vorgesehen – diese wurden dann nicht mehr gebraucht.

Letztlich wurde noch am 15. Januar 1945 eine ehemalige Bewohnerin aus Kühr von Altscherbitz in die Landesheilanstalt Pfafferode verlegt. Sie kam – wie es später in der Zeitung hieß – dort in „unglaubliche Zustände“ und überlebte diese nur um ein Jahr und starb 1946.

Nach meinen Forschungen sieht die „Bilanz“ der 150 Verlegungen wie folgt aus:

88 Tote – 49 in Klagenfurt, 22 in Stadtroda und 17 in Altscherbitz einschließlich der Weiterverlegungen

14 Überlebende – 7 in Klagenfurt, 3 in Stadtroda, 4 in Altscherbitz einschließlich der Weiterverlegungen.

3 der 14 Überlebenden kehrten später hier in das Herz-Jesu-Haus zurück.

Unbekannt ist das Schicksal von 48 Verschleppten – von 4 nach Klagenfurt, 15 nach Stadtroda und 29 nach Altscherbitz Verlegten einschließlich der Weiterverlegungen.

Das ist „Statistik“, das sind Zahlen. Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Mensch, eine Frau oder ein Mädchen - mit einem Schicksal, einem fürchterlichen Leidensweg bis hin zum Tod.

Neben der Aufklärung über das Geschehen vor 80 Jahren ist es ein großes Anliegen der Ausstellung, diesen Frauen und Mädchen einen Namen, ein Gesicht und eine Lebensgeschichte wiederzugeben.

Ich denke, das ist uns in der Ausstellung unter den sehr schwierigen Umständen ganz gut gelungen. Denn diese und die anderen – geschätzt – 200.000 Opfer der „Euthanasie“ sind bis heute „vergessene Opfer“ des NS-Rassenwahns. Sie starben getarnt und im Geheimen. Sie hatten keine Nachkommen und zu den Angehörigen bestand durch den vielfach langen Aufenthalt in den Anstalten oft wenig Kontakt. Zudem war das Wissen um diese Unglücklichen schambesetzt, fürchteten viele doch, mit der Krankheit der Verwandten in Verbindung gebracht zu werden. So wurden diese Schicksale jahrzehntelang ver- und beschwiegen. Nicht nur die Familie, sondern auch die Gesellschaft und die Politik nahmen so gut wie keine Notiz von diesem Geschehen und diesen Menschen. Einen wesentlichen Beitrag zum Verschweigen leisteten staatliche Stellen. Unter Hinweis auf Persönlichkeitsrechte verhinderten die Archive Nachforschungen. Die Ämter für Wiedergutmachung verweigerten Entschädigungen - erst seit einiger Zeit gibt es in Ausnahmefällen Härtefallregelungen.

Unter diesen Umständen ist es sehr ungewöhnlich, dass gleichwohl so viele Schicksale recht gut erforscht werden konnten. Möglich wurde das, weil das Herz-Jesu-Haus spät, aber jetzt doch offen mit seiner Geschichte und der seiner Bewohnerinnen umgegangen ist. Dafür gebührt dem Haus Dank und Anerkennung. Dadurch, dass ich die Abgangsbücher und die Patientinnenakten umfänglich einsehen konnte, war es möglich, Namen und Daten zu ermitteln und diesen dann in zahlreichen Archiven bis hin in die heutige Republik Polen nachzugehen. Dadurch gelang es, nicht nur das Geschehen erstmalig und sehr umfänglich aufzuklären und darzustellen, sondern auch zahlreiche Biografien zu erforschen und zu präsentieren. 19 Biografien von Bewohnerinnen aus Kühr sind so entstanden. Weitere Schicksale können mit den vorhandenen Unterlagen erforscht werden.

Mit dieser Ausstellung und diesem Vortrag blicken wir zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit. Früher war umstritten, ob der 8. Mai ein Tag der Niederlage oder der Befreiung war. Die Antwort konnte nie und erst recht heute nicht zweifelhaft sein: der 8. Mai war und ist ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die 150 von hier in die Tötungsanstalten Verlegten und die 6 Millionen Juden und 5 ½ Millionen anderen NS-Opfer mahnen uns heute und immer, immer wieder: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ Das Vermächtnis dieser Menschen ist uns Verpflichtung. Unser Grundgesetz von 1949 hat es in Artikel 1 in die Worte gefasst:

„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

 

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

 

Über die gesamte Ausstellung hat Büssow Dokumedia eine DVD mit einem umfangreichen Einleger erstellt. Nähere Infomrationen bei: Büssow Dokumedia. Fritz Büssow Dokumentarfilm, Obernhofstraße 37, 56377 Nassau/Lahn, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.